Magda rief Benoît von Rachel und Alans Schlafzimmer aus an. Rachel hätte am liebsten neben ihr auf dem Bett gesessen und ihr Wort für Wort vorgesagt, was sie sagen sollte, aber da sie einsah, dass das nicht ging, drückte sie sich stattdessen auf dem Flur vor der geschlossenen Schlafzimmertür herum und bekam eine ganze Menge Gekicher und ein gewisses Quantum gemurmelte Konversation mit. Sie wusste nicht genau, was zwischen den beiden besprochen wurde, aber die Folge war eine Einladung in die Kanzlei von Edgars Anwaltsfirma, wo Benoît in Sachen Testament sein Bestes tun würde.

So kam es, dass sie am Montag der darauffolgenden Woche im schimmernden Empfangsbereich des Cabinet Martin Frères saß, im zweiten Stock eines Gebäudes aus der Belle Époque im II. Arrondissement. Magda saß neben ihr und schlug aus Nervosität fortwährend die Beine einmal so, einmal andersrum übereinander. Sie wirkte wie eine Teenagerin, die kurz davor stand, ihren Freundinnen ihre Mutter vorzustellen.

Rachel und Alan hatten zwar auch einen avocat, aber wie Edgars Wohnung gehörte auch die Kanzlei Martin Frères in eine ganz andere Preisklasse. Im Empfangsbereich herrschten die wohlgepolsterte Stille, die das Vorhandensein richtigen Geldes, und die Aura von Diskretion, die das Vorhandensein echter Macht kennzeichnen. Sämtliche Möbel waren aus dunklem, auf Hochglanz poliertem Holz und auf dem Couchtisch lagen Hochglanzmagazine wie Art et Décoration und Challenges. Die Rezeptionistin saß hinter einem gigantischen Schreibtisch,

War es ein Fehler gewesen, nicht bei Edgar zu bleiben? Rachel kamen Bedenken. Die ganze Würde und die diskrete Betuchtheit dieser Kanzlei hätten ihr gehören können. Diese Wohnung hätte ihr gehören können. Dann erinnerte sie sich, dass die Frage gegenstandslos war, da nicht sie, sondern Edgar die Beziehung beendet hatte. Und das war richtig gewesen. Bei Alan fühlte sie sich wohler – beim wunderbaren Alan, der gelernt hatte, Ballett zu mögen, der sie gelehrt hatte, modernen Jazz zu schätzen, der sie gleichzeitig zum Lachen und Gruseln bringen konnte, indem er seine übergelenkigen Daumen nach außen bog. Trotzdem verspürte sie eine leichte Trauer: Dankbarkeit für das, was sie hatte, aber Bedauern darüber, keine Chance gehabt zu haben, das zu erleben, was sie nicht hatte.

Sie hatte gerade damit begonnen, über dieses Paradox zu grübeln, als der Mann vom Trauerempfang aus einer der Türen heraus- und auf sie zukam. Jetzt, wo sie nicht darauf aus

»Madame Levis.« Der Mann sprach ihren Namen korrekt aus, während er ihre Hand nahm. »Benoît Géroux. Was für eine Freude! Ich habe schon sehr viel von Ihnen gehört. Magda erzählt mir ständig, was Sie gesagt oder gemacht haben; immer mit großem Stolz. Jetzt lerne ich Sie endlich persönlich kennen!« Er lächelte. »Es ist mir eine Ehre.«

Er umfasste ihre Hand mit beiden Händen, während er sie auf jede Wange einmal küsste und den tiefen Duft irgendeines köstlichen Aftershaves hinterließ. Rachel spürte, dass sie errötete. Sie verspürte den unbändigen Drang, wie ein Schulmädchen zu kichern. Wenn die Franzosen den Ruf haben, übertrieben charmant zu sein, dann liegt es daran, dass nur sie die erforderliche Gewandtheit besitzen, ihren Charme zu versprühen, ohne wie Schmierenkomödianten zu wirken.

»Alors«, sagte Benoît, als sie in seinem Büro Platz genommen hatten. »Wenn ich Magda richtig verstanden habe, wünschen Sie, Monsieur Bowens Testament einzusehen.« Er nahm von einem Dokumentenstapel eine braune Aktenmappe und legte sie

»Aber die Paraphrase habe ich doch schon gehört.« Rachel bemühte sich, mit ruhiger Stimme zu sprechen. Magda warf ihr einen warnenden Blick zu.

