Am nächsten Morgen schickte sich Rachel gerade an, Magda anzurufen, um ihr Kikis Enthüllungen mitzuteilen, als der Türsummer in rascher Folge mehrmals Laut gab. Kaum war die Tür geöffnet, rauschte Magda an ihr vorbei.
»Auch dir guten Morgen. Wie geht’s?«
Magda nahm von dem unausgesprochenen Vorwurf keine Notiz. »Hast du heute die Zeitung gelesen?«
»Was?« Rachel glaubte, sich verhört zu haben.
»Hast du heute die Zeitung gelesen?«
»Ja, beim Frühstück. Ich meine, ich habe sie nicht ganz durchgelesen, aber ich …«
Magda hielt ihr eine quer und längs zu einem Quadrat gefaltete Zeitung hin. »Lies!«
»Was? Warum? Kannst du es mir nicht einfach sagen?«
Sie hielt ihr die gefaltete Zeitung noch einmal heftiger hin. »Lies!«
Rachel nahm die Zeitung. Magda hatte sie so gefaltet, dass in der Mitte eine Meldung von wenig mehr als einem Absatz prangte.
TRAGÖDIE IM PARISER ZENTRUM
Gestern kam im III. Arrondissement eine Frau bei einem Fenstersturz ums Leben. Catherine Nadeau, 41, Inhaberin der Boutique Le Cindy im I. Arrondissement, fiel gegen 17.15 Uhr aus dem Fenster ihres Salons in den Hof. Aufgefunden wurde sie von einer anderen Bewohnerin des Hauses um 17.20 Uhr.
Madame Nadeau hatte in letzter Zeit in finanziellen Schwierigkeiten gesteckt; vor einigen Wochen äußerte sie einer Nachbarin gegenüber, sie befürchte, ihr Geschäft schließen oder aber, um es halten zu können, ihre Wohnung verkaufen zu müssen.
Madame Nadeau hinterlässt keine Angehörigen. Die Polizei schließt ein Fremdverschulden aus.
»Oh mein Gott, sie hat sich das Leben genommen?« Rachel ließ sich auf einen Stuhl fallen. »Aber sie hat mich doch die ganze Woche lang angesimst.«
Sie sah auf. Magda beobachtete sie, den Kopf zur Seite geneigt.
»Was?«
»Lies den zweiten Absatz noch mal.«
Rachel tat’s. Dann las sie ihn ein drittes Mal. Dann begriff sie. »Aber sie steckte doch gar nicht in finanziellen Schwierigkeiten!« Ihre Stimme klang schrill. »Sie hat unsere Drinks bezahlt. Im Bon Marché!«
Magda nickte. »Und erinner dich, als wir bei ihr im Laden waren, da sagte sie«, sie schaltete ihre Zitierstimme ein, »›Ich habe einen guten Zukunftsplan.‹«
»Stimmt. Hat sie gesagt.« Rachel erinnerte sich. »Und etwas Ähnliches sagte sie noch mal, als ich sie getroffen habe.«
»Begreifst du denn nicht?« Magda breitete die Hände aus.
»Was denn begreifen?«
»Jemand hat sie ermordet!«
»Also jetzt aber.« Rachel runzelte die Stirn. »Das nennt man voreilige Schlüsse ziehen.«
»Tut man nicht! Sie hatte das nötige Geld, um ihr Geschäft neu zu eröffnen und dich in das teuerste Kaufhaus der Stadt zu einem Drink einzuladen. Sie war nicht klamm!« Sie fing Rachels Blick ab, hielt ihn fest. »Das Szenario ist ganz einfach. Catherine lässt jemanden in ihre Wohnung, schenkt ihm oder ihr und sich selbst einen Drink ein – vielleicht sogar ein Glas Rosé. An irgendeinem Punkt lacht sie wahrscheinlich diese bekloppte Lache. Und die andere Person wartet, wartet auf den richtigen Augenblick. Dann!« Rachel machte einen Satz. »Catherine auf dem Hofpflaster, unter ihr eine immer größer werdende Lache von Blut, ihr Körper unnatürlich verdreht, wie eine fallen gelassene Marionette.«
»Jesus.« Rachel schluckte. »Vielleicht solltest du von uns beiden die Schriftstellerin sein.« Sie zwang ihre Gedanken in logische Bahnen zurück. »Aber weswegen sollte sie jemand ermorden? Ich meine, aus welchem Grund?«
»Wegen des Geldes«, sagte Magda, als läge es auf der Hand.
»Wegen siebentausend Euro?«
»Siebentausendfünfhundert Euro«, stellte Magda richtig. »Und wie ich schon sagte, haben Leute schon wegen weniger getötet.«
»Leute sind zu einer Frau ins Haus und haben wegen siebeneinhalbtausend Euro, die nicht einmal physisch da waren, deren Selbstmord vorgetäuscht? Das ist lediglich eine neue Version deines unbemerkt gebliebenen Suppenmörders. Und außerdem«, Rachels Gedanken hatten ihre Besitzerin endlich eingeholt, »würden diese Leute ja gar nichts bekommen. Da steht doch, dass sie keine lebenden Verwandten hatte.« Sie legte den Finger auf die entsprechende Zeile. »Wenn man ohne Erben stirbt, fällt alles an den Staat.«
»Nicht, wenn der ursprüngliche Testator Sekundärerben bestimmt hat.«
»Testator?« Wer benutzte denn ein Wort wie »Testator«?
