Der nächste Tag brachte Sonne, eine Ahnung von Wärme und insgesamt das Gefühl, dass der Februar möglicherweise doch einmal enden würde. Was er nicht brachte, war Elisabeth.
Den ganzen Vormittag über hielt Rachel ein Ohr gespitzt, konzentriert auf ihre Ankunft, durch die Wohnungs- oder (würde das Schicksal so gütig sein?) die Hintertür. Endlich, als Fulke ihr schon den Mantel hinhielt und sie zum Aufbruch bereit war, sagte sie: »Fulke, ich habe mich gefragt, ob Mademoiselle des Troyes sich wohl von ihrem Schnupfen erholt hat.« Dürftig, dachte sie, aber es musste als Einleitung genügen. »Glauben Sie, ich kann sie sprechen, bevor ich gehe?«
»Mademoiselle Elisabeth ist heute nicht gekommen.« Er sprach hinter ihrem Kopf.
»Ach?« Sie behielt den beiläufigen Ton bei. »Ist sie noch krank?«
»Ich weiß es nicht, Madame.« Er ließ den Mantel auf ihre Schultern gleiten und trat einen Schritt zurück. »Sie hat sich nicht gemeldet.«
Etwas an der Art, wie er es sagte, ließ sie aufmerken. »Seit wann?«
»Seit sie letzte Woche erkrankt ist.« Er sagte es ohne eine hörbare Spur von Ironie. »Ich habe angenommen, sie sei zu geschwächt, um anzurufen.«
Rachel drehte sich nach ihm um. »Sie ist seit fünf Tagen nicht mehr hier gewesen?«
»Sechs«, korrigierte Fulke sie sanft. »Sieben, wenn man heute mitrechnet.«
Sobald sie auf der Straße war, rief sie Magda an. »Elisabeth ist seit einer Woche nicht mehr in Edgars Wohnung gewesen.«
»Einer Woche!«
»Das habe ich von Fulke.« Rachel spürte, wie der Wind ihre Haare nach vorn zerrte. Sie streifte sie zurück und drückte das Handy fester ans Ohr.
»Du glaubst doch nicht etwa …«
In dieser Pause hörte Rachel alle ihre eigenen Gedanken: Du glaubst doch nicht etwa, dass ich mich geirrt habe und sie jetzt eine flüchtige Mörderin ist, oder? Oder dass ich recht hatte und ihr jetzt etwas zugestoßen ist? Du glaubst doch nicht etwa, dass der wahre Mörder ihr etwas angetan hat?
»Nein, nein«, erwiderte Rachel auf all diese unausgesprochenen Befürchtungen. »Nein, ganz bestimmt nicht.« Verheißung von Wärme schön und gut, aber Herrgott war der Wind kalt!
»Aber was machen wir jetzt?«
Ja. Was machen wir jetzt?, dachte Rachel. Was machst du, wenn eine deiner Hauptverdächtigen seit sechs Tagen nicht mehr gesichtet worden ist? Wenn eine deiner Hauptverdächtigen gerade dabei sein könnte, zu deinem dritten Opfer zu mutieren? »Wir gehen zu ihr.«
»Wir wissen doch gar nicht, wo sie wohnt«, wandte Magda ein.
Rachel spürte, wie der Wind ihre Beine geißelte, und bereute ihren Entschluss, einen Rock anzuziehen. »Stimmt«, sagte sie und verbannte die Frage, wie genau Frostbeulen eigentlich aussahen, aus ihrem Bewusstsein, »aber das lässt sich herausfinden.«
***
»Das ist nicht. Wie ich mir. Meine Mittagspause. Vorgestellt. Habe.«
Sie waren auf der vierten Treppe eines fünfstöckigen Hauses im XI. Arrondissement, und Alans Worte kamen in kurzen Stößen. Als sie den nächsten Absatz erreichten, blieb er stehen und stützte sich auf das Geländer.
