Die Franzosen sind kein freundliches Volk, dachte Rachel, während sie sich in der Metro hinsetzte. Sie sind charmant; sie sind tadellos höflich; sie sind ohne Frage elegant, dachte sie, ihren Blick auf einen Mann mit einem formvollendet gefalteten Schal gerichtet, der sich gegen die Wand des Waggons lehnte. Aber von Natur aus freundlich sind sie nicht. Oder vielleicht galt das auch nur für Pariser, aber da sie in Paris lebte, war Paris für sie Frankreich. Auf jeden Fall waren die meisten Franzosen, mit denen sie, seit sie überhaupt hier war, zu tun gehabt hatte, mit Ausnahme derjenigen, die sie verführen wollten, nicht freundlich gewesen.
Eine bemerkenswerte Ausnahme stellte Kiki Villeneuve dar. Als sie sich zum ersten Mal begegneten, gehörte Rachel zu einem Team, das auf einer Party der Villeneuves das Catering besorgte. Die meisten Pariser Ehefrauen für die Rachels Team arbeitete, waren so dünn und angespannt wie Violinsaiten, nicht so aber Madame Villeneuve (wie man ihnen eingeschärft hatte, sie anzusprechen). Sie war prall und rosig, und anstatt ihnen zu sagen, was sie tun sollten, und dann zu verschwinden, half sie ihnen, die Tabletts zu beschicken, zeigte sich fasziniert von der hohen Kunst der Anordnung von Horsd’œuvres und machte für sie eine Flasche Wein auf. Im Laufe des Abends kam sie immer wieder in die Küche, um nach ihnen zu sehen; sie forderte sie auf, sie Kiki zu nennen, und als die Party zu Ende war, umarmte sie jede einzelne von ihnen. Sie war, kurzum, eine warme Bö nach einer langen Frostperiode. Später vertraute sie Rachel an, sie halte ihr Naturell für die Folge des Umstands, dass sie in einem winzigen Dörfchen aufgewachsen sei, so klein, dass dort niemand ein Fremder war, aber als Rachel Kikis Gatten kennenlernte, den kugelrunden Robert Villeneuve, der in Paris aufgewachsen war, erwies dieser sich als ganz genauso freundlich.
Tatsächlich waren die Villeneuves das wahrscheinlich passendste Paar, dem Rachel je begegnet war: so gütig und fröhlich zueinander, wie sie es zu anderen waren, wechselseitig förderlich und rundum von- und übereinander begeistert. Sie waren ein Paar in jeglichem Sinne des Wortes. Roberts Bestattung war die erste Gelegenheit gewesen, wo Rachel Kiki allein oder traurig erlebt hatte, und sie wusste, dass Letzteres die Folge von Ersterem war. Sie nahm ihr diese Monate des Schweigens nicht übel.
Rachels Handy machte ping. Böses ahnend holte sie es aus ihrer Manteltasche. Wie sie vermutet hatte, kam die Textnachricht von Catherine.
Wie gehts wie stehts??? Macht die Bibliothek Fortschritte?? Alle gut drauf? xxx
Das Handy machte wieder ping.
Hab unseren Plausch sehr genossen!! Sollten wir bald wiederholen!!! xxxx
Seit ein paar Tagen bekam sie in regelmäßigen Abständen solche satzzeichenreichen, an Pronomen dafür desto ärmeren SMS, die durchweg auf nicht sehr subtile Weise nach den Stimmungen und Vorkommnissen in Edgars Wohnung fragten. Ich will mich nicht wieder mit dir treffen, dachte Rachel, während sie das Telefon anstarrte, als ob hinter dem Display eine winzige hellseherisch begabte Catherine säße: Ich halte dich für eine mögliche Mörderin. Und wenn du keine bist, dann bist du so was wie eine Blutsaugerin. Und wenn du auch das nicht bist, bist du zuallermindest ausgesprochen seltsam.
Morgen???? xx
Rachel stellte das Handy auf Vibration und stopfte es zurück in die Tasche.
