»Los geht’s.« Am nächsten Morgen standen sie im eiskalten Flur vor der Tür zu Elisabeths Zimmer, und Rachel zog eine Karte mit Haarklammern aus ihrer Handtasche. Sie zeigte sie Magda. »Les pinces à cheveux. Ich hatte gar nicht gewusst, dass die auf Französisch so heißen.«

»Warum können wir nicht einfach eine Kreditkarte benutzen?«, fragte Magda.

»Weil Kreditkarten nur bei billigen Schnappschlössern funktionieren. Ich hab den ganzen Morgen mit einschlägigen Recherchen zugebracht. Jetzt bin ich eine Expertin in Sachen ›Lockpicking‹, wie man das gewaltlose Öffnen von Sicherheitsschlössern nennt.«

»Zumindest theoretisch.« Magdas Ton war eine gehobene Augenbraue.

Rachel achtete nicht auf sie. Sie bog eine Haarklammer auseinander und biss das Gummiknödelchen an dem einen Ende ab. »Das Ende leicht abknicken«, wiederholte sie sich flüsternd die Anweisung aus dem Internet. Sie bog das blanke Metall um etwa fünfundvierzig Grad und klemmte sich den dadurch gewonnenen »Haken« zwischen die Zähne. »Eine weitere Klammer in einem rechten Winkel knicken, um einen sogenannten ›Spanner‹ zu erhalten«, murmelte sie. »Jetzt Spanner in Zylinder einführen und Drehspannung anlegen.« Sie schob die zuletzt gebogene Haarklammer unten in das Schlüsselloch und drehte sie anschließend leicht zur Seite. »Okay. Jetzt Haken in Schlüsselkanal einführen und nach Stiften mit Bindung

Sie ruckelte die auseinandergebogene Haarklammer auf und ab. Es gab keinen Klick. Aber im Video hatte es doch funktioniert!

»Warum funktioniert es nicht?«, zischte Magda.

»Eine Sekunde. Hol meine Notizen aus der Handtasche.«

Magda kramte und fischte ein Blatt Papier heraus.

»Was steht da über das Öffnen der Stifte?«

»Äh …« Magda suchte die entsprechende Stelle und las dann vor: »Stifte durch sanftes Hin- und Herdrehen des Hakens hinunterdrücken. Es müsste ein hörbarer Klick ertönen.«

»›Sanft‹. Okay, sanft.« Sie entspannte ihren Arm und atmete tief durch die Nase ein. »Sei die Haarklammer. Du bist die Haarklammer.« Sie bewegte die aufgebogene Klammer ganz zart auf und ab. Es machte hörbar klick. »Heilige Kacke!«

»Es hat geklappt!«, flüster-schrie Magda.

»Warte.« Rachel ruckelte mit der aufgebogenen Klammer weiter, bis zwei weitere Klicks ertönten. »Dreh den Knauf! Dreh den Knauf!«

Magda drehte den Knauf, Rachel ließ die Haarklammern los, und die Tür schwang auf.

»Oh. Mein. Gott.« Magdas Stimme war voll ehrfürchtigen Staunens. »Du bist der Wahnsinn! Du machst das wie Pierce Brosnan in Remington Steele.«

Rachel lächelte verlegen. »Das habe ich alles nur dem Internet zu verdanken.« Sie schloss die Tür hinter ihnen. Ein rascher Blick ergab, dass das Zimmer menschenleer war, und eine Nasevoll seiner abgestandenen Luft, dass es das schon seit

»In Ordnung.« Magda begann, sich umzusehen. Dann wandte sie sich abrupt Rachel zu. »Darf ich sagen: Zuerst haben wir ein Schloss gepickt, und jetzt filzen wir die Bude? Ich fühl mich so, als müsste ich einen Trenchcoat anhaben.«

Rachel empfand zwar so ziemlich das Gleiche, hatte aber auch das Gefühl, dass sie als Chef-Einbrecherin dafür zu sorgen hatte, dass sie bei der Sache blieben. »Später, später. Los.«

In jeder vernünftigen Wohnanlage wäre dieser Raum eine Gefängniszelle oder ein begehbarer Wandschrank gewesen. In Paris hatte man daraus eine Ein-Zimmer-Wohnung gemacht. Gegenüber der Tür blinkte ein Fenster, darunter stand ein Einzelbett. Rechtwinklig zum Bett, an die Wand gerückt, ein kleiner Schreibtisch, darüber drei Regalbretter voller Bücher, gegenüber dem Fußende ein schmaler Wandschrank. Quer neben dem Wandschrank eine Anrichte, die zugleich als Raumteiler fungierte. Dahinter befand sich eine winzige Einbauküche, mit Spüle und Abtropfbrett, daneben zwei Herdplatten, darunter ein kleiner Kühlschrank und darüber eine Reihe von Hängeschränken. Ungläubig sah Rachel, dass sich in die hintere Ecke sogar noch eine Duschkabine quetschte. Hier schien jemand in der Kategorie »Wer bekommt eine vollständige Wohnung in den kleinstmöglichen Raum« den ersten Preis verdient zu haben. Anrichten und Schränke waren aus weißem Resopal; das Bett war weiß bezogen; und die Wände waren weiß gestrichen. Auf den dunklen Dielen lag ein blau-weißer Flickenteppich, und bäuchlings auf dem Teppich lag ein Smartphone.

»Das Handy«, hauchte Magda und machte einen Schritt darauf zu.

