Catherines Wohnung lag in der Rue Pont aux Choux – Brücke der Kohlköpfe –, obwohl die Straße nicht danach aussah, als habe sie in ihrer ganzen Geschichte je ein Gemüse beherbergt. Ganz im Gegenteil. Sie erweckte den Eindruck, gänzlich und schon immer dem Handel und Gewerbe gewidmet gewesen zu sein – eintönige cremefarbene Hausfronten, die gelegentlich von Schaufenstern oder heruntergelassenen Rollgittern unterbrochen wurden. »Pas de vente au détail« erklärte ein Schild in einem der Schaufenster – »Kein Einzelverkauf« –, und Rachel schloss, dass die Straße deswegen wie ausgestorben war, weil viele der Geschäfte hier Großhandlungen waren. Was auch immer der Grund für diese Häufung sein mochte, war das Resultat eine Straße, die sie nachts nicht ohne Not allein entlanggegangen wäre.

Catherines Haus besaß, wie es schien, die einzige elegante Fassade in dem Straßenabschnitt: eine Doppeltür aus Eiche mit aufwändigem Rahmen, auf Hochglanz polierte, facettierte Messingknäufe und eine blanke Messingtafel, die die Hausnummer angab. Rachel hob die Hand an das Tastenfeld. Dann ließ sie sie wieder sinken.

»Der Türcode.« Sie hatte vergessen, dass in Paris eine Adresse nicht viel nützte, solange man nicht auch den dazugehörigen Türcode hatte. Zu wissen, wo ein Haus stand, half nicht viel, wenn man nicht hineinkam.

»Ach, sei nicht so kompliziert!« Magda griff über Rachels Kopf hinweg und drückte die flache Hand auf sämtliche

»Wart mal.« Rachel streckte die Hand aus und hielt die Tür fest. »Wir brauchen einen Plan.«

»Einen Plan?«

»Ja, einen Plan. Wir müssen uns überlegen, was wir sagen, wer wir sind. Wir können nicht einfach plötzlich vor der Tür stehen und den Leuten sagen, wir glauben, Catherine sei ermordet worden, und ob sie bitte Informationen für uns hätten.«

Kurz sah Magda so aus, als läge ihr die Frage »Warum nicht?« auf der Zunge, aber dann sagte sie: »Na ja, wir können ja behaupten, wir wären von der Polizei.«

Rachel dachte nach, schüttelte den Kopf. »Schlechte Idee. Keine Dienstausweise.«

»Stimmt, ja.« Magda überlegte. »Dann können wir sagen, wir wären Privatdetektivinnen. Ist ja sogar die Wahrheit.«

»Nein.« Wieder schüttelte Rachel den Kopf. »Das können wir nicht machen. Kein Mensch redet mit Privatdetektiven. Hast du Engrenages nicht gesehen?« Eine rhetorische Frage; die Serie sahen sie sich gewissenhaft jede Woche zusammen an.

Eine Zeit lang standen sie da, von Wirklichkeit und Fernsehen gleichermaßen widerlegt. Dann kam die Eingebung. »Ich weiß! Wir können sagen, wir seien Reporterinnen.«

»Reporterinnen?« Magda sah sie zweifelnd an.

»Ja. Das ist ideal. Welcher Pariser hätte keine Lust, den Zeitungen Geschichten zu erzählen? Wir können ihnen sagen, wir würden sie als anonyme Quellen zitieren, und ich wette, sie werden singen wie Kanarienvögel.«

Pariserinnen und Pariser waren berüchtigte Klatschbasen. In kleine Wohnungen gestopft, in Gebäuden, die so konstruiert waren, dass man sich über den Hof hinweg gegenseitig in die

»Okay.« Dann fügte Magda hinzu: »Wir können ja sagen, wir wären von Le Trois.« Auf Rachels fragenden Blick hin erklärte sie: »Das ist ein Lokalblatt. Ich bin darauf gestoßen, als ich über Catherine recherchierte.«