»Privatdetektiv!«, schnaufte er. »Nicht mal als kleiner Junge wollte ich das später mal werden.«
Rachel zuckte die Achseln. »Wenn du einfach nur die Adresse herausgerückt hättest, statt darauf zu bestehen mitzukommen, wär dir das erspart geblieben.«
Endlich erreichten sie den fünften Stock, einen langen Flur, von dem eine Unzahl von Zimmerchen abging. Hundert Jahre früher waren das chambres des bonnes gewesen, kaum mehr als Zellen, in die sich die Dienstmädchen des Hauses gequetscht hatten. Mittlerweile, wusste Rachel, war die Hälfte von ihnen in Küchen umgewandelt worden, und die andere Hälfte diente als erschwingliche Zimmer für Studierende, Arbeiter und gelegentlich auch für alleinstehende Freiberufler, die Geld zu sparen versuchten. Und da das hier Paris war, wusste sie außerdem, dass die Eigentümer dieser Einzimmerwohnungen weder für Heizung noch für Kühlung gesorgt hatten. Im Winter war es drinnen eiskalt; im Sommer ging man hingegen vor Hitze ein. Und die eigenmächtigen Maßnahmen, die die Mieter dagegen trafen, erhöhten die Brandgefahr auf ein Level, das sie sich gar nicht erst vorstellen mochte. Wieder einmal war sie dankbar dafür, dass sie keine Geldsorgen hatte.
Ihre Schritte hallten auf den Dielen, während sie auf der Suche nach Nummer 27, Elisabeths Zimmer, den Flur entlanggingen. Es war ganz am Ende. Rachel sah, dass es eigentlich zwei Zimmer waren, die man zu einem doppelt so großen zusammengelegt hatte. Die weiße Metalltür wirkte gleichzeitig rein und verletzlich, obwohl Rachel wusste, dass das nur ihre eigene Projektion war. Sie drückte auf den Klingelknopf.
Keiner machte auf. Sie drückte noch einmal, und als wieder nichts passierte, hämmerte sie mit der Faust gegen die Tür. Nichts.
»Was machen wir jetzt?«, flüsterte Magda.
»Ich weiß nicht.« Rachel dachte nicht daran, leiser als normal zu sprechen. »Ich weiß nicht, was wir überhaupt machen können.«
»Was, wenn sie da ist?«
»Sie macht nicht auf, was dafür spricht, dass sie nicht da ist«, gab Alan zu bedenken.
Aber irgendetwas an dem langen Flur und seiner hallenden Luft hatte Magdas Nerven blankgelegt. Sie klammerte sich an Rachels Arm und zischte: »Was, wenn sie da ist und tot ist?«
»Da drin ist keiner tot!« Rachel schüttelte ihre Hand ab. Dann erbarmte sie sich; die Kälte und die Stille erzeugten wirklich eine unheimliche Atmosphäre. Sie klopfte Magda beruhigend auf den Arm. »Aber sollte da wirklich ein Mörder auf der Lauer liegen, würde ich dich retten, versprochen.«
Plötzlich erschien auf der Treppe ein dunkelhaariges Mädchen in Jeans und Caban. Ohne von ihrem Smartphone aufzusehen, kam sie den Flur entlang auf sie zu, während ihre linke Hand in der Tasche nach dem Schlüssel kramte. Ihre Beine schienen die Entfernung bis zu ihrer Wohnungstür motorisch auswendig zu kennen, denn sie sah nicht einmal dann von ihrem Gerät auf, als sie, etwa drei Meter von ihnen entfernt, stehenblieb. Wahrscheinlich hätte sie sie überhaupt nicht bemerkt, wenn ihr Schlüssel nicht, statt sein Ziel zu finden, vergeblich am Türbeschlag geschrappt hätte. Derart ausgebremst blickte die junge Frau auf und nahm wohl aus dem Augenwinkel ihre Silhouetten wahr. Sie machte einen Satz, ließ die Hand mit dem Schlüssel fallen und wandte sich ihnen zu. »Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
Rachel und Magda erstarrten, aber Alan bewahrte einen kühlen Kopf. Er trat einen Schritt vor. »Bonjour, Mademoiselle. Ich bin Monsieur Field, von der CorBank USA, und das sind meine … Kolleginnen, Madame Levis und Madame Stevens. Wir wollten zu Mademoiselle des Troyes.« Er hielt ihr eine seiner Geschäftskarten hin. Das Mädchen nahm sie ihm ab, warf einen Blick darauf, dann auf die drei und wieder zurück. Vielleicht lag es an der Visitenkarte oder vielleicht an der Tatsache, dass man Kriminelle eher nicht in Gruppen aus einem Mann und zwei Frauen vermutet, jedenfalls entspannte sie sich und nickte einen Gruß.
