Doch während des Großteils der folgenden Woche lief alles nur in dem Sinne glatt, dass sie überhaupt nichts unternehmen konnte. Fulke war geradezu Teil der Wohnungseinrichtung, und Elisabeth schien nie einen Tag ausfallen zu lassen oder auch nur Mittagspause zu machen. Hinzu kam, dass David offenbar endgültig die Nacht zum Tag und vice versa gemacht hatte. Manchmal stolperte er erst in die Wohnung, wenn Rachel schon seit Stunden bei der Arbeit war, und die Vorstellung, ihm auf ihrem Erkundungsgang über den Weg zu laufen, behagte ihr nicht besonders.
Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, die sich tatsächlich nur auf fünf Tage belaufen hatte, waren ihr die Sterne wohlgesinnt. Als sie an dem Freitagmorgen nach dem Besuch bei Benoît die Wohnung betrat, war es dort noch stiller als sonst; Mademoiselle des Troyes, bestätigte Fulke auf ihre Nachfrage hin, war mit einer Erkältung zu Hause geblieben.
»Und David?«, fragte Rachel.
»Monsieur Bowen ist seit gestern Abend noch nicht zurückgekehrt.«
Ideal war es nicht, dachte Rachel, als sie die Bibliothek betrat und die Tür hinter sich schloss, aber wenn David nicht heimkam, bevor Fulke die Wohnung verließ, würde sie die Gelegenheit beim Schopf ergreifen müssen und auf Erkundung gehen. Gut möglich, dass sie keine weitere Chance bekommen würde. Sie schlüpfte aus den Schuhen, legte ihre Handtasche hin, strich ihren Rock glatt und setzte sich. Sie versuchte nicht einmal so zu tun, als katalogisierte sie, aus Angst, das Kratzen des Bleistifts könnte das Klicken der sich schließenden Tür übertönen; sie blieb einfach regungslos sitzen. Seit dem Gespräch mit Magda hatte sie entschieden, dass, wenn sie schon das Risiko einging, sie sich nicht damit begnügen würde, das Arbeitszimmer zu durchsuchen, und so nutzte sie diese Minuten des Wartens dazu, im Kopf eine Liste dessen zu erstellen, was sie mit ihrer Forschungsexpedition alles erreichen wollte.
Klar wollte sie herausfinden, was Elisabeth durch ihre Lüge zu schützen versucht – und was Mathilde so dringend gewollt – haben mochte. Aber sie wollte sich darüber hinaus auch eine Vorstellung von der Aufteilung der Wohnung machen. Von den vorderen Zimmern, dem langgestreckten repräsentativen Esszimmer auf der linken und dem Salon auf der rechten Seite, mit dem bureau dahinter, konnte sie einen ungefähren Grundriss skizzieren. Aber von den übrigen Zimmern und den Details des Ganzen hatte sie keine Ahnung. Sie und Magda waren davon überzeugt, dass Edgar von jemandem ermordet worden war, der ihn persönlich kannte, aber die logischere Hälfte ihres Gehirns musste zugeben, dass es keinerlei konkrete Beweise dafür gab. Konnte ein Unbekannter – ein opportunistischer Dieb oder vielleicht auch ein Drogenabhängiger, der sich irgendwie Zutritt zum Gebäude verschafft hatte – unbemerkt in die Wohnung eingedrungen sein? Entgegen dem, was sie Magda gesagt hatte, wollte sie einen Plan der Wohnung anfertigen, um sich darüber Klarheit zu verschaffen, ob es überhaupt möglich war, dass ein Fremder einen so fehlerfreien Mord verübt hatte.
Tatsächlich musste ihr Verstand zugeben, dass nach wie vor herzlich wenig dafür sprach, dass sie es überhaupt mit einem Mord zu tun hatten. Ein bisschen Wein und ein paar Enthüllungen über Geldnöte und Geldgier, ein paar unvermittelte Pausen im Gespräch und eine Lüge vonseiten eines hübschen Mädchens ergaben nicht automatisch eine Straftat. Ihr Verstand wollte einen handfesten, unwiderleglichen Beweis dafür finden, dass ihr Instinkt recht hatte: eine schlecht versteckte Flasche vergifteten Rosés, eine Reihe von Briefen, die irgendeine von Mathilde verübte ruchlose Tat belegten, oder sonst etwas in der Richtung.
