Es wurde eine lange Woche. Rachel wusste aus Erfahrung, dass es unmöglich war, in einem vorgegebenen Zeitrahmen gute Lyrik zu schreiben, also probierte sie es gar nicht erst. Stattdessen versuchte sie, sich dadurch die Zeit zu vertreiben, dass sie die vollkommene Hausfrau spielte. Sie putzte die Wohnung, und anschließend putzte sie sie noch einmal; zum ersten Mal seit Jahren bügelte sie Alans sämtliche Hemden selbst. Sie zog sich sämtliche Episoden der letzten Staffel von Law & Order am Stück rein. Aber am Donnerstagabend war sie wirklich am Ende ihrer Ressourcen.

»Noch einen Tag«, rief sie Alan ins Gedächtnis, als sie sich zu Ochsenschwanzsuppe und ofenwarmem Brot (denen Omelette surprise folgen würde) zu Tisch setzten.

»Hmm.« Er schluckte einen Löffel Suppe und sah dann zu ihr auf. »Warum lädst du Magda nicht morgen zum Abendessen ein?«

»Magda?« Rachel führte ihrerseits den Löffel an die Lippen. »Warum? Ich habe sie diese Woche täglich gesehen. Morgen sehe ich sie bestimmt auch.«

»Trotzdem finde ich, du solltest sie zum Essen einladen. Es gibt ein paar Dinge, die ich euch zeigen möchte.« Als er ihr Gesicht sah, sagte er: »Gute Dinge, gute Dinge. Komm schon. Lad sie ein.«

***

»Das war köstlich.« Sie hatten coq au vin mit neuen Kartoffeln und zum Dessert tarte Tatin gegessen. Er trank den abschließenden Schluck aus seinem Weinglas. »So.« Er schenkte sich nach, neigte anschließend die Flasche in Magdas, dann in Rachels Richtung; beide schüttelten den Kopf. »Und, wie war die Woche so?«

»Langweilig«, sagte Rachel. Sie klang, als wär sie fünfzehn. »Stink-lang-wei-lig. Und stressig, weil ich weiß, dass eine Mörderin frei herumläuft, ich aber verboten bekommen habe, irgendwas dagegen zu unternehmen.«

Alan lächelte.

»Amüsiere ich dich?«, fragte sie.

»Immer. Aber das ist nicht der Grund, warum ich lächle.«

»Sondern?«

Behutsam holte er einen Stoß Papiere unter seinem Stuhl hervor und legte ihn auf den Tisch.

»Was ist das?« Sie streckte die Hand danach aus, aber Alan zog den Stoß zu sich heran.

»Das«, sagte er, »ist der Grund für Edgars ›Zuneigung und Dankbarkeit‹.« Er klopfte den Stoß zweimal auf Kante, legte ihn wieder hin und sah die zwei Frauen abwechselnd an. »Sollen wir anfangen?«

»Alan …« Dann besann sich Rachel und beschloss, ihm seinen großen Moment zu gönnen. »Ja.«

»Also gut.« Er brachte die Papiere, die er gerade zurechtgerüttelt hatte, wieder durcheinander. »Als du mir von

»Etwas Interessantes?« Magda biss sich auf die Unterlippe.

»Tja …« Er hob die Augenbrauen. »Eine kluge Frau erklärte mir einst, es gebe vier hauptsächliche Mordmotive: Eifersucht, Angst, Vergeltung und …«

Rachel hauchte das letzte Wort wie Howard Carter vor Tutenchamuns Guckloch: »Diebstahl.«

Alan nickte. Er hob das erste Blatt auf. »Edgar hatte eine ganz schöne Menge Geld. Ich werde euch nicht sagen, wie viel, weil der Gesamtbetrag nichts zur Sache tut, aber so viel kann ich euch verraten, dass mein Job mich eines gelehrt hat: So viel Geld bekommt man nicht zusammen ohne einen wirklich guten Sinn fürs Geschäft. Und ohne ein paar Abkürzungen zu nehmen.«

»Ich habe mir seine Geschäftskosten angesehen: seine Gehaltsliste, seine Steuern und die Steuern der Leute die für ihn arbeiteten.«

»Wie hast du das alles herausgefunden?« Magda wusste immer gern, wie etwas funktionierte, aber Alan, der diese grundsätzliche Neugier eigentlich teilte und normalerweise gern bereit war, Abläufe haarklein zu erläutern, wurde jetzt vage.

»Ich bin im Bankgeschäft tätig. Es gibt bestimmte Frameworks. Bestimmte«, er überlegte einen Augenblick lang, »Mittel zur Feststellung der finanziellen Situation bestimmter Leute.«

»Sind es legale Mittel?« Rachel war sich nicht sicher, welche Antwort sie sich erhoffte.