Die Metro hielt am Chemin Vert, und Rachel drückte den Griff nach oben und herum, sodass die Tür aufglitt. Im Laufe der Jahre war sie so oft bei Kiki gewesen, dass ihre Füße sie ohne ihr Zutun hinzuführen schienen, die Treppe zur Straße hinauf und dann immer weiter, als sei die Route ausgeschildert: Die Rue des Tournelles entlang, mit der Synagoge, deren Anblick sie immer aufheiterte, dann mitten durch die Place des Vosges mit ihren gebleichten Winterwegen und dem umgebenden Quadrat von altehrwürdigen Backsteinhäusern, dann die Rue des Francs-Bourgeois entlang, bis sie die knallblaue Front der Brasserie Royal Turenne erreichte, wohin Kiki und Robert sie früher immer wegen der Miesmuscheln, die sie so liebten, eingeladen hatten, und schließlich Kikis résidence. Sie stellte fest, dass der alte Sicherheitscode, genau wie bei Edgars résidence, noch immer funktionierte. Andererseits waren in diesem Fall auch erst zwei Jahre vergangen, keine zwanzig. Während sie mit dem Aufzug, der noch immer nach Gitanes roch, nach oben fuhr, strich sie mit den Fingern über die Schachtel Pralinen, die sie mitgebracht hatte, und begriff mit einem Mal, wie sehr ihr Kiki gefehlt hatte.
In ihrer Manteltasche vibrierte ihr Handy.
Als sie an Kikis Tür klingelte, erkannte sie die Person, die ihr aufmachte, kaum wieder. Kiki war so rund und braun wie ein gutes französisches Brötchen gewesen, aber diese Frau war hager, ihre Haut war gelblich und hing ihr schlaff von den Wangen herunter. Einen Augenblick lang befürchtete Rachel, im falschen Stock ausgestiegen zu sein. Dann lächelte die Frau, und sie sah die vertraute Wärme in ihren Augen, die gute Laune, die sich noch immer in ihren Mundwinkeln herumdrückte.
»Komm rein, komm rein!« Kiki machte eine einladende Geste. »Ja, ich hab mich verändert, ich weiß. Ich bin daran gewöhnt, aber für andere muss es ein seltsamer Anblick sein.«
Rachel nickte, unschlüssig, was die höfliche Erwiderung darauf gewesen wäre. »Ein … ein kleines bisschen.« Sie fühlte sich leicht aus dem Gleichgewicht gebracht, als stünde sie vor einer Unbekannten. Trotzdem, das war Kiki, und als sie mit offenen Armen empfangen und mit freudiger Herzlichkeit umarmt wurde, wusste sie, dass es niemand anders sein konnte. Sie wurde gedrückt, abgeküsst und schließlich, beruhigt, wieder losgelassen. Als sie die Schachtel Pralinen hervorholte, bekam Kiki leuchtende Augen.
»Ah! Ja, das ist genau, was ich brauche. Für rein medizinische Zwecke natürlich. Nur, um wieder Fleisch auf die Rippen zu bekommen.« Sie lächelte wieder, damit Rachel auf ihren Scherz einging.
Tee zog, es fand sich ein Tablett, und die Pralinen kamen hübsch auf einen Teller. Endlich machten sie es sich auf der Couch bequem. Kiki nahm ein bonbon und ließ es sich auf der Zunge zergehen, bevor sie sprach.