»Sie ist nicht da.«
»Nicht da?«, sagte Rachel. »Ist sie heute überhaupt schon da gewesen?«
»Heute?« Das Mädchen stieß ein nüchternes Lachen aus. »Sie ist seit letzter Woche nicht mehr da gewesen.«
»Haben Sie sie weggehen sehen?« Magda kam ein Schrittchen nach vorn, sodass sie besser sah und zu sehen war.
»Nein. Aber ich weiß, dass sie nicht zu Hause ist, weil ich ständig ihr Handy klingeln höre, und keiner nimmt ab.«
Rachel japste: »Sie hat ihr Handy liegenlassen?«
Das Mädchen bekam einen zweifelnden Blick. »Warum genau sind Sie eigentlich hier?«
»Wir haben einen Scheck für Mademoiselle des Troyes«, sagte Alan geschmeidig. »Wie Sie möglicherweise wissen, hat sie kürzlich einen größeren Betrag geerbt, und sie bat um möglichst baldige Auszahlung. Wir haben versucht, sie zu kontaktieren, damit sie zu dem Zweck persönlich vorbeikäme.« Mit einer sparsamen Geste in Richtung der geschlossenen Tür gab er zu verstehen, dass sich ihre zahlreichen Sprachnachrichten im dort liegengelassenen Handy befinden mussten. »Und jetzt, da es Freitag ist und wir annehmen, dass sie das Geld dringend benötigt, sind wir hergekommen, um es ihr zu übergeben.«
Rachel war baff, als sie feststellen musste, dass auch ihr Mann, wie ein wahrer Detektiv, um keine Lüge verlegen war.
Überraschenderweise befriedigte diese Geschichte das Mädchen. »Ich kann Ihnen nur so viel sagen, dass sie nicht da ist. Haben Sie versucht, den Scheck unter der Tür durchzuschieben?«
Alan machte ein empörtes Gesicht. Er bekam sichtlich Geschmack an seiner Rolle. »Mademoiselle, wir sind eine Bank, nicht die Frau Mama, die kurz vorbeischaut! Wir können Schecks unmöglich unter Türen durchschieben!« Er schüttelte bekümmert den Kopf. »Ach, na ja, wir werden es einfach weiter versuchen müssen. Haben Sie vielen herzlichen Dank.«
»Danke«, echoten Rachel und Magda. Während sie den Flur entlang zur Treppe zurück pilgerten, hörten sie, wie das Mädchen seine Tür aufschloss.
Sobald die porte d’entrée hinter ihnen ins Schloss gefallen war, blieb Magda abrupt stehen. »Sie ist nicht da drin«, sagte sie, als ob die beiden anderen nicht die ganze Zeit neben ihr gestanden hätten. »Sie ist seit einer Woche nicht mehr da gewesen.«
»Und ihr Handy ist noch da«, fügte Rachel hinzu.
»Junge Leute gehen nirgendwohin ohne ihr Handy«, sagte Magda. »Ihr habt das Mädchen eben gesehen; ohne ihr Ding könnte sie keinen Schritt tun.«
»Vielleicht hat Elisabeth ja ihres vergessen?« Rachel gab sich optimistisch, aber selbst in ihren Ohren klang die Idee wenig glaubwürdig.
»Oder es ist ihr aus einer ihrer Reisetaschen gefallen, als sie sie beim Hinausgehen aufgehoben hat?« Magdas Versuch war nicht minder dürftig. Sie sahen sich an.
»Ich weiß nicht …«, sagte Magda.
»Ich kann nicht …«, sagte Rachel.
Sie verstummten beide, und dann sprach Rachel. »Was sollen wir machen?«
Alan sagte: »Ihr solltet zur Polizei gehen.«
Diesmal mussten sie ihm recht geben.