»Es sind Mittel, die jedem Banker in meiner Gehaltsstufe zur Verfügung stehen.«

Was streng genommen keine Antwort auf ihre Frage war, wie Rachel zur Kenntnis nahm. Aber gerade als sie sich überlegte, ob es sie überhaupt interessierte, lehnte sich Magda vor und fragte in sachlichem Ton: »Hast du etwas von diesem Geld entnommen, bewegt oder dich sonst wie daran zu schaffen gemacht?«

»Natürlich nicht.«

»Hilft uns das, was du herausgefunden hast, weiter?«

»Potenziell.«

»Besteht die Gefahr, dass du Ärger bekommst?«

Alan sah Rachel an. »Sehr unwahrscheinlich.«

Magda lehnte sich wieder zurück. Sie machte eine Geste in Rachels Richtung, als sagte sie: Da hast du’s.

Rachel seufzte. »Na gut. Weiter. Du hast also seine Steuern überprüft?«

Herrjesus, dachte Rachel, den Job hätte ich auch gern!

Alan legte das zweite Blatt beiseite, nahm sich zwei, drei weitere und fuhr fort: »Viele Leute, die mehr als einen bestimmten Betrag verdienen, lassen sich handelsgerichtlich eintragen und verwandeln sich sozusagen in eine Firma, eine Gesellschaft.« Rachel nickte. »Nun, Edgars Angestellte wurden von der Gesellschaft ›Edgar Bowen‹ bezahlt. Er selbst hatte aber außerdem noch Bankkonten, Geld und so weiter als die Privatperson Edgar Bowen. Und das ist wichtig«, sagte er, die Augen auf die Papiere gerichtet, »denn es war die Gesellschaft Edgar Bowen – Edgar Bowen, S. à. r. l. –, die Elisabeth des Troyes bezahlte. Und das wiederum ist wichtig«, hier konnte er sich nicht beherrschen und legte eine vor Spannung knisternde Kunstpause ein, »weil Elisabeth des Troyes anschließend die Privatperson Edgar Bowen bezahlte.«

»Was?« Rachel und Magda stießen die Frage unisono aus. Sie lehnten sich vor.

»Sie bezahlte ihn?«, sagte Rachel.

»Ja.« Alan nahm zwei der verbleibenden Blätter vom Stapel und legte sie quer nebeneinander vor sich hin. »Es sieht folgendermaßen aus: Jeden Monat überwies die Edgar Bowen,

Rachel sah eine Sekunde lang auf die Computerausdrucke und dankte dabei Alan im Geiste dafür, dass er so tat, als könnte sie daraus schlau werden, obwohl er genau wusste, dass sie, was Zahlen anging, eine Katastrophe war. Sie reichte die Blätter an Magda weiter.

»Das bedeutet also«, sagte Magda, die die Ausdrucke genommen hatte, aber weiterhin Alan ansah, »dass er ein Loch mit dem anderen zustopfte.« Sie runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht.«

»Das liegt daran«, sagte Alan, »dass dir das letzte Puzzleteilchen fehlt. Und zwar das folgende: Edgar Bowen, S. à. r. l., zahlte an Unternehmenssteuer und Sozialabgaben weniger, als die Privatperson Edgar Bowen an Einkommenssteuer bezahlt hätte. Nicht viel, aber mit der Zeit summiert sich ›nicht viel‹ zu einer ordentlichen Menge. Und überhaupt«, wieder blickte er von der einen zur anderen Frau, »weiß jeder gute Geschäftsmann, dass Kleinvieh auch Mist macht.«

Rachel konnte es nicht glauben. »Betrug!«, sagte sie.

»Na ja«, Alans Ton war nachsichtig, »geringfügiger Diebstahl. Und übrigens«, fügte er hinzu, »erklärt das auch, warum er in Catherine Nadeaus Laden investierte. Er konnte es von seinem zu versteuernden Einkommen abziehen.«

Rachel war verstummt. Edgar hatte sich des Betrugs schuldig gemacht. Sie probierte es mit Alans Perspektive: Edgar hatte geringfügigen Diebstahl verübt. Das klang um keinen Strich besser. Der Edgar Bowen, dem sie einst sehr

Magda studierte die Ausdrucke. »Aber Bargeld ist bekanntlich schwer zurückzuverfolgen.«

Da behaupte noch einer, Fernsehen würde nicht bilden, dachte Rachel. »Wie kannst du dir also sicher sein, was da tatsächlich ablief?«