»Das ist die Person, die das ursprüngliche Testament erstellt hat«, sagte Magda, als wüsste Rachel das nicht selbst. »Edgar. Edgar könnte eine Klausel eingefügt haben, im Zuge deren im Falle des Ablebens eines der Erstbegünstigten eine andere Person dessen Geld erbt. Wie bei Hochzeitsgästen«, erklärte sie. »Man hat eine Auswahl A und eine Auswahl B.«
Rachel war ganz durcheinander. Erst »Testator« und jetzt »im Zuge deren«? Wo kamen die ganzen Ausdrücke auf einmal her?
»Hast du dich über französisches Erbrecht schlaugemacht?«
»Nein.« Magda klang ganz unschuldig, blickte dabei aber auf ihre Schuhe hinunter. »Na ja …«
»Na ja was?« Rachel versuchte, ihr Gesicht zu sehen.
»Na ja, ich …« Errötete ihre Freundin da gerade? »Ich habe mich lediglich mit jemandem über Testamente unterhalten.«
Rachel versuchte, sich das bildlich vorzustellen. »Wer genau?«
»Wem genau«, korrigierte Magda sie, aber Rachel war klar, dass sie damit nur Zeit zu schinden versuchte.
»Also schön. Mit wem hast du dich über Testamente unterhalten?«
»Äh, also …« Magda hob endlich die Augen. »Mit Benoît.«
Rachel war verwirrt. »Wer ist Benoît?«
»Erinnerst du dich, wie wir auf Edgars Trauerfeier waren?«
Rachel nickte. Wie hätte sie sich nicht erinnern können?
»Dieser Mann, mit dem ich mich da unterhalten habe. Das ist Benoît.«
Rachel dachte an den Tag zurück. Es stimmte: Als sie angekommen war, um Magda von ihrem Verdacht zu erzählen, war da ein Mann gewesen. »Der mit der spitzen Nase?«
»Na ja, schon.« Magda sah leicht pikiert auf. »Sie ist wohl ein bisschen spitz.«
»Nein, sie ist spitz. Sie ist richtig spitz.« Plötzlich dämmerte die Erkenntnis. Rachel stupste ihre Freundin an und grinste. »Du! Immer mit deinen spitzen Nasen. Darauf fährst du ab, nicht?«
Jetzt war Magda rot. Rachel erinnerte sich, dass sie es nicht ausstehen konnte, wegen ihres Liebeslebens aufgezogen zu werden; in den Vierzigern und single zu sein, war hart genug, auch ohne dass sich deine Freundinnen über dich lustig machten. Sie riss sich zusammen. »Aber wie auch immer, ich komm vom Thema ab. Wieso kennt sich Benoît mit Testamenten aus?«
»Er gehört zur Anwaltsfirma, die für Edgar arbeitete.«
Rachel kam wieder nicht mit. »Aber Edgars Anwalt ist doch Maître Bernard!«
»Nein, der ist Notar. Jedenfalls hat er mit Edgars Nachlass zu tun. Benoît arbeitet in einem ganz anderen Ressort.« Sie warf Rachel einen verwunderten Blick zu. »Hast du dich denn nicht gefragt, warum du auf der Trauerfeier Maître Bernard nicht gesehen hast?«
»Nein.« Diese Frage war Rachel keinen Augenblick lang in den Sinn gekommen, und sie hatte auch nicht das Gefühl, dass sie ihr hätte kommen müssen. Warum sollte man erwarten, auf jemandes Beerdigung dessen Notar zu sehen?
»Tja, er war nicht da, weil Benoît da war. Benoît ist derjenige, den die Firma zum Zeichen ihrer Anteilnahme hingeschickt hatte.«
»Oh.« Man lernt jeden Tag was dazu, dachte Rachel. »Wie auch immer, und jetzt seht ihr euch?«
»Ja. Na ja, du weißt schon, gelegentlich.« Magda sah verlegen, aber auch etwas stolz aus.
»Moment mal!« Rachel hielt eine Hand in die Höhe. »Könnte er uns einen Blick in Edgars Testament werfen lassen?«
Magda runzelte die Stirn. »Ich bin ziemlich sicher, dass das illegal ist.«
Rachel kaute an der Innenseite ihrer Wange und dachte nach. »Na gut, könnte er dann selbst einen Blick hineinwerfen und uns sagen, ob Edgar solche – wie hast du dazu gesagt – Sekundärerben bestimmt hatte?
»Ich weiß nicht.«
Rachel zwang ihre Stimme, ruhig zu klingen. »Könntest du ihn fragen?«
Magda dachte einen Augenblick lang nach und atmete dann langsam ein und wieder aus. »In Ordnung. Ich werd ihn fragen. Aber stell dich schon mal darauf ein, dass er nein sagt.« Sie lächelte stolz. »Er nimmt es mit der Ethik sehr genau.«
»Danke.« Rachel bemühte sich um eine gleichermaßen neutrale Miene und Stimme; sie wusste, wie leicht es für die Vielleicht-Verliebte war, Freude mit Gönnerhaftigkeit zu verwechseln. »Na, dann rufen wir ihn doch so bald wie möglich an! Eigentlich«, sie stand auf, »könntest du das doch direkt machen.«