»Ach, du hast mir ja nie erzählt, dass alle so gut aussehen!«

Anders als Rachel fand Magda Le Bal Rouge selbst aus nächster Nähe hochgradig unterhaltsam. Rachel unterdrückte einen leichten Anflug von Gereiztheit; Magdas Positivität war lange Zeit eine ihrer nervigeren Eigenschaften gewesen. Zweifellos würde sie die musikalischen Darbietungen genießen und sich mit einem einzigen Dessert zufriedengeben, und Rachel würde das Ganze mit einem aufgesetzten Lächeln angeblich geteilten Vergnügens aussitzen müssen.

Allerdings musste sie zugeben, dass wirklich alle gut aussahen. Das Einzige, was einem Mann besser stand als ein eleganter Anzug, war ein Smoking, und dieser Saal wimmelte schier von James Bonds. Die Frauen waren ebenso elegant, und die leuchtenden Farben ihrer Abendkleider strahlten um die Wette. Dem Saal entstieg ein gedämpftes Stimmengewirr wie das Summen zufriedener Bienen.

Sie betrachtete ihr eigenes Quartett. Alan sah immer gut aus, aber von einer weißen Hemdbrust und Manschettenknöpfen zur Geltung gebracht, strahlten seine blauen Augen regelrecht, während Benoîts geschliffene Eleganz Formalität ausstrahlte. Magda schimmerte in einem kastanienbraunen Taft, der das perfekte Komplement ihres warmen Hauttons darstellte. Selbst Rachel hatte es geschafft, ein durchaus passables marineblaues Kleid zu finden, auch wenn das dazugehörige verstärkte Korsett sehr wenig Spielraum für das Diner ließ.

»Nicht übel für eine Gruppe von Leuten, die zum Frühstück

Das Diner war leider genau so, wie sie es in Erinnerung hatte: untadelig, aber nicht Aufsehen erregend. Zum Dessert gab es Pochierte-Birnen-Tarte mit einer Kardamom-Coulis: eher ungewöhnlich als delikat (sie aß sie trotzdem, und Alans Portion dazu). Das Unterhaltungsprogramm war zermürbend. Als ein Lehrmädchen der Pariser Oper Brünnhildes Schlussgesang aus dem dritten Aufzug der Götterdämmerung anstimmte, widmete sich Rachel lieber ihren Gedanken zu Elisabeth. Konnte es sein, dass sie wirklich völlig unversehrt irgendwo anders war, wie der capitaine gemutmaßt hatte? Aber wenn es so war, warum hatte Rachel dann so ein böses Gefühl? Hatte die unheimliche Atmosphäre in Elisabeths Treppenhausflur sie unnötig argwöhnisch gemacht? Aber selbst dann blieb doch die Tatsache, dass Elisabeth seit über einer Woche nicht mehr gesehen worden war, und Einundzwanzigjährige waren wirklich fast festgewachsen an ihren Handys. Rachel biss in ihren Daumennagel und wünschte sich, die Sängerin könnte einfach mal still sein und sie nachdenken lassen. Um sich sowohl vom Lärm als auch von ihren eigenen sinnlosen Sorgen abzulenken, betrachtete sie Magda, deren Gesicht vor Entzücken strahlte.

Aber selbst Magdas offensichtliches Vergnügen gab ihr nicht die Kraft, den nächsten Programmpunkt auszusitzen, eine wohlbekannte Pantomime-Nummer, in der die Künstlerin ein Haus baute, das, wie sich am Ende herausstellte, keine Tür hatte. Mit der Ausrede, sich die Nase pudern zu müssen,

Dieses Jahr wurde der bal in einer dieser gigantischen ehemaligen résidences abgehalten, die den Franzosen immer so wunderbar gelingen, einem ganz in Marmor, vergoldetem Stuck und dickem Teppichboden gehaltenen und zu einem Veranstaltungsort umgebauten hôtel particulier. Das Mezzanin wies einen Kreis von kleinen Balkonen auf, die jeweils von zwei aus einer rosafarbenen Balustrade aufsteigenden, gleichfalls rosafarbenen Marmorsäulen flankiert wurden, und die den Ausblick gleichermaßen nach oben hin auf das Deckenfresko mit Putten in hauchdünnen Flattertüchern wie nach unten hin auf das Gewirr von kunstvoll verschlungenen Ranken des Mosaikfußbodens freigaben. Sie stellte sich auf einen dieser Balkone, und schon wieder begannen Gedanken an Elisabeth an die Oberfläche ihres Geistes zu perlen. Behutsam verschob sie die Verstärkung ihres Oberteils, die sich in ihre Taille bohrte. Vielleicht wäre ein Dessert doch ausreichend gewesen. Als ihr aufging, dass sich, sobald die Pantomimin fertig wäre, vor der Damentoilette eine Schlange bilden würde, beschloss sie, ihre Ausrede wahrzumachen und die Räumlichkeiten schon jetzt aufzusuchen.