Sie vernahm das leise Klick, auf das sie gewartet hatte: Fulke hatte die Wohnung verlassen, und sie hatte eine halbe Stunde für ihre Suchaktion. Sie beschloss, mit dem Esszimmer anzufangen: Sie hatte das Gefühl, es könnte ihr helfen, den eigentlichen Tatort in Augenschein zu nehmen. Sie durchquerte die Diele mit ihrem dicken cremefarbenen Teppichboden, der sich den Korridor entlang bis in den Hauptteil der Wohnung hinzog und garantiert jeden Schritt schluckte, der sich dem Esszimmer näherte. Ein Punkt dafür, dass der Mörder sich hätte hereinschleichen können. Dann fiel ihr Blick auf die Eingangstür. Sie war elegant gestaltet, aber doch die in besseren Pariser Häusern übliche schwere Metallkonstruktion, mit dem gleichen komplizierten Schlossriegelmechanismus wie ihre eigene. Es wäre für jeden – ob bekannt oder unbekannt – nahezu unmöglich gewesen, sie zu öffnen, ohne gehört zu werden. Ein Punkt dafür, dass es überhaupt kein Mord war.
Sie drehte den Knauf an der Doppeltür, die ins Esszimmer führte, öffnete leise und trat ein. Hier wich der Teppichboden dunklem Parkett, auf dem ein Orientteppich lag. An der linken tiefroten Wand hing ein Ölgemälde mit einem dunstigen Seeufer. Ein Impressionist der zweiten oder dritten Riege, tippte sie. Das Bild sah nicht wertvoll genug aus, um das zu sein, was Mathilde so unbedingt hatte haben wollen – oder um einen Mord zu rechtfertigen –, aber vielleicht war es ja doch mehr wert, als sie dachte. Sie machte sich im Geiste eine Notiz und zog weiter.
Der Esstisch aus Nussholz, den sie bei ihrem ersten Besuch flüchtig gesehen hatte, stand in der Mitte des Raums und war mit einem Läufer bedeckt, auf dem zwei auf Hochglanz polierte vielarmige Kerzenleuchter prangten. Flankiert wurde der Tisch von zehn vollkommen parallel ausgerichteten Stühlen mit überhoher massiver Lehne. Das war kaum der geeignete Ort für trauliche Dinner à deux. Sie erinnerte sich an ihren Verdacht, dass Edgar Elisabeth – zu welcher gemeinsamen Untat auch immer – hatte verführen müssen; das Gefühl von privilegierter Intimität, das ein Candle-Light-Dinner in solchem herrschaftlichen Ambiente erzeugte, hätte jede überwältigt. Und sie konnte sich unschwer die Wut vorstellen, die die Erkenntnis ausgelöst hätte, dass solch eine Intimität eine List und kein Freundschaftsbeweis gewesen war.
Als sie eine Schwingtür in der rechten Wand öffnete, fand sie sich in einem engen Raum mit schwarz-weiß gefliestem Fußboden wieder, dessen Wände von Geschirrschränken und Regalen gesäumt waren. Die Anrichte. In Anbetracht des bewundernswerten Zustands des Tafelsilbers im Esszimmer überraschte es sie nicht, an einem Wandhaken ein Putztuch und eine Schürze hängen zu sehen. In Anbetracht von Fulkes Versessensein auf Reinlichkeit und Ordnung allerdings stutzte sie sehr, als sie auf der Fensterbank einen Stoß Zettel entdeckte. Ihr Herz schlug schneller. Rechnungen? Ging der Haushalt in Schulden unter? Oder konnten das Wettbelege sein? Oder … Erpresserbriefe? Mit spitzem Daumen und Zeigefinger pflückte sie den Stoß von seiner Unterlage, dann pustete sie darauf, sodass sich die Zettel auffächerten, und verdrehte den Hals, um sie zu lesen. Stolz über ihren geschickten Umgang mit Beweismitteln, sah sie, dass sie eine Kollektion von Empfangsbelegen einer chemischen Reinigung gefunden hatte – für Haushaltstextilien und Anzüge und, zuoberst, für eine schwarze Samtjacke.
Ihre Wangen glühten. Sie legte den Zettelstapel wieder zurecht und hastete durch die nächste Tür, erneut eine Schwingtür. Dahinter lag die Küche, mit weißen Wänden und einem praktischen grauen Linoleumfußboden. Auf der Arbeitsfläche standen die üblichen Kochutensilien und eine Obstschale, und es gab einen kleinen Zinktisch, gerade groß genug für einen Esser, mit einem einzelnen Stuhl.
Neben dem Tisch thronte ein wuchtiger Edelstahlkühlschrank. In Anbetracht der Anzahl von Personen, die hier tatsächlich wohnten, dachte Rachel, mussten seine Dimensionen eher dem Status als der Notwendigkeit geschuldet sein. Sie fand sich in ihrer Vermutung bestätigt, als sie ihn öffnete, denn er enthielt lediglich ein Päckchen prosciutto, etwas frische Pasta, einen Karton Milch und eine halbvolle Flasche lieblichen Weißwein. Keinen Rosé. Sie sah sich noch einmal um, aber auch auf der Arbeitsfläche stand keine weitere Flasche. Nichts deutete darauf hin, dass hier noch immer Rosé getrunken wurde, nichts, was einen der derzeitigen Bewohner überhaupt mit Rosé in Verbindung gebracht hätte.
