Später lag Rachel im Dunkeln im Bett. Neben ihr schlief Alan, gleichmäßig atmend, den Schlaf des Gerechten, der gerade geliebt worden war. Sie war hellwach.
Edgar war ein Wirtschaftskrimineller gewesen. Edgar! Mit einfachen Worten und ungeschönt gesagt, war er ein Dieb gewesen.
Sie schätzte es überhaupt nicht zu weinen, während sie auf dem Rücken lag. Die Tränen rannen widernatürlich in Richtung der Ohren, und wenn sie versuchte, mit der Nase hochzuziehen, klappte das nicht; der Schleimpfropf verschob sich lediglich ein bisschen weiter nach innen und verstopfte die Nase nur noch mehr. Aber wenn sie sich aufsetzte, würde Alan aufwachen – das war immer so, sobald sie eine größere Bewegung machte. Also blieb sie liegen und litt: erstens überhaupt und zweitens, weil’s ihr so schlecht ging.
Edgar der Dieb. Korrektur: Edgar der Kleinganove. Das war schlimmer; »geringfügiger Diebstahl« klang so jämmerlich. Sie spürte, wie zwei Tränen sich von ihren Augenwinkeln lösten und links und rechts ihre Abwärtsreise antraten. Katzenliebhaber, Bücherliebhaber, kultivierter älterer Liebhaber, und das war er in Wahrheit gewesen: ein … Kleinganove. Sie schniefte leise. War er das von Anfang an gewesen, und sie hatte es nur nicht mitbekommen? War sie eine so schlechte Menschenkennerin?
Sie erinnerte sich an ihre Empfindungen, als sie durch Edgars Wohnung gewandert war und die luxuriösen öffentlichen und privaten Räume und dann den sterilen Rest gesehen hatte, die Einöde des Kühlschranks. Vielleicht hatten die heutigen Offenbarungen sie nur deswegen überrascht, weil sie zu feige gewesen war, sich schon früher einzugestehen, was sie längst gewusst hatte: dass ihre erste große Liebe zu einem seichten Plutokraten geworden war. Sie zog die Nase hoch.
Aber Moment mal. Sie wischte sich mit den Handballen die Tränen von den Schläfen. Dass er ein Dieb gewesen war, traf auf diese bestimmte Tat zu, keine Frage, aber war es die ganze Wahrheit über ihn? Er war ein Katzenliebhaber gewesen, er war ein Bücherliebhaber gewesen, er war ein kultivierter älterer Liebhaber gewesen, und er war ein kultivierter Mann gewesen, Punkt. Er hatte sie geliebt, dessen war sie sich sicher, und als er sie verließ, hatte er das mit Zartgefühl getan. Vielleicht war mit seinem Einkommen auch seine Habgier gewachsen, aber das bedeutete noch lange nicht, dass von ihm nur noch diese Habgier geblieben wäre. Als Elisabeth in der Bibliothek den Tränen nahe gewesen war, hatte das nicht dem Verlust von Edgars monatlichen Überweisungen oder, umgekehrt, dem plötzlichen Geldregen gegolten: Sie hatte den Verlust des Mannes betrauert, der mit ihr wie ein Freund gesprochen hatte, der sich für ihr Leben und ihre Person interessiert hatte. Und zwar hatte er ihr durch das Erbe möglicherweise wirklich etwas wie ein postmortales Schweigegeld gezahlt (möglicherweise, betonte Rachel noch einmal), aber Mathilde hatte er Geld lediglich als Zeichen des Dankes, in Anerkennung ihres Wertes hinterlassen. Selbst die pathologisch verschwenderische Catherine hatte er in seinem Testament bedacht, und die Bitte, die er an Rachel gerichtet hatte, da war sie sich sicher, war dem aufrichtigen Wunsch entsprungen, einer bibliophil verwandten Seele eine Freude zu machen. Und seine Straftat war so schlimm ja gar nicht gewesen; sie schien durch die Liebe und Aufmerksamkeit, die aus seinen sonstigen Handlungen sprachen, wirklich aufgewogen zu werden. Plötzlich erinnerte sie sich an das Gefühl seiner Hand an ihrem Rücken, die sie durch einen Raum voller Leute lotste. Diese Hand hatte Anteilnahme und Fürsorglichkeit bewiesen, eine Wärme, die nicht nur physischer Natur war. Ja, sie wusste, dass auch Kriminelle herzlich und fürsorglich sein konnten – sie erinnerte sich an den alten Spruch, dass jeder Dieb sein Mütterlein liebte –, aber das war doch wohl der schlagende Beweis dafür, dass kein Verbrecher ausschließlich Verbrecher war, dass jeder Kriminelle auch ein Individuum war, vielschichtig und menschlich.
Ach, Menschen!, dachte sie. Warum müssen sie nur so kompliziert sein? Warum musste es so sein, dass jede Beziehung, jedes noch so detaillierte Bild, das man von einem anderen gewonnen hatte, irgendwann Korrekturen erforderte? Warum gehörten zu jedem Individuum nur so viele Schichten? Und da es doch immer so war, warum überraschte es einen dann jedes Mal wieder?
Aber sie war müde und hatte für eine Nacht schon genug gewichtige Gedanken gewälzt. Morgen würde sie mit Elisabeth reden und sehen, was dabei herauskam. Sie rollte sich auf die Seite, zog einmal kräftig, befreiend die Nase hoch und schmiegte sich an Alans warmen Rücken. Sie legte den Arm um ihn und glitt in den Schlaf.