Rachel drückte die Tür vollständig auf, und sie gelangten durch den Hausflur in den Innenhof. Kein Absperrband markierte den Unglücksort, keine Reste von Seifenwasser zeugten davon, dass Blutflecken entfernt worden waren. Der Hof sah aus wie ein x-beliebiger Pariser Innenhof, mit ein paar Pflanzenkübeln hier und da und zu beiden Seiten je einem Treppenhaus, das zu den Wohnungen hinaufführte. Wie schnell doch ein Leben und eine Existenz ausgelöscht werden können, dachte Rachel. Wenn man den Hof jetzt sah, hätte man nie gedacht, dass erst ein paar Tage zuvor ein Mensch – der wiederum wenige Sekunden vorher noch lebendig gewesen war – tot auf diesen Pflastersteinen gelegen hatte.

Magdas pragmatische Stimme unterbrach Rachels melancholische Gedanken. »Wo fangen wir an?«

Ihre Freundin mochte die Konstanten der menschlichen Natur kennen, aber Rachel kannte die Konstanten von Pariser Etagenhäusern. »Wir fangen damit an, dass wir uns mit der fülligen Frau mit Schürze unterhalten.«

Magda sah sich um. »Welcher fülligen Frau mit Schürze?«

»Jedes Pariser Etagenhaus besitzt eine füllige Frau mit Schürze.«

Sie lächelte. »Bonjour, madame.« Sie gingen auf sie zu.

»Bonjour.« Ihre braunen Augen, zwei leuchtende Knöpfe in ihrem fülligen Gesicht, schlugen am Außenrand Fältchen, als sie Rachels Lächeln erwiderte.

»Wir sind von Le Trois.« Die Frau lächelte weiter, erweckte aber nicht den Eindruck, als ob der Name ihr etwas sagte. »Die Lokalzeitung«, erklärte sie.

Beim Wort »Zeitung« merkte die Frau sichtlich auf. »Ah, oui?« Sie setzte den Besen ab.

»Ja«, schaltete sich Magda ein. »Wir schreiben einen Nachruf auf Madame Nadeau.« Die Blicke der Frau huschten eigenmächtig zur Fläche hinter ihnen. »Wir hofften, ein paar Informationen über sie zu erhalten.«

Die Frau nickte. »Da kann ich Ihnen helfen. Ich wohne gleich hier.« Sie wies mit dem Kopf auf die Erdgeschosswohnung hinter ihr. »Und ich war’s, die sie gefunden hat.« Sie sah zugleich unangenehm berührt und ein bisschen stolz aus.

Jetzt war es Rachel, deren Blick zur Seite, in Magdas Richtung huschte. Jackpot!, sagte ihr Blick.

»Na«, begann sie, »könnten Sie uns dann für den Anfang etwas über sie erzählen?«

»Sie war eine schöne Frau. Und so liebenswürdig!« Die Frau schüttelte den Kopf. »Es ist so traurig. Erst Weihnachten hatte sie mir eine wunderschöne Orchidee geschenkt zum Dank dafür, dass ich ihre Lieferungen annehme.«

»Ihre Lieferungen?«, sagte Magda,

»Aber ja! Sie bekommt wenigstens ein Paket pro Woche, und wenn sie nicht zu Hause ist, verwahre ich die Sachen für

Weder Rachel noch Magda wiesen darauf hin, dass Waren doch wohl direkt ans kleine Geschäft geliefert wurden. Stattdessen sagte Rachel: »Ah, ja, der Laden. Er lief also gut?«

»Tjaaa …« Die Frau verdrehte die Knopfaugen. »Er war eine Zeit lang nicht so gut gelaufen, aber vor Kurzem, da hatte mir Catherine erzählt, ihre Situation hätte sich verbessert.«

Nachdenklich sagte Rachel: »Und dennoch, wie sie ums Leben gekommen ist … Das lässt doch schon auf gewisse persönliche Probleme schließen. Ohne eine Erklärung erscheint es völlig unbegreiflich. Hatte sie irgendwelche sonstigen Sorgen, von denen Sie wüssten?«