Sie drehte sich um und stieß um ein Haar mit Mathilde zusammen.

»Rachel! Ich hatte schon gedacht, dass Sie das sind.« Die ältere Frau stand unbewegt da, so kerzengerade wie eh und je. Sie trug ein langes schwarzes Abendkleid – von Chanel, wie Rachel erkannte –, das abgesehen von einem Ledergürtel bar jeglicher Accessoires war, und ihr seidiges Silberhaar war in der Mitte gescheitelt und zu einem tief sitzenden Chignon geknotet. Sie lächelte frostig.

»Bonsoir, Mathilde.« Rachel versuchte, genauso cool wie die

»Natürlich nicht.« Mathilde brachte durch ein Achselzucken zum Ausdruck, dass die bloße Vorstellung, sie könnte an einem solchen Event teilnehmen, lächerlich war. »Aber ein alter Freund bat mich, ihn zu begleiten, und ich wollte nicht nein sagen. Und ich habe schon schlimmere Abende verbracht. Obwohl«, sie deutete mit einem Kopfruck auf die Türen hinter ihnen, »diese Frau …! Ich habe den Reiz von derlei feinsinnigem Unsinn nie nachvollziehen können.«

Rachel entspannte sich ein wenig. »Ich weiß, was Sie meinen. Aus nichts nichts bauen … Also, wenn sie auf der Bühne wirklich ein Haus baute, dafür würde es sich schon lohnen zu bleiben.«

Mathilde schnaubte beifällig. »Ja. Und vielleicht alle Ziegelsteine und den Mörtel aus ihrem Trikot hervorzauberte.«

»Natürlich.« Rachel hob eine Augenbraue und senkte das Kinn. »In Frankreich bestünde das eigentliche Kunststück darin, Maurer zu finden, die es bauen, ohne zwischendurch ein paarmal zu streiken.«

Diesmal lachte Mathilde wirklich. Sie musterte Rachel mit einem nachdenklichen Blick, den Rachel noch nie an ihr gesehen hatte, dann stellte sie sich neben sie, nah genug, um leise sprechen zu können und dennoch verstanden zu werden. Rachel konnte ihren Atem an ihrer Wange spüren. »Sagen Sie«, sagte sie leise, »Sie kennen doch dieses Mädchen, Elisabeth, Edgars kleine aide

Rachel fühlte sich von diesem unvermittelten Wechsel ins Vertrauliche überrumpelt. Offenbar pflasterte geteilte Geringschätzung den Weg zu Mathildes Herz. Sie schluckte mühsam, nickte. »Ja. Ja, ich erinnere mich an sie.«

Mathildes Stimme blieb gedämpft. »Anscheinend ist sie verschwunden.« Sie hielt inne, um die Wirkung ihrer Worte

Rachel schluckte erneut. Was war die korrekte Erwiderung auf diese unerbetene Enthüllung, auf ihre unmotivierte und nur spärlich verschleierte Gehässigkeit? Was würde Nora Charles tun? Rachel bemühte sich um einen aufgeregten, aber bescheidenen Ton – eine Novizin, die die Hüterin der Weisheit befragt. »Weiß man inzwischen, wo sie ist?«

Es schien zu funktionieren. »Der Polizist hat nur Fragen gestellt, hat mein Sohn gesagt, keine beantwortet.« Mathilde zuckte die Achseln. »Dieses Mädchen sieht mir nicht wie jemand aus, den man überhaupt vermissen würde, noch viel weniger polizeilich.« Dann ein plötzlicher Kurswechsel: »Sie studierte übrigens an derselben université wie mein Sohn.« Rachel, die nicht gewusst hatte, dass David die Sorbonne besuchte, beobachtete fasziniert, wie Mathilde die Worte »mein Sohn« auskostete, sie gingen ihr offenbar wie Honig über die Zunge. »Allerdings ein viel einfacheres Fach.« Sie entfaltete abschätzig eine langfingrige Hand. »In diesem CELSA, wo sie la culture pop untersuchen. Und – natürlich! Sie waren ja da, als sie mich daran hinderte, ein paar objets mitzunehmen, von denen Edgar gewollt hätte, dass ich sie bekomme.«