»Ich hab mich so gefreut, von dir zu hören! Es tut mir leid, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe. Es hatte nichts mit dir zu tun, das schwöre ich dir.« Sie seufzte. »Es ist so, dass ich, nachdem Robert …« Sie sah durch das Fenster des Salons nach draußen. »Wir hatten so viel Zeit miteinander verbracht. Ich kann … ich konnte mich an ein Leben ohne ihn überhaupt nicht erinnern – und warum sollte ich es auch wollen?« Ein Achselzucken. Rachel sah, dass ihre Augen nass waren. »Ich konnte mir nicht vorstellen, wie es – oder warum es überhaupt – weitergehen sollte. Lange Zeit. Mich an die Stille, ans Alleinsein gewöhnen. Wozu so leben, nachdem …« Sie winkte mit einer Geste des Überdrusses ab. Dann lächelte sie und schniefte. »Tja. Am Ende wächst du selbst über die Trauer hinaus.« Sie stieß ein kleines Lachen aus. »Du erinnerst dich, dass ihr euch gelegentlich auch gestritten habt. Dass er dich manchmal ganz fürchterlich aufregte. Zeit vergeht, und wenn du nicht stirbst, fängt die Welt irgendwann wieder an, interessant zu sein. Wir sind wohl einfach so gebaut.« Sie legte ihre weiche Hand auf Rachels. »Und jetzt freue ich mich wahnsinnig, von dir zu hören! Ich hab den Eindruck, dass viele meiner Freundinnen meine Nische in meiner Abwesenheit neu besetzt haben.«
»Oh nein!« Rachel schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht!«
Kiki seufzte. »Doch, es ist so. Nur Genette Maurois ruft noch gelegentlich an. Und jetzt bist du da.« Sie tätschelte Rachels Hand. »Aber ich vermute, dich führt mehr hierher als lediglich der Wunsch, mir Süßigkeiten zu schenken. Was kann ich für dich tun, meine Freundin?«
Auf dem Weg hierher hatte sich Rachel überlegt, wie sie die Sache am besten angehen sollte. Da sie nach wie vor keine konkreten Indizien hatte, wollte sie ihren Verdacht in Bezug auf Edgars Tod nicht aussprechen – aber ihre alte Freundin anlügen wollte sie ebenso wenig. Sie hatte beschlossen, einfach um die Informationen zu bitten, die sie benötigte, und den Grund dafür nur anzugeben, wenn Kiki fragen sollte. Trotzdem war sie angespannt. Sie wusste nicht, was sie sagen würde, sollte Kiki sie wirklich fragen, und plötzlich war sie – völlig irrational – davon überzeugt, dass Kiki fragen würde. Sollte sie lieber warten? Sollte sie den ganzen Plan aufgeben? Sie holte tief Luft, als müsste sie gleich vom Dreimeterbrett springen, und sagte dann viel zu abrupt: »Ich möchte, dass du mir von den Bowens erzählst.«
Kiki richtete sich ein Spürchen auf. »Ah bon? Von den Bowens?« Nachdenklich musterte sie Rachel ein paar Sekunden lang. Offenbar einverstanden mit dem, was sie sah, nahm sie sich eine weitere Praline und sagte: »Bien. Ich bin zwar kein Konversationslexikon, und ich klatsche nie. Aber dieses eine Mal, weil ich eine einsame alte Frau bin und du die einzige bist, die mich besucht«, sie lächelte, »werde ich dir erzählen, was ich weiß, und ich werde keine Fragen stellen.«
Rachel frohlockte. Sie hatte einen Spitzel. Ihren ersten Spitzel! Sie machte es sich bequem und sperrte die Ohren auf.
»Über Edgar weiß ich sehr wenig: Er kam als Banker hierher; er kam als Banker zu Geld. Aber Mathilde, nun, sie ist eine Castel.« Kiki sagte das so, als ob Rachel wissen müsste, was das bedeutete. »Mütterlicherseits aus Perpignan, nicht weit von der Grenze. Sie behaupten, von spanischem Adel zu sein. Deswegen haben sie wohl auch diese Nasen.« Sie skizzierte mit der Hand ein Faksimile von Mathildes langer Nase. »Damit sie sie umso höher tragen können. Wie dem auch sei.« Sie holte tief Luft. »Genau wie ihre Mutter ist sie so stolz wie Luzifer, aber in jeder anderen Hinsicht schlägt sie nach ihrem Vater.« Sie verzog das Gesicht. »Ein sehr unangenehmer Mensch. Er liebte nur das Geld. Mag sein, dass er seine Frau und seine Tochter ganz gern hatte, aber wenn es bei ihnen gebrannt hätte, wäre er ins Haus zurückgerannt, um sein Portemonnaie zu retten. Und wie so viele, die das Geld lieben, liebte er es vor allem, es auszugeben.« Sie lehnte sich zurück. »Am Ende musste Madame, Mathildes Mutter, ihr eigenes Geld in einen Treuhandfonds stecken, damit es vor ihm sicher war.«
»Dann heiratete Mathilde Edgar also wegen seines Geldes?«
»Oh nein. Geld war durchaus noch da. Nach unseren Maßstäben eine ganze Menge davon; nach ihren genug. Obwohl ich nicht bezweifle, dass ihr Edgars Geld willkommen war – wie gesagt, sie schlägt nach ihrem Vater. Und natürlich war schon damals klar, dass Edgar in Zukunft noch weit mehr auf dem Konto haben würde. Das bekam sie also auch. Aber geheiratet hat sie ihn«, Kiki legte eine ganz kurze Pause ein, »wegen der Macht.«
»Macht?« Wieder war Rachel verwirrt. Edgar war kein Politiker oder Magnat. Wenn überhaupt, so war Mathilde diejenige, die Macht, gesellschaftlichen Einfluss besaß.