»Guter Einwand.« Alan nickte. »Und das könnte der Grund sein, warum Edgar die Höhe seiner Einzahlungen ständig variierte. Du hast recht: Mit hundertprozentiger Sicherheit wird man nie feststellen können, was da genau abgelaufen ist. Aber Elisabeth bezahlte alle ihre größeren Fixkosten durch Überweisung von ihrem Konto, bevor sie jeden Monat die fünfzehnhundert abhob, also brauchte sie die nicht für Miete, Nebenkosten oder sonstige größere Ausgaben. Und es ist ein Muster erkennbar: Gegen Ende jedes Monats hebt sie fünfzehnhundert ab, und Anfang des darauffolgenden zahlt Edgar immer etwas weniger als das auf sein Privatkonto ein.«

Rachel nahm ihr Gesicht in beide Hände und spürte die Knochen unter der Haut. »Aber er wäre doch wohl irgendwann aufgeflogen?«

»Früher oder später ja, wahrscheinlich. Aber wir sprechen hier von relativ kleinen Beträgen. Und das Einzige, was uns zu interessieren braucht, ist, dass er noch nicht aufgeflogen war.«

»Ja. Und sie war dabei auch ganz gut gefahren. Fünfzehnhundert Euro monatlich, um jemandem die Sachen von der Reinigung abzuholen … Aber er hatte ihr vermutlich versprochen, oder hatte vorgehabt, ihr am Ende etwas mehr zukommen zu lassen.« Alan sammelte die Blätter wieder zusammen und klopfte den Stoß mit höchst zufriedener Miene auf dem Tisch wieder in Form.

Ein paar Sekunden lang sprach niemand ein Wort. Endlich sagte Magda: »Danke. Du hast dir viel Arbeit gemacht, und das hätte keiner von dir verlangen können.«

»Ja«, echote Rachel, »danke. Ganz ehrlich.« Sie nahm seine Hand. »Du bist ein Schatz.« Aber sie klang nicht froh.

Nach einem weiteren kurzen Schweigen wandte sich Magda zu Rachel. »Das bedeutet, dass Elisabeth ihn nicht ermordet hat.«

Rachel traute ihren Ohren nicht. »Was?«

»Na ja, sie hätte doch wohl kaum die Gans geschlachtet, die jeden Monat ein goldenes Ei legte!«

»Aber vielleicht hatte sie genug davon. Vielleicht wollte sie aufhören.«

»Vielleicht?«, sagte Magda spitz. »Wenn ich das gesagt hätte, würdest du jetzt sagen, dass ich spekuliere. Wo sind denn deine Beweise?«

Alan hatten sie beide vergessen. Sie sprachen nur noch miteinander.

»Sie sucht wie verrückt nach belastenden Dokumenten«, sagte Rachel, »was vermuten lässt, dass sie sich den ganzen Schlamassel vom Hals schaffen möchte. Anzeigen konnte sie

»Eine ziemlich übertriebene Lösung.«

»Nicht, wenn sie wusste, dass sie durch sein Testament einen weit höheren Profit erwarten konnte.«

»Das ergibt doch gar keinen Sinn.« Magda verzog das Gesicht. »Das ist ein Widerspruch in sich. Sie hat ihn ermordet, weil sie aufhören wollte, auf illegale Weise Geld zu verdienen, aber auch weil sie wusste, dass sie durch seinen Tod zu noch mehr Geld kommen würde? Mord ist auch nicht gerade legal.«

Aber Rachel war störrisch, und in diesem Moment brauchte sie eine Schurkin, die Edgars Schurkentum in den Schatten gestellt hätte. »Dadurch wird aber ihre Reaktion bei der Testamentseröffnung verständlich.« Während sie die Puzzleteilchen zusammensetzte, wurde ihre Stimme lebhafter. »Deswegen war sie so seltsam überrascht. Erinner dich, ich sagte, dass sie so aussah, als ob sie eine Empfindung, die sie tatsächlich hatte, übertriebe. Erwartet hatte sie eine Erbschaft – aber dann erwies sie sich als größer, als sie sich je hätte erhoffen können.«

»Edgar erwähnt, dass er sie in seinem Testament bedacht hat, aber nicht, mit wie viel, und wegen dieser unbekannten Summe ist sie bereit, ein gesichertes regelmäßiges Einkommen aufzugeben, indem sie ihn umbringt?« Magdas Ton deutete an, was sie von dieser Theorie hielt.