***
Sie saßen im Commissariat de Police auf der Rue de Vaugirard. Es hatte einige Überzeugungsarbeit gekostet, aber Alan war zu guter Letzt doch wieder ins Büro zurückgekehrt. Dann hatten Rachel und Magda die nächstgelegene Polizeidienststelle gesucht und waren hier gelandet. Sie hatten einem jungen gardien de la paix, dessen Adamsapfel wie der Druckknopf am Stiel eines Regenschirms hervorragte, ihr Anliegen vorgetragen, worauf er einen geringfügig weniger jungen brigadier hinzugerufen hatte, der sich ihnen gegenüber gesetzt und ihre Geschichte aufmerksam angehört hatte. Jetzt war der brigadier in den Tiefen des Gebäudes verschwunden, und sie saßen allein unter den flimmernden Neonröhren des Empfangsbereichs.
Dies war eindeutig kein Ort schimmernder Nussholzmöbel und schicker Empfangsdamen, sinnierte Rachel. Sie saßen auf zwei Exemplaren dieser bei Behörden so beliebten kuriosen Stahlrohrstühle, die so konzipiert waren, dass man sie unweigerlich mit einem steifen Rücken wieder verließ. Die ehemals weiße Zimmerdecke war vom Staub der Jahrzehnte grau, während der einst graue Linoleumfußboden infolge jahrelanger Beanspruchung durch Schuhwerk und herumgeschobene Stühle weiß geworden war. Es gab zwar einen Tisch mit Zeitschriften, aber er bestand aus Spanplatten in rissiger Eichen-Optik, und die Auswahl beschränkte sich auf die Voici und die Oops!
»Glaubst du, es gibt hier einen Kaffeeautomaten?«, fragte sie Magda im Murmelton. Die Umgebung war zu deprimierend für Zimmerlautstärke.
»Du könntest fragen.« Magda neigte den Kopf in Richtung des gardien, der in das vor ihm liegende Register mit der konzentrierten Miene eines Mannes starrte, der viel lieber durchs Internet surfen würde. Rachel schickte sich gerade an aufzustehen, als die Tür zum Gebäudeinneren aufschwang und ein Mann mittleren Alters mit graumeliertem Haar, in offenem Sakko zu Jeans und zerknittertem Hemd erschien. Der brigadier trottete einen halben Schritt hinterher.
»Bonjour, mesdames.« Der ältere Mann streckte die Hand aus. Sie standen auf und schüttelten sie ihm eine nach der anderen. »Ich bin Capitaine Boussicault. Mein Kollege sagte, Sie seien hier wegen eines Mädchens, das seit einer Woche vermisst wird?« Sie nickten. »Bitte folgen Sie mir.«
Er führte sie durch die Tür und ein, zwei gleichermaßen trostlose Korridore entlang, bis sie einen großen Raum voller Schreibtische erreichten; von diesem ging seitlich ein kleinerer Raum mit nur einem Schreibtisch und drei Stühlen ab. Er bedeutete ihnen durch ein Nicken vorauszugehen, und sie zogen im Gänsemarsch in das kleinere Zimmer. Er bot den zwei Frauen die zwei Besucherstühle an, dann schloss er die Tür und setzte sich an den Schreibtisch. Der junge brigadier lehnte sich, die Hände in den Taschen, gegen die hintere Wand, in der Nähe seines Vorgesetzten, aber nicht direkt bei Fuß.
»Alors«, sagte der capitaine. »Ein Mädchen wird vermisst. Schon seit längerem?«
Rachel räusperte sich. »Ja. Elisabeth des Troyes.«
»Bon.« Er zog sich einen Block heran und schrieb darauf mit einem Bleistift, der auf dem Schreibtisch gelegen hatte. »Wie alt ist sie?«
Rachel konnte nur schätzen. »Einundzwanzig?«
»Und eine von Ihnen ist … ihre Mutter?« Er sah fragend von einer zur anderen.
»Oh nein!« Rachel war zu besorgt, um beleidigt zu sein. »Wir sind keine Angehörigen.«
»Sie sind Freundinnen?«
»Nnn-nein …« Rachel hatte nicht das Gefühl, sich mit Fug und Recht als Elisabeths Freundin bezeichnen zu können.