»Na ja, natürlich war ihr amoureux gerade erst gestorben …« Wieder das bekümmerte Kopfschütteln. »Ich war zufällig an meinem Fenster, als sie davon erfahren haben muss – ich hab einen Blick rübergeworfen und sie am Telefon gesehen. Und wie ich sie ein paar Minuten später auf dem Hof getroffen habe, da schien sie von der Nachricht völlig erschüttert zu sein. Und an den Tagen danach genauso – völlig fertig, völlig fertig. Sein Tod hatte ganz bestimmt einen Einfluss auf das, was sie dann getan hat.« Sie kehrte den Blick zum Himmel. »Es ist immer eine Tragödie, wenn die Liebe stirbt.«

»Und an dem Tag, wo sie … von uns gegangen ist«, Rachel versuchte, das Gespräch so behutsam wie möglich in andere Bahnen zu lenken, »hatte sie da irgendwelche Lieferungen oder Besucher?«

»Nein.« Die Frau dachte zurück. »Es war den ganzen Tag ruhig. Zu ruhig eigentlich.« Ihr Blick heftete sich an Rachels Augen. »Ich glaube nicht, dass mir irgendjemand widersprechen würde, wenn ich sage, dass Unheil in der Luft lag.«

Sie holte Atem, um fortzufahren, aber Rachel war schneller:

»Na ja, ihr ami kam natürlich gelegentlich vorbei.«

»Natürlich.« Jetzt übernahm Magda. »Aber in jüngerer Zeit? Vielleicht am Tag ihres Ablebens? Hatte sie da vielleicht Besuch?«

Die Frau dachte eine Sekunde lang nach und sagte dann: »Nein, ich hab niemand gesehen.«

»Oder vielleicht an den Tagen davor?« Rachel bemühte sich weiterhin um einen unverfänglichen Ton. »Kam da keine ihrer Freundinnen sie besuchen?«

»Ich verbring nicht den ganzen Tag am Fenster. Ich bin keine, die spioniert!« Die Frau ging auf Distanz. Dann, nachdem sie die Unbeflecktheit ihres Charakters klargestellt hatte, sagte sie: »Jedenfalls ist mir sonst niemand aufgefallen.« Sie dachte kurz nach und schlug dann vor: »Vielleicht möchten Sie die Orchidee sehen? Sie ist sehr schön. Sie könnten davon ein Foto für den Artikel machen.«

»Ach, es tut mir leid«, sagte Magda und klang aufrichtig betrübt, »aber die Zeitung räumt uns keinen Platz für Fotos ein, abgesehen von einem von Madame Nadeau. Wir würden uns allerdings gern mit ein paar weiteren Nachbarn unterhalten, auch wenn ich bezweifle, dass uns irgendjemand so behilflich sein kann wie Sie. Könnten Sie uns zeigen, wo es langgeht?«

»Natürlich.« Die Frau nickte in die Richtung des linken Treppenhauses. »Sie wohnte im zweiten Stock. Wohnung 5.« Sie griff wieder zum Besen und sah ihnen nach, wie sie sich auf den Weg nach oben machten.

Auf dem zweiten Absatz verschnauften sie erst kurz, dann suchten und fanden sie Wohnung 5. Gleich daneben, im rechten Winkel dazu, lag die Tür zur Wohnung mit der Nummer 6, und Magda klopfte. Keine Antwort.

»Na ja«, sagte Rachel, »ist ja auch mitten am Tag.«

Wie um ihr Argument zu bekräftigen, war in Wohnung 7 ebenfalls niemand zu Haus. Nummer 8 erwies sich allerdings als eine Goldgrube: nicht irgendein Nachbar, sondern ein verärgerter Nachbar.