»Du hattest gedacht, Catherine Nadeau würde wegen siebeneinhalbtausend Euro töten! Und dazu kommen noch«, Rachels Stimme nahm einen triumphierenden Klang an, »Schuldgefühle! Aus ihrem Verhalten während unseres damaligen Gesprächs in der Bibliothek ging klar hervor, dass sie sich wegen der ganzen Sache schuldig fühlte. Schuldgefühle und Habgier!«

»Nein.« Magda schüttelte den Kopf. »Das glaub ich nicht. Das da«, sie deutete auf die Papiere, »scheint mir ein guter Grund für sie zu sein, ihn gerade nicht zu töten. Solange er am

»Mathilde!«

»Ja. Sie kannte das Haus, und es gibt keinen rechten Grund, warum sie nicht durch die Hintertür hätte hereinkommen können. Du glaubst nur, dass sie es nicht getan hat, weil es ›ihr nicht ähnlich sähe‹.« Rachel knirschte mit den Zähnen; Magdas Ton ärgerte sie ebenso sehr wie die Richtigkeit ihrer Beobachtung. Magda fuhr fort: »Dass Elisabeth das bureau durchwühlt, zeigt, warum sie ihn nie getötet hätte. Jetzt, wo er tot ist, kann sie nicht mit Sicherheit wissen, ob es nicht noch irgendwelche Spuren ihrer gemeinsamen Machenschaften gibt. Sie mag jetzt um zwanzigtausend Euro reicher sein, aber sie hat auch erheblich mehr Sorgen und potenzielle Schwierigkeiten am Hals. Während Mathilde …« Sie hob die Augenbrauen. »Wir sind uns beide einig, dass sie eiskalt ist. Kiki hat dir gesagt, dass sie außerdem habgierig und stolz war. Du hast mir gesagt, dass Edgar ihr mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit vom Inhalt seines Testaments erzählt hatte. Wenn sie wusste, was darin stand, wer weiß, was sie aus Rache nicht alles getan haben könnte? Und Habgier. Rache und Habgier!«

»Wenn. Wenn, wenn.« Insgeheim dachte Rachel, dass Magda ein paar gute Argumente vorgebracht hatte, aber sie war nicht bereit, ihre Verdächtige aufzugeben, solange es noch Indizien gab, die ihre Theorie stützten. »Und was ist mit dem Rosé?«

»Was ist damit?«

»Wir wissen, dass Elisabeth diejenige war, für die Edgar den Wein immer im Haus hatte, und wir wissen, dass er auf dem Tisch stand, als Edgar aufgefunden wurde. Jetzt, wo sie nicht mehr in der Wohnung zu Abend isst, ist auch keiner mehr da.

»Was?« Magdas Stimme kippte bei dem Wort um. »Abwesenheit beweist überhaupt nichts. Schön, Catherine trank Rosé. Aber Mathilde trinkt ihn ebenfalls! Und David hat dir erzählt, dass sie weiterhin immer wieder mal zu Besuch kam! Hinzu kommt«, sagte sie jetzt ruhiger, »dass Elisabeth nach deiner Beschreibung eine halbe Portion ist – und dazu ängstlich. Wäre sie imstande gewesen, Catherine aus dem Fenster zu werfen oder sie auch nur zu schubsen?« Die Frage hing noch in der Luft, als Magda ihre Trumpfkarte auf den Tisch knallte: »Während Mathilde …«

Selbst unvollendet klang der Satz überzeugend. Rachel verschränkte die Arme in trotziger Wut; Magda tat das Gleiche in zufriedenem Triumph. Sie starrten sich über den Tisch hinweg an.

Rachel gab als Erste nach. »Schön. Da ist was dran. Also, was sollten wir deiner Meinung nach tun?«

Magda überlegte. »Ich weiß es nicht«, sagte sie schließlich. »Was meinst du, was wir tun sollten?«

Alan brachte sich durch ein Räuspern wieder in Erinnerung. »Ihr solltet zur Polizei gehen.«

Sie drehten sich nach ihm um.

»Unmöglich«, sagte Rachel.

»Wir haben immer noch nicht genug konkrete Beweise«, sagte Magda. »Wir sind erst noch dabei, uns ein Bild zu machen.«

»Aber sicher.« Er nickte freundlich. »Und vermutlich würdet ihr die Möglichkeit, dass das Fehlen stichhaltiger, konkreter Beweise dafür sprechen könnte, dass Edgar schlicht an einem Herzinfarkt gestorben ist, nicht in Betracht ziehen?«

»Nein!«, sagten sie unisono, in entschiedenem Ton.

»Und das, obwohl ihr momentan nichts anderes in der Hand

»Ich weiß, dass er ermordet wurde«, erklärte Rachel im selben Augenblick wie Magda »Er hasste Rosé« sagte.

Alan seufzte durch die Nase. Um ihn abzulenken, legte Rachel die Hand auf den Stapel Ausdrucke. »Aber was wirst du unternehmen? Wegen der Sache hier?«

Er zuckte die Achseln. »Nichts. Ich kann nichts unternehmen.« Dann, nach einer Pause: »Manchmal schafft man es, Dinge herauszufinden, die man eigentlich nicht herausfinden dürfte. Also wissen nur wir davon.« Noch eine Pause. »Beziehungsweise wisst ihr.«

Rachel nickte. Sie saßen alle noch einen Augenblick so da, dann stand Magda auf und verabschiedete sich.