Der capitaine sah sie ratlos an. »Also gut.« Er legte den Bleistift aus der Hand. »Woher kennen Sie dieses Mädchen?«
Was konnte sie sagen?, fragte sich Rachel. Sie war bei meinem ehemaligen Liebhaber angestellt? Sie und mein früherer Lover kollaborierten mit dem Ziel, den französischen Fiskus zu hintergehen? Wie konnte sie ihre Beziehung zu Elisabeth wahrheitsgemäß beschreiben, ohne dass es hirnrissig klang? Sie dachte einen langen Moment nach und wählte ihre Worte mit Bedacht: »Wir sind Nutznießerinnen desselben Nachlasses.«
»Ah.« Das schien er zu akzeptieren, denn er nahm wieder den Bleistift zur Hand und machte sich schreibbereit. »Um wessen Nachlass handelt es sich?«
»Eines gewissen Edgar Bowen.«
»Edgar Bowen!« Wieder legte er den Bleistift nieder und warf dem brigadier, der plötzlich Haltung angenommen hatte, einen Blick zu.
»Sie haben von Edgar Bowen gehört?«
»Madame«, sagte der capitaine mit weltläufiger Stimme, »jeder hier hat von Edgar Bowen gehört. Er ist ›Der Suppenmann‹.« Für einen Augenblick wurde sein Ton vertraulich. »Polizisten haben eine Schwäche für frappante Todesfälle.«
»Komisch, dass Sie das sagen«, begann Rachel, aber Magda unterbrach sie mit einem lautstarken Räuspern.
»Verzeihung.« Magda wedelte mit der Hand. »Die trockene Zimmerluft.« Dann strahlte sie. »Wieder alles in Ordnung.«
Aus dem Konzept gebracht kehrte der Polizist zum Thema zurück. »Bon, Sie wurden also beide in Edgar Bowens Testament bedacht. Und Sie haben sich angefreundet?«
Warum nicht?, dachte Rachel. Es klang plausibel. »Ja.«
»Und Sie bemerkten ihr Verschwinden, weil …?«
»Na ja, zurzeit arbeiten wir beide in Edgar Bowens Wohnung, aber seit einer Woche ist sie nicht mehr erschienen.« Sie fügte hinzu: »Und davor war sie jeden Tag da.«
»Wie sieht sie aus?«
Rachel beschrieb Elisabeth so ausführlich, wie sie konnte, und ging auch auf die verschiedenen Outfits ein, die sie an ihr bislang gesehen hatte. Der capitaine schrieb alles mit.
»Und Sie wollten also nach ihr sehen, aber sie hat nicht aufgemacht?« Obwohl sein Vorgesetzter nicht in seine Richtung sah, nickte der brigadier zur Bestätigung.
»Ja.«
Der capitaine sah von seinen Notizen auf. »Vielleicht ist sie krank.«
»Sie ist nicht krank«, sagte Rachel. »Wir haben geklingelt und gegen die Tür gehämmert, aber niemand hat aufgemacht.«
»Vielleicht war sie einfach nicht zu Hause. Vielleicht – verzeihen Sie«, er hob eine Hand, »möchte sie Sie nicht sehen.«
Magda übernahm das Antworten. »Also, ihre Nachbarin sagt, sie hätte sie seit einer Woche nicht mehr gesehen.«
»Aber es kommt vor, dass Leute – selbst junge Damen – für eine Woche wegfahren. Das ist nicht ungewöhnlich.«
»Aber ihre Nachbarin sagt, sie kann Elisabeths Handy in einem fort klingeln hören, was bedeutet, dass es in ihrem Zimmer sein muss. Und wie viele Einundzwanzigjährige kennen Sie, die aus dem Haus gehen und ihr Handy zurücklassen? Das ist ungewöhnlich.« Magda lehnte sich triumphierend zurück.
Der capitaine sah auf seinen Notizblock, holte tief Luft und legte die Hände vor seinem Kinn zu einer Raute. Eine Sekunde lang starrte er ins Leere; dann ließ er die Luft wieder entweichen. Als er sprach, klang seine Stimme beherrscht. »Verehrte mesdames. Wenn ich Sie richtig verstehe, ist eine volljährige junge Frau, über deren Lebensumstände Sie nur wenig wissen, seit einer Woche von ihrer Nachbarin nicht mehr gesehen worden und scheint ebenso lange ihr Mobiltelefon zu Hause gelassen zu haben. Nun kenne ich diese junge Dame zwar noch nicht mal so gut wie Sie, aber mir scheint kein rechter Grund zur Beunruhigung vorzuliegen. Die junge Dame könnte in den Urlaub gefahren sein und ihr Mobiltelefon vergessen haben, oder es könnte ihr, als sie die Wohnung verließ, aus der Tasche oder einem Gepäckstück gefallen sein.«
»Daran haben wir selbst schon gedacht!«, warf Rachel ein. »Aber dann haben wir auch gedacht …« Doch als sie an Magdas Warnsignal von vorhin dachte, brach sie ab.