»Die Frau konnte einfach nicht aufhören, Krach zu machen«, sagte er. »Kam jeden zweiten Tag mit einem neuen Paket in der Hand die Treppe raufgetrampelt. Und ich konnte sie durch die Wand lachen hören. Wirklich, wer in einem Etagenhaus wohnt, sollte auf seine Nachbarn etwas Rücksicht nehmen!«

Der Mann war eine Sorte Mensch, die Rachel allzu gut kannte. Für ihn war alles, was seine Ruhe störte, ein Affront, und solche Affronts waren sein Lebensinhalt. Er hatte Catherines Verbrechen gegen seinen Seelenfrieden zweifellos mit bitterer Zärtlichkeit gesammelt und memoriert. Zum wirklich idealen Zeugen hätte er nur noch ein chronisches Leiden gebraucht, das ihn zwang, den ganzen Tag zu Hause zu verbringen.

»Und von ihrem Lärm bekam ich reichlich zu hören«, fuhr der Mann fort, »denn zurzeit bin ich den ganzen Tag zu Haus. Seit ich gekündigt habe. Na ja«, räumte er ein, »die würden wahrscheinlich behaupten, dass sie mich entlassen haben, aber

Magda schnalzte mit der Zunge. »Leute gibt’s! Völlig rücksichtslos!« Sie schüttelte den Kopf ob solchen Elends. »Wie Madame Nadeau. Deren Besucher haben Sie ja wohl auch gestört? Es ist nämlich so«, erklärte sie, »dass wir Freundinnen und Freunde suchen, die wir interviewen könnten, und einige, nehmen wir an, werden sie ja gelegentlich besucht haben. Vielleicht können Sie sich an den Namen einer Person erinnern, die besonders rücksichtslos war? Bei der Sie sich vielleicht den Lärm verbeten haben?«

»Alle ihre Besucher waren rücksichtslos.« Er war ein König, der über Gesindel sprach. »Aber vorgestellt hat sich niemand.«

»Na gut, aber erinnern Sie sich vielleicht an jemand Bestimmtes? Jemand, den Sie vielleicht beschreiben könnten? Hinweise aus der Öffentlichkeit sind für uns so wichtig!«

Magda hatte offenbar die richtige Mischung aus anbiedernd und hilfsbedürftig getroffen, denn der Nachbar sagte: »Manchmal kamen Frauen zu Besuch – Freundinnen, nehme ich an. Allesamt Amazonen in Pfennigabsätzen, ihrem Geklacker nach zu urteilen. Und ein paarmal kam ein Mann zu ihr.«

»Ein Mann?« Magda hatte ihr Notizbuch bereits aufgeschlagen; jetzt zückte sie den dazugehörigen Minibleistift. »Wie sah er aus?«

»Ich hab ihn nicht richtig gesehen.« Der Nachbar zuckte mit den Schultern. »Viel Lärm hat er nicht gemacht. Er trug einen Mantel und hatte dunkles Haar.«

Das könnte jeder sein, dachte Rachel. Magda klappte das

»Wollen Sie unterstellen, ich wäre unaufmerksam?« Der Mann richtete sich zu voller Größe auf. »Ich versichere Ihnen, dass ich jeden einzelnen Besuch mitbekommen habe. Ich habe die Ohren eines Luchses!«

Rachel hatte nicht gewusst, dass Luchse wegen ihres Gehörs berühmt waren, wohl aber wusste sie, wann sie jemandes Kooperationsbereitschaft verloren hatte. Dieser Mann würde ihnen überhaupt nichts mehr erzählen. Sie trat Magda leicht auf den Fuß, damit sie begriff, dass sie sich verabschieden sollten.

»Was?«, sagte Magda.

»Was?« Der Mann klang verwirrt.