Sie schätzte, dass das Arbeitszimmer genau jenseits des Ganges liegen musste, und wandte sich in die entsprechende Richtung. Zu ihrer Überraschung gab es aber keine direkte Verbindung zwischen Küche und Korridor: Ihre einzigen Optionen waren, entweder kehrtzumachen und den Umweg über das Esszimmer zu nehmen oder aber die Küche durch die zweite, gegenüberliegende Tür zu verlassen und tiefer in die Wohnung vorzudringen. Nun, Vormarsch war immer besser als Rückzug.
Die Tür führte in eine kleine Toilette, die ein schmales Waschbecken und ein Klosett enthielt. Man müsste schon beim Cirque du Soleil beschäftigt sein, um hier drin etwas verstecken oder wiederfinden zu können, dachte Rachel, wenngleich sie die Geschicklichkeit bewunderte, mit der man gleich zwei Türen in diesen winzigen Raum hineinbekommen hatte: die eine zur Küche und eine weitere, die, wie sie feststellte, in einen großen Abstellraum führte. Ein zusammengeklapptes Feldbett in einer Ecke ließ vermuten, dass dies einmal ein Schlafzimmer gewesen war, aber das musste schon eine ganze Weile her sein, denn der nackte Fußboden war jetzt mit häuslichem Gerümpel vollgestellt: ein paar Holzkisten, mehrere Koffer, ein Sortiment von Kartons unterschiedlicher Größe und Provenienz und – unerwarteterweise – ein Netz Zwiebeln und ein Sack Kartoffeln, die auf einem, wie es aussah, ehemaligen Schreibtisch platziert waren. Trotz des Durcheinanders erkannte Rachel fast augenblicklich, dass dieser Speicher unter Fulkes Kommando stand: Nirgendwo lag Staub, und die verschiedenen Gegenstände waren, obwohl sie den Raum ausfüllten, ordentlich arrangiert, eine lebensgroße chinesische Puzzleschachtel. Dann bemerkte sie in der hinteren Ecke eine weitere Tür. Tja, dachte sie, damit waren die Probleme mit der Wohnungstür umgangen. Wenn diese Tür nicht verriegelt war, hätte sich jemand leicht Zutritt verschaffen und bis ins Esszimmer schleichen können. Ein Punkt für einen möglichen Mord durch einen Unbekannten. Wenn die Tür allerdings abgeschlossen war, würde man schon einen Schlüssel brauchen, um auf diesem Weg in die Wohnung zu gelangen, und sie konnte sich zugegebenermaßen nicht vorstellen, dass Fulke jemals vergessen sollte, eine Tür abzuschließen. Damit lag Mord durch einen Nahestehenden wieder auf dem Tisch. Sie lächelte grimmig über ihren Kalauer.
Auch in der rechten Wand gab es eine Tür. Sie öffnete sich auf den Korridor, der nach nur wenigen Schritten in eine Art enges Treppenhaus überging, in dem Stufen nach oben wie nach unten führten. Das musste die Tür sein, die sie jeden Tag mit einem Klick zuschnappen hörte. Wie die meisten Pariser résidences aus dem 19. Jahrhundert verbannte auch diese die Dienstbotenquartiere ins Obergeschoss, von wo aus eine eigene Treppe hinunter in die Wohnungen und auf den Hof führte. Zu Edgars Wohnung gehörten zweifellos mehrere solche Dachstuben, in denen der Inhaber, was immer er an Hauspersonal haben mochte – in Edgars Fall Fulke –, unterbringen konnte. Sie sah auf ihre Uhr: fünfzehn Minuten.
Irgendwo im Haus raschelte etwas. Sie erstarrte und spitzte die Ohren, aber schon war alles wieder still. Hatte ein Luftzug einen dieser Wäschereizettel zu Boden flattern lassen? Oder das Silberputztuch an der Wand der Anrichte bewegt? Sie wartete mit angehaltenem Atem. Als sie weiterhin nichts hörte, warf sie wieder einen Blick auf die Uhr. Dreizehn Minuten. Genügend Zeit, um auch die andere Seite der Wohnung abzugehen, wenn sie sich beeilte. Sie schloss die Tür und öffnete behutsam die gegenüberliegende.