»Was haben Sie auch gedacht?« Das Gesicht des capitaines war offen, seine Neugier echt.
Im Zimmer wurde es sehr still. Rachel konnte das Summen des Computerventilators hören und das Geräusch ausmachen, mit dem der brigadier den Stoff seiner Hosentasche zwischen den Fingern rieb. Sie erinnerte sich daran, dass sie gleich am Anfang hatte zur Polizei gehen wollen. Und ebenda waren sie jetzt. Und Elisabeth konnte durchaus in ernsten Schwierigkeiten stecken: Mädchen verschwanden nicht für eine Woche ohne ihr Handy und ohne jemandem ein Wort zu sagen. Machten sie nicht. Sie sah Magda an, deren Augen sie flehentlich anblickten.
»Es ist wegen Edgar«, sagte sie.
Magda atmete in einem Schwall aus.
Der capitaine löste seine Hände aus der Raute und verschränkte sie auf dem Schreibtisch. »Ich höre.« Er musterte sie konzentriert.
»Elisabeth hing sehr an Edgar. Sie arbeiteten eng zusammen. Und wir – wir glauben …« Sie stolperte über die letzten Worte.
Magda seufzte, aber sprach sie für sie aus. »Wir glauben, dass Edgar Bowen ermordet wurde.«
Die Miene des capitaines wechselte von ernst zu verblüfft, von verblüfft zu belustigt. Er bellte ein kurzes Lachen, dann tauschte er einen Blick mit seinem Untergebenen und wandte sich schließlich wieder Magda zu. »Ermordet! Und was verleitet Sie zu dem Schluss, dass ein eindeutiger Unfalltod, der sich ereignete, als das Opfer allein zu Hause war, in Wirklichkeit ein Mord war? Was haben Sie für Beweise?« Er lachte noch einmal.
Rachel war gekränkt. »Wir haben den Wein.« Als sie selbst hörte, wie dünn das klang, ging sie mehr ins Detail. »Da war Rosé. Edgar mochte keinen Rosé. Er hätte ihn nie auf seinem Tisch geduldet.«
»Sie glauben also, Monsieur Bowen wurde ermordet, weil es der falsche Wein war?« Er tauschte einen weiteren belustigten Blick mit dem brigadier. »Wahrhaftig, Madame, Sie haben offenbar schon so lange hier gelebt, dass Sie selbst zur Französin geworden sind!«
Rachel errötete. »Das ist noch nicht alles. Tatsächlich geht es nicht nur um Edgar.« Diesmal brach sie nicht vorzeitig ab. »Wir machen uns auch Sorgen um Elisabeth, weil eine andere Frau, die Edgar nahestand, ums Leben gekommen ist.«
»Ah ja?« Der Ton des capitaines war zwar neutral, aber seine Lippen zuckten. Das Bewusstsein, dass er sie gerade wie ein Kleinkind behandelte, ließ Rachels Wangen glühen, aber sie fuhr unbeirrt fort.