Benoît hob wieder kummervoll die Schultern. »Nichtsdestoweniger ist das alles, was ich für Sie tun kann.«

Sie atmete tief durch. Sie durfte nicht anfangen zu diskutieren. Das war Magdas mutmaßlicher Lover und ein Anwalt, der seinem Berufsethos verpflichtet war. Sie versuchte, die Ablehnung mit Anstand hinzunehmen. »Sehr gerne, vielen Dank.«

»Es ist mir ein Vergnügen.« Er klappte die Mappe auf dem Schreibtisch auf, entnahm ihr ein dickes Dokument und begann, es durchzublättern. Am Ende legte er es wieder hin und verschränkte die Hände darauf. »Monsieur Bowen bestimmt keine Sekundärerben und trifft auch keine Anordnungen bezüglich der Konsolidierung der Vermächtnisse.«

Magda stieß den Atem heftig aus. »Verdammich.« Sie ließ sich gegen die Stuhllehne zurückfallen.

Rachel aber war noch nicht ganz fertig. Als Benoît die Aktenmappe schon wieder schließen wollte, sagte sie: »Verzeihung.« Sie lächelte. »Dürfte ich Sie bitten, noch eine weitere Sache nachzusehen?«

Sie wandte sich zu Magda. »Letzte Nacht ist mir ein Gedanke gekommen. Während ihrer Auseinandersetzung mit Mathilde sagte Elisabeth, Edgar habe verfügt, dass nur sie seine Papiere sehen dürfe, und zwar mit dem Auftrag, sie zu ordnen. Sie sagte, das würde in seinem Testament stehen.«

Magda nickte.

»Ich war aber dabei, als das Testament verlesen wurde. Und ich erinnere mich nicht, dass der notaire irgendwas davon gesagt hätte, dass nur sie Einblick in die Papiere haben dürfte.« Rachel lehnte sich zu ihr. »Was, wenn der springende Punkt gar nicht der wäre, dass Mathilde Zutritt zu den hinteren Zimmern haben wollte, als vielmehr die Tatsache, dass Elisabeth das verhindern wollte? Was, wenn Elisabeth lügt, um sich Zeit zu verschaffen, weil sie etwas Bestimmtes sucht, was sie irgendwie belastet? Sie selbst, meine ich«, fügte sie der Klarheit halber hinzu, »Elisabeth, belastet.«

Er nickte noch einmal. Wieder nahm er sich das Dokument vor, wieder blätterte er es langsam durch, wieder legte er es am Ende auf den Schreibtisch zurück. »Monsieur Bowen hinterlässt keinerlei solche Verfügung.«

Jetzt war es Rachel, die sich gegen die Lehne zurückfallen ließ. Elisabeth hatte gelogen! Sie wollte verhindern, dass andere in Edgars Wohnung etwas Bestimmtes fanden: etwas für sie so Nachteiliges, dass es sich dafür zu lügen lohnte. Die Naive war also doch nicht so naiv!

»Haben Sie vielen herzlichen Dank«, sagte sie. Sie und Magda sammelten ihre Sachen zusammen. Im Vorzimmer gab sie vor den Augen der hochnäsigen Rezeptionistin Benoît die Hand und küsste ihn auf beide Wangen. Er war äußerst hilfsbereit gewesen und hatte ihretwegen etwas zumindest nicht ganz Legales, möglicherweise sogar regelrecht Verbotenes

Draußen blieben sie vor der porte d’entree des Gebäudes stehen und machten einen Buckel gegen die Kälte.

»Also«, fing Rachel an.

»Verdammt, das mit Catherine!«, fiel ihr Magda ins Wort. »Ich war mir sicher, dass eine von ihnen sie umgebracht hatte, um an ihr Geld ranzukommen.«

Rachel hatte an diese Theorie nie geglaubt; jetzt suchte sie nach einem schonenden Weg, ihre eigene vorzubringen. »Also, ich habe darüber nachgedacht.« Sie leckte sich die Lippen und bedauerte es prompt, als eisige Luft über die feuchte Haut strich. Sie wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und fuhr fort: »Dass sie nicht wegen des Geldes ermordet wurde, bedeutet nicht, dass sie überhaupt nicht ermordet wurde.«