»Keine Macht in dem Sinn, wie du das Wort vielleicht verstehst«, erklärte Kiki, »aber es gibt unterschiedliche Arten. Bei den bien établis, diesen alten Familien, hat eine unverheiratete Frau keine Macht. Sie weiß nichts von … vom Leben. Sie ist noch nicht reif. Eine verheiratete Frau ist gefestigt, hat Einblick, ein Verständnis von der Welt. Sie hat Einfluss. Mit einem Kind umso mehr. Und wenn mit fortschreitendem Alter ihre Erfahrung noch weiter zunimmt, ihre Weltgewandtheit steigt, dann wird eine solche Frau formidable.«
Nun ja, formidabel war Mathilde ganz gewiss. »Aber warum ließ sie sich dann von ihm scheiden?«
»Oh, durch eine Scheidung büßt so eine Frau nichts ein. Tatsächlich könnte man sogar sagen, dass sie dadurch noch gewinnt. Sie besitzt die Weisheit der Ehe und der Mutterschaft, und sie hat Beziehungen, aber außerdem auch die Kraft, sich allein zu behaupten. Also umso besser!« Sie warf den Kopf zurück, aber dann änderte sich ihr Ton. »Dass der abgelegte Ehemann allerdings seinerseits sein früheres Leben wiederaufnimmt …« Sie schnalzte mit der Zunge. »Das gefiel Mathilde ganz und gar nicht. Ein Affront gegen das Haus Castel – und natürlich gegen sie persönlich.« Tiefes Luftholen. »Deswegen konnte sie alle, die nach ihr kamen, nicht ausstehen: dich, diese Amandine und so weiter.«
Rachel machte ein ungläubiges Gesicht. »Wirklich? Selbst nach so langer Zeit?«
»Manche Frauen sind so. Sie verlassen einen Mann, aber trotzdem darf er nie wieder eine andere lieben.« Rachel erinnerte sich, dass Magda etwas Ähnliches gesagt hatte. Kiki fügte hinzu: »Und dieses Risiko würde auch nicht mit den Jahren abnehmen. Ganz im Gegenteil. Ältere Männer wissen ein warmes Bett zu schätzen.« Ihr Achselzucken besagte, dass das zwar dumm, aber auch natürlich war. »Und vielleicht waren Mathildes Befürchtungen auch nicht unbegründet, denn Edgar hatte durchaus neue Geliebte. Die letzte, die ich kannte, war eine junge Frau mit dunklem Haar …« Sie führte ihre Hand, wie zur Veranschaulichung, an den Kopf.
»Catherine Nadeau?«
»Oui, so hieß sie. Catherine Nadeau. Über ihre Familie weiß ich nichts.« Kiki lächelte. »Aber vielleicht ist sie ja mit Mathildes Vater verwandt, denn alle sagten, das Geld würde ihr nur so durch die Finger rinnen. Auf alle Fälle war sie jung. Wenn auch, wie man auch fairerweise sagen muss«, fügte sie hinzu, »nicht abartig jung, wie manche dieser kleinen Mädchen, die man mit Männern in Edgars Alter sieht.«
Rachel dachte an Elisabeth. Kiki musste die Spur einer Reaktion in ihrem Gesicht gesehen haben, denn sie hob die Augenbrauen.