Rachel sagte nichts. Was hätte sie schon sagen können? Dass selbst sie wusste, dass das CELSA die renommierteste

Mathildes Augen ruhten auf dem kunstvollen Blumen- und Rankenmuster des Fußbodens tief unter ihr. Sie sagte missmutig: »Die Vorstellung, dass das Geld meines Mannes seine Familie verlässt, hat mir nie gefallen. Très désagréable. Und es auch noch an eine leichtsinnige Frau und eine Hausangestellte zu vergeuden!« Sie schüttelte den Kopf. »Ich denke dabei nicht an mich, wohlgemerkt, aber bei seinem Sohn wäre es doch wohl besser aufgehoben gewesen, n’est-ce pas? Und jetzt …« Sie trommelte mit ihren Nägeln auf der Marmorbalustrade. »Erst der Tod dieser Frau, und jetzt ist das Mädchen verschwunden.« Zum ersten Mal, seit Rachel sie kannte, erschien ein aufrichtig beglücktes Lächeln in Mathildes Gesicht. »Es scheint fast, als sei das Geld, das mein Mann weggab, verflucht! Natürlich bekommen wir es nicht wieder zurück, aber es ist erfreulich zu wissen, dass es auch niemand anders ausgeben wird.«

Plötzlich blinzelte sie und hob eine Hand. »Ah! Wer sagt’s denn.«

Rachel hörte den Applaus aus dem Ballsaal.

Mathilde zeigte wieder ihr straff gespanntes Lächeln. »Ich muss mich beeilen, wenn ich es noch auf les cabinets schaffen will.« Als sie sich umdrehte, wickelte sich der Rock ihres Kleids um ihre Beine, aber das änderte nichts an ihrem Tempo. Im Rennen zur Erleichterung würde sie sämtliche Mitstreiterinnen spielend hinter sich lassen.

»Ach du Scheiße«, sagte Magda. Sie saß auf dem Klodeckel in einer der Kabinen der nunmehr menschenleeren Damentoilette, während Rachel vor ihr stand. »Ach du Scheiße.«

»Das kannst du laut sagen.« Rachel verschränkte die Arme unter ihren Brüsten und zog die Schultern hoch.

»Das hat sie wirklich gesagt?«

»Ja, das hat sie wortwörtlich gesagt. Sie stand da, ausstaffiert wie so eine Anna-Wintour-Der-Teufel-trägt-Prada-Teufels- puppe und erzählte mir, sie fände es unschön, dass ihr Mann Elisabeth Geld hinterlassen hat.«

»Du hast zweimal ›Teufel‹ gesagt.«

»Einmal in substantivischer, einmal in attributiver Funktion. Und außerdem verdient sie es nicht anders! Glaub mir, sie war furchterregend für zwei.«

»Aber jetzt komm schon!«, sagte Magda und strich ihren Taftrock glatt. »Du meinst doch nicht ernsthaft, dass sie dir damit etwas sagen wollte? Ich meine, du glaubst doch nicht im Ernst, sie wollte dir damit zu verstehen geben, dass sie Elisabeth etwas angetan hat?«

Rachel atmete tief durch, um sich zu beruhigen. »Ich weiß es nicht.« Sie schüttelte den Kopf. »Im ersten Moment habe ich nicht mal verstanden, warum sie überhaupt mit mir sprach. Und alles, was sie dann sagte, war so … verblümt.« Sie schluckte. »Aber der Ton! Sie klang, na ja, ›schadenfroh‹ ist das einzige Wort, das mir dazu einfällt. Verblümt, aber schadenfroh.«

»Könnten wir jetzt bitte raus aus diesem Kabuff?« Magda versuchte aufzustehen, aber solange Rachel dastand, wo sie stand, ging das nicht. »Ich kann nicht nachdenken, solang wir hier so zusammengepfercht sind.«

»Ich will nicht rausgehen. Ich will nicht, dass uns jemand überrascht.«

Widerstrebend entriegelte Rachel die Tür und schaffte es, sich in den Waschbeckenbereich hinauszuschlängeln. Dann schlichen sie und Magda ins Vorzimmer und setzten sich auf eine dieser kuriosen runden Kanapees, die ausschließlich in den Vorzimmern exklusiver Damentoiletten anzutreffen sind. Die Form des Möbels bedingte zwar, dass eine von ihnen quer sitzen musste, wenn sie sich beim Reden ansehen wollten, aber Rachel musste zugeben, dass es immer noch besser war, als in einer Klokabine aufeinander zu hocken.