»Was?«

»Nein, hör zu. In einem Punkt muss ich dir recht geben: Edgars Geld hatte sie offensichtlich aus den roten Zahlen geholt. Nach dem zu urteilen, wie sie sich im Geschäft uns beiden und später mir gegenüber verhalten hat, hatte sie zumindest aktuell keine Geldsorgen.« Magda machte den Mund auf, aber Rachel sprach unbeirrt weiter. »Ich glaube aber durchaus, dass jemand sie getötet hat. Ich glaube, das geschah deswegen, weil sie diesen Jemand erpresste. Ich glaube, sie erpresste den Mörder – beziehungsweise die Mörderin.«

Magda verzog das Gesicht. »Wie kommst du denn darauf

»Aus verschiedenen Gründen.« Rachel holte tief Luft. »Erstens – wie du selbst argumentiert hast, sagte sie, als wir bei ihr waren, sie habe einen guten Zukunftsplan. Kiki hat aber gesagt, dass sie Geld noch nie zusammenhalten konnte. Und Leute, die mit Geld nicht umgehen können, denken nicht in solchen Kategorien über das Geld, das sie haben. Sie sagen vielleicht: ›Damit sind alle meine Probleme gelöst!‹, oder vielleicht sogar:

Magda machte den Mund auf, dann wieder zu. Dann öffnete sie ihn wieder. »Das ist wirklich clever. Darauf wäre ich nie gekommen.«

Doch Rachel ruhte sich nicht auf ihren Lorbeeren aus. »Dann, als wir mit unseren Drinks zusammensaßen, all die komischen Fragen, die sie gestellt hat: wie die Leute im Haus auf den Todesfall reagierten, ob sie mitgenommen oder beunruhigt aussähen oder irgendetwas zu mir gesagt hätten. Ich dachte, sie versuchte vielleicht herauszufinden, ob jemand sie verdächtigte, jetzt glaube ich allerdings, dass ich das falsch gedeutet hatte. Ich glaube, sie klopfte auf den Busch, um herauszufinden, ob jemand nervös wirkte – oder sie sogar direkt der Erpressung beschuldigt hatte. Und ich glaube, jemand hat sie ermordet.«

Schweigen. Dann nickte Magda. »Ja. Ja. Das ergibt Sinn. Aber jetzt lautet die Frage: Wie gehen wir weiter vor?«

Das schien überhaupt immer die Frage zu sein. Rachel ließ alle weiterführenden Ermittlungsmethoden Revue passieren, die sie von Film, Fernsehen und einschlägiger Literatur her kannte. Ihre V-Frau hatte sie bereits konsultiert. »Wir führen eine Anwohnerbefragung durch! Wir fragen einfach ihre Nachbarn, ob sie etwas beobachtet haben.« Dann fiel sie etwas in sich zusammen. »Nur, dass wir ihre Adresse nicht haben.«

Doch Magda grinste, freudig und listenreich zugleich. »Stimmt, aber wir können sie rauskriegen!« Sie griff in ihre Handtasche nach ihrem Handy. »Lob dem Internet.«

Rachel bremste sie mit einer Handbewegung. »Okay, aber könnte es nicht bitte das beheizte Internet sein? Wir stehen hier schon seit zehn Minuten im Freien, und ich glaube, meine Zehen sind bereits angefroren.«

»Wie heißt die Seite noch mal?« Rachel zog sich die Handschuhe aus.

»Infogreffe.« Magda starrte aufs Display. »Darauf sind die Namen und Adressen sämtlicher Firmen und Firmeninhaber Frankreichs verzeichnet. In meiner Anfangszeit habe ich die Seite ständig benutzt, sowohl um Kontakte zu knüpfen als auch um Großhändler zu finden. Hier.« Als sich die Seite öffnete, tippte sie auf den Bildschirm ein. »Catherine musste Le Cindy als Gesellschaft eintragen. Das ist aus Steuergründen vorgeschrieben. Und als Geschäftsführerin dieser Gesellschaft musste sie ihre Privatadresse angeben.«

»Und das Ganze ist öffentlich einsehbar?« Rachel dachte an militante Tierschützer, inländische Terroristen und einfache altmodische Einbrecher.

»Na ja, man muss eine Gebühr zahlen.« Magda war gerade ganz bei dem, was sie tat, und hörte nur mit halbem Ohr zu. Endlich: »Da hätten wir’s.« Sie tippte auf das Display.

Und tatsächlich, da hatten sie’s: »Le Cindy, S. à. r. l.«, erklärte das Display, »Geschäftsführerin: Catherine Nadeau«. Und darunter stand, klar und deutlich, eine Wohnanschrift.