»Ah, so ist das, wenn man jeden Kontakt zur Welt verloren hat. Edgar hatte sich also eine jeune fille zugelegt?«
»Nein, nein.« Rachel schüttelte den Kopf. »Beziehungsweise ja, aber nicht als petite amie. Nur so als Freundin.«
»Und ist sie hübsch, diese platonische Freundin?«
»Ja.«
Kiki schürzte die Lippen. »Das dürfte Mathilde kaum gefallen haben. Hat er diesem hübschen Mädchen oder seiner aktuellen petite amie etwas hinterlassen?«
Rachel nickte. »Ja, beiden. Catherine siebeneinhalbtausend Euro. Dem Mädchen, Elisabeth«, sie schluckte, »zwanzigtausend.«
»Oh, là là!« Ohne es zu wollen, lächelte Rachel; sie konnte immer noch nicht fassen, dass die Franzosen das wirklich sagten. Aber Kiki war aufrichtig geschockt. »Und Mathilde selbst?«
»Zehntausend.«
Kiki schnappte nach Luft. »Mon Dieu!« Sie hielt sich eine Hand vor den Mund. »Bist du sicher?«
»Ja.« Rachel lehnte sich vor. »Warum?«
Kiki nahm die Hand wieder herunter. »Na ja, so offensichtlich weniger zu bekommen als die junge Hübsche … Und wenn die nicht einmal Edgars fruit vert war, umso schlimmer.« Sie atmete ein. »Aber außerdem, weißt du, vor ein paar Jahren, bevor sie starb, besuchte Mathildes Mutter sie in Paris. Es gab un petit souper – Mathilde richtete es aus – zu ihren Ehren. Madame vertrug Champagner, wie man hört, nicht allzu gut, und nach ein paar Gläsern fing sie an zu krähen, Mathilde sei so einzigartig, so unvergesslich, so ravissante, dass Edgar ihr kürzlich versichert habe, dass er ihr in seinem neuen Testament – und das war schon Jahre nach der Scheidung – immerhin noch fünfzigtausend Euro vermachte. Und dann …« Sie schüttelte den Kopf, schnalzte wieder mit der Zunge. »Vielleicht vor einem Monat? Also da erzählte mir Genette – du weißt schon, meine Freundin, die mich noch immer gelegentlich anruft – da erzählte sie mir, sie sei um ein Haar bös hereingefallen. Ihr Finanzmensch hatte sie letztes Jahr dazu überreden wollen, in Erdöl zu investieren. Er hatte ihr erzählt, dass sie einen sehr, sehr schönen Gewinn erzielen würde. Sie ging nicht darauf ein – sie mag keine Risiken. Und das war klug von ihr, denn natürlich ist der Ölpreis gefallen. Aber weißt du, sie erzählte mir auch«, sie sah Rachel in die Augen, »dass ihr Finanzmensch auch Mathildes Finanzmensch ist. Und Mathilde hatte ja gesagt. Und so …«
Rachel hielt die Luft an, als sie den Ausgang des Satzes vorausahnte.
»… ist jetzt weniger als genug da.«
Rachel erinnerte sich, wie Mathilde bei der Verlesung des Testaments zusammengezuckt war. Überraschung mit Sicherheit, fast mit Sicherheit Zorn, aber vielleicht, dachte sie jetzt, auch Enttäuschung und Angst? Jede Kombination dieser Ingredienzien konnte eine leicht entflammbare Mischung ergeben.
Aber vorerst behielt sie diese Gedanken für sich. Sie und Kiki unterhielten sich noch eine Zeit lang, während Kiki die Pralinen verputzte, bis Rachel schließlich aufstand und sich verabschiedete. »Du hast mir unheimlich geholfen.« Sie legte die Hände auf Kikis Schultern und spürte Knochen, wo sie noch nie welche gespürt hatte.
»Jederzeit gern!« Kiki nahm Rachels Gesicht zwischen die Hände. »Es ist unheimlich schön gewesen, dich zu sehen. So gesund und so«, ein winziges Zwinkern, »neugierig. Du musst bald wieder kommen.« Sie lächelte. »Und mehr Leckerlis bringen.« In der Metro ließ sich Rachel das, was sie erfahren hatte, noch einmal durch den Kopf gehen. Gut weggekommen war keine der abgehandelten Personen. Catherine konnte so schlecht mit Geld umgehen, dass die Spatzen es von den Dächern pfiffen. Mathilde war ein Mensch, der für Geld oder ihrem Stolz zuliebe fast alles tun würde. Aber das war die große Frage: Würde sie alles tun oder nur fast alles? Es bestand ein großer Unterschied zwischen schlecht mit Geld umgehen können und für welches töten, und von Geld verlieren bis hin zu töten, um es zu ersetzen, war ein weiter Weg. Aber was wusste sie schon? Jetzt hatten beide Frauen Motive, die sie zu eins a Verdächtigen machten, und Verzweifelte dachten nicht so wie andere Leute – was übrigens ebenso für Mörderinnen galt. Wer weiß, wenn Mathilde und Catherine ausreichend Ersteres waren, konnten sie es durchaus zu Zweiterem gebracht haben.