Für Rachel schienen der Rest dieses Tages und der Vormittag des nächsten in fingerbreiten Schritten dahinzukriechen, jede einzelne Stunde randvoll mit Fragen zu Elisabeth. Konnte sie vielleicht doch im Urlaub sein? Die Möglichkeit verwarf sie als zu viel des Zufalls: Der Zeitpunkt ihres Verschwindens brachte letzteres eindeutig mit jüngsten Ereignissen in Verbindung. Aber in was für eine? Das war die Frage, die in ihrem Kopf vor sich hin trommelte. War Elisabeth, die Steuerbetrügerin und Mörderin, auf der Flucht? Oder war Elisabeth, die unfreiwillige Helfershelferin und überraschte Erbin, das Opfer eines gnadenlosen Mörders? War das hier Godards Außer Atem oder eine dieser Dokus, in denen das Opfer unter den Dielen verscharrt lag?
Und wie die Stunden vergingen, sah sie sich mit weiteren, komplexeren Fragen konfrontiert. Wenn Elisabeth ein Opfer war, wessen Opfer war sie? Die Pariser nahmen ihre Nachbarn wahr, ja beobachteten sie. Mathilde wäre nie unkommentiert die Treppe zu Elisabeths Wohnung hinaufgekommen; schon allein ihre Kleidung hätte sie zum Gegenstand des Hausklatsches gemacht. Es bestand zwar die theoretische Möglichkeit, dass gerade in dem Augenblick sämtliche Nachbarn und Nachbarinnen woandershin guckten, aber sie musste anerkennen, dass es auch andere Möglichkeiten geben musste. Wer sonst würde Elisabeth aus dem Weg haben wollen? Und Catherine? Wer sonst würde Elisabeth und Catherine aus dem Weg haben wollen? Ihr schwirrte allmählich der Kopf.
Dann, ganz sachte, begann sich ein Gedanke bemerkbar zu machen. Es gab jemand anderen, der all diese Morde verübt haben konnte. Sie und Magda waren von der Annahme ausgegangen, dass Mathildes finanzielle Nöte und verletzter Stolz allem zugrunde liegen mussten, aber jemand anders konnte ebenfalls Geld gebraucht haben. Was, wenn die Person, die sie unter die Lupe nehmen sollten, nicht Mathilde, sondern David wäre?
Wie Magda gesagt hatte, war er derjenige, der von Edgars Tod am meisten profitiert hatte. Catherine hatte ihr erzählt, er sei wegen Mietschulden auf die Straße gesetzt worden; Edgars Tod hatte dieses Problem gelöst. Und der einzige Besucher, an den sich Catherines Nachbar erinnert hatte, war ein dunkelhaariger Mann gewesen. Sie waren von Edgar ausgegangen, aber Rachel wurde bewusst, dass sie nicht nachgefragt hatten, ob der Nachbar diesen Mann vor oder nach Edgars Tod gesehen hatte. Catherine konnte David wegen irgendeines Patzers in der Hand gehabt und erpresst haben, und er konnte ohne weiteres ihr Besucher gewesen sein, der sie aufsuchte, um sein Blutgeld zu zahlen oder um sie … Rachel schluckte. David war jung genug, um bei Catherines Nachbarschaft nicht allzu viel Aufmerksamkeit zu erregen. Er hätte leicht für jemandes Freund oder einen neuen Mieter gehalten werden können. Tatsächlich, ging ihr plötzlich auf, konnte auch Elisabeth ihn erpresst haben – wer wusste schon, was sie in Edgars Papieren nicht alles zutage gefördert oder was David selbst aus Unachtsamkeit über sich verraten haben konnte? Schließlich sahen sie sich tagtäglich in der Wohnung.
Was, flüsterte eine bohrende Stimme, wenn Magda recht hatte?
Aber es gibt gewisse Dinge, vor denen die Vorstellungskraft, selbst die Vorstellungskraft einer geborenen Detektivin, zurückschreckt. Das Kleinkind, das Rachel gekannt hatte, das seine Händchen emporstreckte, wenn es zu müde war, um weiterzulaufen, dessen Gesichtchen vor Verzückung leuchtete, wenn sein Vater ihm eine Gutenachtgeschichte vorlas – dieses Kleinkind konnte diesen Vater nicht getötet haben. Und hatte Catherine nicht lediglich Desinteresse gezeigt, als Rachel von David gesprochen hatte? Wenn sie ihn erpresst hätte, dann wäre doch wohl eine etwas heftigere Reaktion auf seinen Namen zu erwarten gewesen! Gut argumentiert, Levis, lobte sie sich selbst. Über die zynisch bohrende Stimme konnte sie nur lachen – die kannte David nicht so gut wie sie!
Unterstützt wurde sie beim Ziehen dieses Schlussstrichs durch ihr Mobiltelefon, das sich mit dem »Imperial March« aus Star Wars meldete: Magda. Sie wischte über das Display. »Hallo?«
»Sollen wir uns erst Kleider ansehen und anschließend essen gehen oder lieber umgekehrt? Allerdings könnte vorher besser sein, wenn wir einen flachen Bauch haben wollen.«
Rachel hatte keine Ahnung, wovon sie da redete. Was denn essen? Was für Kleider?
»Ach, erzähl mir bloß nicht, du hast es vergessen. Du kannst es nicht vergessen haben!«
Da fiel es ihr siedend heiß wieder ein: Sie wollten sich Kleider für den Bal Rouge kaufen. Magda hatte eine Einladung als Benoîts Gast bekommen, und sie hatten beschlossen, als Draufgabe zum Shoppen auch noch zusammen essen zu gehen. »Ich hab’s nicht vergessen«, sagte sie. »Wir gehen Kleider shoppen für den bal.« Sie blähte die Nasenflügel. Es war ihr völlig entfallen, dass die Wohltätigkeitsgala an diesem Wochenende stieg. Mit einem Blick auf ihre bücher-bestoßenen Nägel fragte sie sich, ob sie vor dem großen Event auch noch eine Maniküre einschieben konnte.
»Fangen wir in den Galeries Lafayette an!« Magda platzte förmlich vor Begeisterung.
Nach ihrem ersten Besuch hatte sich Rachels Vorfreude auf den bal immer sehr in Grenzen gehalten. Es bereitete ihr kein sonderliches Vergnügen, sich Darbietungen von Opéra-Elevinnen und Vorträge von Titanen der internationalen Finanz anzuhören und sich dabei die ganze Zeit zu wünschen, es wäre nicht unhöflich, um ein zweites Dessert oder ein größeres Glas Champagner zu bitten. Aber wie die meisten Dinge strahlte der bal aus der Ferne weitaus heller, und jahrelang hatte Magda ihre Schilderungen am Morgen danach gierig verschlungen. Jetzt würde sie endlich selbst daran teilnehmen, und ihre Vorfreude darauf war schwindelerregend.
»Galeries Lafayette wäre perfekt.« Rachel sagte sich, dass die Vorbereitungen für die Gala sie zumindest, wenn schon nichts anderes, von Grübeleien über Elisabeth und damit einhergehenden quälenden Fragen ablenken würden. »Wir treffen uns dort in zwei Stunden.«