»Nein, Verzeihung«, entgegnete Magda. »Nicht Sie.«

Der Mann starrte sie verblüfft an. »Was?«

Sie hätten ohne weiteres den ganzen Tag so weitermachen können. Rachel mischte sich wieder ein. »Es tut mir leid, aber wir müssen jetzt gehen. Wir stehen unter Termindruck. Sie haben uns sehr weitergeholfen.«

»Na gut, wenn Sie keine Zeit haben, sich anzuhören, was ich zu sagen habe …« Er zuckte die Achseln, dann machte er die Tür zu. Selbst die Luft, die dabei aus seiner Wohnung entwich, hatte etwas Gekränktes an sich.

Magda und Rachel sahen sich an und schafften es, nicht loszulachen. Sie stiegen die Treppe hinunter und überquerten den Hof; die inoffizielle concierge folgte ihnen von ihrem Fenster aus mit dem Blick, bis sie verschwunden waren.

»Tja, das war ein Schuss in den Ofen.« Jetzt wieder auf der Straße, spürte Rachel, wie sich Trübsal in ihr breitmachte. Eine weitere Idee, die sich als fruchtlos erwiesen hatte.

»Wie würdest du es denn dann sagen? Treppen gestiegen, Nachbarn ausgefragt und nichts rausbekommen, außer dass sie viele Pakete bekam!«

»Na ja, und ist das etwa nicht nützlich? Die Tatsache, dass sie im Privatleben eine Verschwenderin war, macht die Theorie, dass sie jemanden erpresste, nur überzeugender: Sie brauchte das Geld fürs Geschäft und für zu Hause.«

Rachel knurrte zum Zeichen, dass sie das Argument gleichzeitig akzeptierte und für unzulänglich befand. »Schon, aber wie es aussieht, hatte sie in letzter Zeit keine Besucher, womit die Idee, jemand könnte nachgeholfen haben, hinfällig ist.«

»Der Nachbar sagte doch, ein Mann hätte sie besucht.«

»Und die Frau sagte, dass Edgar sie besuchte. Zwei plus zwei gleich sie waren ein und dieselbe Person.« Da Magda so aussah, als wollte sie protestieren, fügte Rachel hinzu: »Und selbst, wenn nicht: Er sagte, der Mann habe dunkles Haar gehabt und einen Mantel getragen – das könnte so gut wie jeder Mann in Paris sein. Und was noch wichtiger ist«, sagte sie mit hoffnungslos höher werdender Stimme, »er sagte, er hätte in letzter Zeit keine Frauen gesehen!«

»Nein, das hat er nicht gesagt.« Magdas Stimme blieb ruhig. »Er hat gar nicht gesagt, ob er irgendwelche Frauen gesehen oder nicht gesehen hatte: Genau an dem Punkt hat er angefangen, sich aufzuspielen.« Sie sah Rachel an. »Er hat nämlich die Ohren eines Luchses, musst du wissen.«

Jetzt lachten sie doch. »Also gut.« Rachel spürte, wie sich ihre Frustration ein wenig verzog. »Wofür würdest du also plädieren? Dass wir noch jemand anders fragen?«

»Nein, ich glaub nicht, dass uns das etwas bringen würde. Wenn du von jemandem erpresst wirst und ankommst, um ihn umzubringen, würdest du wahrscheinlich eher darauf achten, nicht gesehen zu werden. Ich bezweifle also, dass wir bei

»Und damit wären wir wieder bei Elisabeth und Mathilde, und bei einem geheimnisvollen Objekt in Edgars Wohnung.«

Magda nickte.

»Und deine Idee wäre also, dass wir herausfinden, wer am ehesten Grund hatte, Edgar zu töten, und dann versuchen, ihn oder sie mit Catherines Tod in Verbindung zu bringen? Also nicht die deduktive, sondern die induktive Methode?«

Wieder nickte Magda.