Edgars Schlafzimmer. Das Bett war ein riesiger Schlitten aus dunklem Holz, der von lederbespannten Nachttischen flankiert und von einem hochflorigen dunkelbraunen Teppich umflossen und unterspült wurde. Plötzlich ging ihr auf, dass die ganze Wohnung gut gepolstert war. Nur der Abstellraum und Fulkes Bereich waren frei von dickem Teppichboden, schweren Möbeln, gestepptem Leder. Wie Davids Erzählungen andeuteten, war Edgar wirklich zu einem Mann geworden, der es genoss, Geld zu haben und damit nicht zu geizen.
Wie zur Bestätigung ihres Urteils, fiel ihr eine Marmorplastik ins Auge, die auf einem Regal an der gegenüberliegenden Wand stand. War das etwa eine Jacob-Epstein-Taube? Sie ging näher heran. Mein Gott, die musste Tausende wert sein! Sie wusste, dass Edgar Epstein liebte, aber als sie zusammen gewesen waren, hatte er bestimmt nicht das Geld gehabt, sich einen zu kaufen. Sie legte eine Hand darauf. Das Ding hätte leicht unter einen Mantel gepasst, wenn auch nicht, ohne eine gewisse Aufmerksamkeit zu erregen.
Da die Zeit drängte, schob sie diesen Gedanken nach hinten und betrat das angrenzende Badezimmer. Es enthielt lediglich Davids Toilettenartikel und den Bodensatz seiner Taschen: Elektrorasierer und -zahnbürste, Zahnpasta, einen Waschlappen und Seife, etwas Kleingeld und eine Kreditkarte, die ordentlich, mit der Kante des Waschtisches bündig, hingelegt worden war. Sie öffnete einen in die Wand eingelassenen Spiegelschrank. Keine Pillenfläschchen, kein Digoxin, nicht einmal ein Antazidum: nichts, was darauf hingedeutet hätte, dass Edgar Herzprobleme gehabt hatte – aber auch nichts, was dafür sprach, dass man ihm zu welchen verholfen hatte. Andererseits hätte man den Schrank mit Sicherheit vor Davids Einzug geleert. Sie schloss den Spiegel und kehrte ins Schlafzimmer zurück.
Wieder ein Rascheln; wieder erstarrte sie. Diesmal folgte allerdings keine Stille. Diesmal folgte vielmehr, nach einer Pause, ein zweites Rascheln. Sie sah auf ihre Uhr. Fünf Minuten. Ihre Intuition sagte ihr zwar, dass sie allein war, aber auch, dass ihr die Zeit allmählich ausging. Und sie musste noch ins bureau; dort befanden sich Edgars Geschäftspapiere. Sie verfluchte sich rückblickend für ihre Entscheidung, mit dem Esszimmer zu beginnen. Hatte sie wirklich unbedingt sehen müssen, wo Edgar gestorben war? Sie riss sich zusammen: Ausschimpfen konnte sie sich immer noch später. Erst mental, dann physisch die Schultern straffend legte sie eine Hand an die Tür des bureaus, drückte mit der anderen die Klinke herunter und öffnete.
Elisabeth hockte vornübergebeugt vor einem Karton, mit beiden Händen in den darin enthaltenen Papieren zugange. Was Rachel gehört hatte, war das Rascheln von Dokumenten gewesen, die von zitternden, hastenden Fingern durchgeblättert wurden. Als sie die Tür hörte, hob Elisabeth den Kopf, und ihre grauen Augen, die durch die Perspektive noch riesiger erschienen als sonst, sahen zu Rachel auf. Sie wurde knallrot.
»Elisabeth!« Obwohl Rachel ebenso überrascht war wie das ertappte Mädchen, hatte sie das große Glück, sich zu erinnern, dass ein beherzter Angriff immer die beste Verteidigung war. Sie legte Schärfe in ihre Stimme. »Ich denke, Sie sind zu Hause und krank? Was machen Sie hier?«
Elisabeths Blicke schossen nach links und nach rechts. »Ich – ich – ich hab nach einem Stift gesucht.« Sie holte tief Luft. Nachdem sie einen metaphorischen Strohhalm zum Sichdranklammern gefunden hatte, ließ sie ihn nicht aus der Hand. »Ich arbeitete an Edgars Papieren, und ich musste mir Notizen machen, aber ich konnte keinen Stift finden. Ich dachte, vielleicht wäre im Karton einer.«
Geht’s noch dämlicher?, stöhnte Rachel innerlich. »Lassen wir mal beiseite, was Sie gerade in diesem Augenblick machen«, sagte sie. »Wieso sind Sie überhaupt hier?«
Elisabeth fuhr sich mit einer Hand durch das Haar, dann zerrte sie ihre Ärmel über die Hände hinunter. Sie holte noch einmal tief Luft. Aber gerade, als sie zum Sprechen ansetzte, ertönte das Geräusch der Hintertür, die aufgeschlossen wurde. Fulke war wieder da.