»Catherine Nadeau, Edgars Lebensabschnittsgefährtin. Sie ist gestorben, und in der Zeitungsnotiz über ihren Tod stand, sie habe sich wegen finanzieller Sorgen das Leben genommen. Aber wir hatten sie erst eine Woche vor ihrem Tod gesehen, und sie war bester Laune und sagte uns, sie sei durchaus solvent. Tatsächlich«, sie tat einen sieghaften Atemzug, »hatte sie gerade ihren Laden wiedereröffnet!«
»Ja.« Der capitaine nickte, seine Miene und sein Ton nicht mehr gönnerhaft. »Ich bin ebenfalls über diesen Vorfall unterrichtet. Die Polizei wurde ja eingeschaltet.« Er schnalzte mit der Zunge. »Immer eine schlimme Sache, solche Todesfälle.« Er lehnte sich nach vorn und sah Rachel in die Augen. »Sie wissen natürlich, Madame, dass viele Selbstmörder in den letzten Tagen vor ihrem Tod heiter erscheinen. Sie wissen, dass der Entschluss, dem Ganzen ein Ende zu machen, die plötzliche Gewissheit nach einer langen Periode der Verwirrung, sie häufig aufheitert. Und Sie wissen, dass viele Selbstmorde gerade nach dem Abklingen einer Depression stattfinden, weil die Person davor einfach zu deprimiert ist, um ihren Wunsch in die Tat umsetzen zu können.« Er lehnte sich mitsamt seinem Stuhl zurück und starrte an die Decke, während seine Finger wieder in Rautenstellung gingen. »Und zweifellos haben sie den Umstand bedacht, dass viele Leute, die von sich behaupten, sie seien solvent, das nur tun, um ihr Gesicht zu wahren, und es in Wirklichkeit ganz und gar nicht sind.« Er ließ die Vorderbeine seines Stuhls wieder auf den Fußboden knallen und fixierte Rachel mit ausdrucksloser Miene.
Sie saß stumm da. Sie kniff sich in die Nasenwurzel, drückte auf die zarten Knospen in den inneren Augenwinkeln und starrte stur auf die Wand hinter dem capitaine. Sie wusste, dass es für die zwei Männer so aussehen musste, als sei sie erschöpft oder verlegen oder beides, aber in Wirklichkeit diente die Übung dem Zweck, nicht zu weinen. Sie war in Sorge um Elisabeth, sie war eine schlechte Detektivin, und jetzt machte sich dieser Kerl auch noch einen Spaß daraus, sie zu demütigen. Sie blinzelte krampfhaft, um die Tränen zu unterdrücken.
»Und im Fall Monsieur Bowens«, fuhr der capitaine, jetzt mit ernster Stimme, fort: »Nein, mesdames, es tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen, aber die Polizei hat Nachforschungen angestellt. Es war der freie Abend des Butlers, und bevor er ging, bereitete er für Monsieur Bowens Abendessen eine Vichyssoise zu. Als er spätabends zurückkehrte, ging er direkt hinauf in seine Wohnung, und als er am nächsten Morgen herunterkam, um den Tisch abzuräumen und anschließend für das Frühstück zu decken, fand er Monsieur Bowen. Tot.« Er breitete die Arme aus, die Handflächen emphatisch nach oben gedreht. »Es wurde eine Obduktion durchgeführt und dabei festgestellt, dass er in seiner Suppe ertrunken war! Es gab Spuren davon in seiner Lunge. Und Wein hin oder her, mehr steckte nicht dahinter.«
»Da sind wir anderer Meinung«, sagte Magda kühl.
»Sie können so viel anderer Meinung sein, wie Sie möchten.« Er produzierte jenen übertriebenen Flunsch samt abruptem Luftausstoß, der den typisch französischen Ausdruck von Geringschätzung darstellte. »Aber die Geschichte ist ganz simpel.« Er zeigte ein gleichermaßen herablassendes französisches Achselzucken. »Und jetzt«, im Sprechen stand er vom Schreibtisch auf, »danke ich Ihnen für Ihr Kommen. Ich werde nach dieser jungen Dame suchen, denn auch ich finde die Situation ungewöhnlich. Und wenn Sie am Empfang Ihre Kontaktdaten hinterlassen, werde ich Sie über meine Erkenntnisse informieren.«
Damit, wusste Rachel, versuchte er nur, freundlich zu sein. Aber verzeihen konnte sie ihm deswegen noch lange nicht.
Wie um ihr recht zu geben, fügte er hinzu: »Aber über diesen Unsinn mit Monsieur Bowen verlieren wir kein weiteres Wort. C’est fini.« Er gab ihnen beiden die Hand. »Mein Kollege begleitet Sie hinaus.«
Als sie das Kommissariat endlich hinter sich gelassen hatten, nahm Magda Rachels Hand und drückte sie. Sie sah sie ernst an, und als sie sprach, klang ihre Stimme feierlich. »Weißt du was«, sagte sie gravitätisch, »ich glaube, dieser Jungspund hatte die ganze Zeit die Hände in den Taschen, weil er wegen uns einen Ständer hatte.«
Als sie zur Metrostation Vaugirard hinabstiegen, war Rachel noch immer am Lachen.