»Jetzt also«, sagte Magda. Sie holte tief Luft. »Wie wirkte sie auf dich?«

Rachel dachte nach. »Zufrieden.«

Magda verdrehte die Augen. »Geht’s auch ein bisschen genauer, Monsieur Poirot?«

»Mit sich selbst zufrieden.«

Magda musste nicht lachen.

»Also …« Wie hatte Mathilde denn nun gewirkt? »Fast begierig. Es war seltsam. Sie kennt mich kaum, aber es war fast so, als ob sie einfach das übermächtige Bedürfnis hätte, sich etwas von der Seele zu reden.«

»Und zwar was genau?«

Gute Frage. »Na ja, sie erwähnte Catherine und Elisabeth. Sie sagte, ihr missfalle die Vorstellung, dass Geld die Familie verließ …«

»Ja, ja!« Magda wedelte ungeduldig mit der Hand. »Wissen wir alles. Mach da weiter, wo sie konkret was über Elisabeth und Catherine gesagt hat.«

»Na gut. Sie sagte, ihr sei unbegreiflich, warum Edgar jemandem, der nicht zur Familie gehörte, unbedingt so viel

»Klang sie wie Inspektor Clouseau, als sie das sagte?«

»Nein.« Rachel war verwirrt. Hätte Mathilde wie Inspektor Clouseau klingen sollen? Hätte das etwas zu bedeuten gehabt?

»Ich frage nur, weil du sie wie Inspektor Clouseau hast klingen lassen. ›Nieman andärs osgäbän …‹«

»Ich hab gar nicht so …« Rachel unterbrach sich. »Findest du wirklich, dass das der richtige Augenblick dafür ist?«

»War nur ein Witz. Ich dachte, das würde die Stimmung ein wenig aufheitern.«

Rachel fixierte Magda mit einem todbringenden Blick und sagte langsam: »Edgar. Möglicherweise Catherine. Und jetzt Elisabeth.«

Magda hörte auf zu lächeln.

Rachel fuhr fort: »Edgar wegen des Geldes, das sie brauchte. Catherine, weil sie sie wegen Edgar erpresste. Dann Elisabeth, weil sie im Arbeitszimmer etwas gefunden hatte, was Mathilde mit Edgars Tod in Verbindung brachte. Es passt alles zusammen. Und wenn du darüber nachdenkst, erklärt es auch alles.«

Magda dachte darüber nach. Sie hielt sich die Hand vor den Mund. »Wow. Ich weiß, dass sie eiskalt ist, aber so eiskalt?«

»Glaub mir: Sie ist so eiskalt. Ich glaube, wenn sie wusste, dass Edgar ein Testament gemacht hatte, in dem ihr Anteil sich verringerte, und das zugunsten Elisabeths …« Rachel schüttelte den Kopf. »Oder selbst, wenn sie nach wie vor glaubte, dass ihr fünfzigtausend ins Haus standen, und sie das Geld brauchte, um ihre Investmentverluste auszugleichen. Ich hab’s von Anfang an gesagt: Ich würde ihr einen Mord durchaus

Magda wurde sehr still. Endlich sagte sie: »Sollen wir den capitaine anrufen?«

Rachel dachte nach. »Nein. Du hast recht; wir haben nach wie vor nichts vorzuweisen, was die Polizei zum Tätigwerden veranlassen würde.« Sie zog die Brauen zusammen. »Außerdem war er fies.«

Magda nickte: Er war fies gewesen. Sie saßen mutlos auf dem gesteppten rosa Samt, bis Magda seufzte, sich mit den Händen leicht auf die Oberschenkel klatschte und aufstand.

»Was soll’s«, sagte sie, »heute Nacht können wir sowieso nichts ändern. Also könnten wir genauso gut wieder reingehen. Kristin Scott Thomas trägt einen Monolog aus der Phèdre vor, bevor der Chef der BNP Paribas spricht.«

Normalerweise hätte Magdas Fähigkeit, sich von Dingen so schnell abzuschotten, im vorliegenden Fall schockieren können, aber selbst Rachel liebte Kristin Scott Thomas. Sie hastete hinter ihrer Freundin hinaus.