Rachel schien dieser Ansatz zwar eine erstaunliche Ähnlichkeit mit Rätselraten aufzuweisen, aber er hatte immerhin den Vorzug, dass er an ihren einzigen konkreten Anhaltspunkt anknüpfte: an Mathilde und Elisabeths Auseinandersetzung. Sie gab ihren Widerstand auf. »Also schön. Wir sind wieder bei Edgars mysteriöser Hinterlassenschaft. Tja, und da Mathilde das fragliche Objekt als bibelot bezeichnete, kann es nichts besonders Großes sein. Und da Elisabeth ausdrücklich von Edgars Papieren sprach, kann man vermuten, dass es irgendeine Art Dokument ist …«

»Aber was für eine Art Dokument?« Magda runzelte die Stirn. »Und warum sollten Mathilde und Elisabeth es unbedingt haben wollen?«

Rachel kam ein Gedanke. »Und was, wenn sie gar nicht beide dasselbe Ding wollten? Wir nehmen doch nur an, dass sie nach demselben Ding suchen, weil die eine etwas abholen und die andere etwas verstecken wollte. Aber die zwei Etwasse brauchen ja gar nichts miteinander zu tun zu haben!« Sie begann, sich für diese Möglichkeit zu erwärmen. »Genau genommen spricht nichts eindeutig dafür, dass zumindest Elisabeth wirklich weiß, wonach sie eigentlich sucht.« Sie hob die Hand, damit Magda sie nicht unterbrach. »Sie hat gelogen, aber

»Irgendetwas Belastendes. Ja, das ergibt Sinn.« Magda verschränkte die Arme und schob die Hände darunter. »Herrgott, ist es kalt!«

Rachel zog sie hinunter in die nächste Metrostation. Vom Bahnsteig her wehte warme Luft in den Schalterbereich und Magda zog ihre Handschuhe aus. »Was ist mit Mathilde?«, fragte sie. »Glaubst du, das, was sie haben will, ist ebenfalls belastend?«

Rachel spielte den Wortwechsel noch einmal im Kopf durch. Sie erinnerte sich an die Empörung, die sich in Mathildes Haltung und Stimme geäußert hatte. Aber wie erriet man die Ursache von Empörung? Mathilde war zu wütend gewesen, um irgendetwas anderes als eben Wut zu verraten. Rachel schüttelte langsam den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich habe mir die Frage selbst schon gestellt. Ich bin mir sicher, dass der fragliche Gegenstand für sie irgendwie von großer Bedeutung ist. Aber inwiefern, weiß ich nicht.«

Ein weiteres »Ich weiß nicht.« Seit wir mit dieser Sache angefangen haben, sagen wir in einem fort nur »Ich weiß nicht«, dachte sie. Das sah einer Detektivin nicht eben ähnlich. Sagte Mr Monk etwa »Ich weiß nicht?« Oder Nero Wolfe? Jetzt reichte es: Das war das »Ich weiß nicht«, das das Fass zum Überlaufen brachte. Es war Zeit für einen kühnen Schritt.

Sie wappnete sich. »Ich weiß es nicht, aber ich werde es herausfinden!«

Ihre plötzliche Heftigkeit schien Magda zu befremden. »Wie?«

Rachels Lippen wurden schmaler. »Ich werde das bureau

»Aber David wohnt doch jetzt in der Wohnung! Und Elisabeth verbringt, wie du selbst sagst, nach wie vor den ganzen Tag dort, und dazu auch noch exactement im bureau.«

Rachel wischte beides vom Tisch. »David habe ich seit der ersten Woche gar nicht mehr zu Gesicht bekommen. Nach dem, was Fulke sagt, bleibt er oft die ganze Nacht außer Haus. Und er schläft viel. Und was Elisabeth angeht«, darauf hatte sie keine Antwort, »werde ich mir was einfallen lassen.«

»Du klingst wie ich.« Magda runzelte die Stirn. »Das ist nicht sehr beruhigend.«

»Keine Sorge«, sagte Rachel grimmig. »Es wird alles glatt laufen.« Sie kramte in ihrer Tasche nach ihrem Navigo-Ausweis und hielt ihn vor den Sensor an der Schranke. Zum Klang des bestätigenden Pieptons sagte sie: »Vertrau mir.«