»Nicht anfassen!«, flüsterte Rachel.

Magda erstarrte.

»Richtig. Okay.« Magda begab sich in den Küchenbereich und öffnete den ersten Schrank. Rachel ging zum Schreibtisch.

Darauf lag nur ein unbeschriebener Schreibblock. Als sie die mittlere Schublade aufzog, fand sie Tinten- und Bleistifte, ein Lineal und andere Zeugnisse studentischen Lebens. In der oberen linken Schublade lagen etliche Hefte voll säuberlicher Notizen, deren Lektüre Rachel sich sparte – eindeutig Vorlesungsmitschriften. Die Schublade darunter enthielt ein Durcheinander von losen Blättern und Heftmappen; unter diesen lag ein kleines gebundenes Heft. Rachel schlug es auf und blätterte es durch. Erst auf der letzten Seite wurde sie fündig: Eine Liste von Zahlen und Anmerkungen, die ihr verrieten, dass Alan mit seinen Schlussfolgerungen recht gehabt hatte. Elisabeth war ja doch nicht so einfältig, wenn sie so viel Grips gehabt hatte, erstens Buch zu führen, und zweitens das so zu machen, dass unbefugte Augen die Aufzeichnungen nicht gleich entdeckten.

»Hier ist nichts.« Magda hatte gerade den Hängeschrank über der Spüle geöffnet. »Sie hat allerdings hübsches Geschirr. Überhaupt«, sie drehte sich um, »ist das ganze Ambiente recht hübsch. Irgendwie schwedisches Flair. Um mehr Gefühl von Raum zu schaffen, vermutlich.«

»Stimmt.« Rachel kramte gerade in der unteren Schublade. »War auch mein Eindruck.«

Magda stellte sich neben sie. »Was hast du gefunden?«

»Hier drin nichts.« Sie schloss die Schublade. »Aber in der anderen Schublade liegt ein Heft, in dem sie notierte, wie viel sie von Edgar bekommen und wie viel sie zurückgezahlt hatte.« Sie seufzte.

»Also, da nichts anderes da ist, könnten wir …?« Magda deutete mit einer Kopfbewegung auf das Smartphone.

»Ja, meinetwegen.« Sie griff in die Manteltasche und zog

»Aber woher denn. Du bist die Detektivin des Tages!«

Rachel hob das Handy mit spitzen Fingern auf. Es war ausgeschaltet. Sie drückte auf die Power-Taste, spürte die Vibration, mit der das Ding zum Leben erwachte, und wischte mit dem Finger über das Display. Nichts passierte. Sie zog einen Handschuh aus, wischte noch einmal. Nichts. Sie tippte zweimal; sofort erblühte das Display in voller Farbenpracht. 10 Nachrichten, erklärte es. Dann leuchtete das winzige Akku-Icon rot auf, und das Handy gab den Geist auf. War ja klar, dachte Rachel. In Frankreich machten selbst Handys aus allem ein Drama.

Mit gereizter Stimme sagte sie: »Der Akku ist leer. Von zwei Wochen lang auf dem Fußboden liegen, vermutlich.«

»Vergiss es.« Magdas Stimme war ausdruckslos.

»Was heißt hier ›vergiss es‹? Das ist der einzige konkrete Anhaltspunkt, den wir haben! Sollen wir nach dem Ladegerät suchen?« Sie hob die Augen und sah, dass Magda wie gebannt auf den Teppich starrte. Sie folgte ihrem Blick. An der Stelle, wo das Handy gelegen hatte, prangte ein runder rostbrauner Fleck von getrocknetem Blut.

Ihre Blicke trafen sich.

»Das ist nichts«, sagte Rachel. »Wie lang liegt dieser Teppich schon hier? Es könnte ein alter Fleck sein.« Aber sie betrachtete die Stelle eingehender.

»Sieh mal.« Magda beugte sich tief hinunter und zeigte auf die Dielen. Dort, farblich vom Holz fast nicht zu unterscheiden, zog sich eine Reihe von ähnlichen Flecken hin, die vom Teppich in Richtung Tür führten.

Rachel merkte mit einem Mal, wie kalt es im Zimmer war: Sie konnte ihren Atem sehen. Aber sie wusste, dass das nicht nur an der Luft lag. Ihr war innerlich kalt geworden. Plötzlich

»Wir müssen hier raus«, sagte sie. Magda erhob keine Einwände. Rachel wischte das Display des Handys ab und legte es auf den ersten Blutfleck zurück. Mit auf den Dielen dröhnenden Schritten hasteten sie aus dem Zimmer und zogen die Tür hinter sich zu. Dass das Schloss, das sie so erfolgreich gepickt hatten, sich nicht wieder abschließen ließ, kümmerte sie nicht. Sie hatten ganz andere Sorgen.

***

Sie gingen in ein anderes Café. Diesmal schien die Situation nach stärkerem Stoff zu verlangen: Rachel bestellte für sich einen Pastis, Magda einen Cognac, und dann schwiegen sie, bis die Drinks kamen.

»Blut.« Magda nahm einen Mundvoll Cognac.

»Ja.« Rachel nahm einen ordentlichen Schluck von ihrem Pastis.

Sie starrten durch das Schaufenster auf die Straße.

»Ich weiß, dass wir es auch vorher ernst meinten«, sagte Magda endlich, »aber dieses Blut hat mir klargemacht, dass ich das Ganze bisher so behandelt hatte, als wäre es ein Krimi, ein Film oder ein Buch.«

»Ja.« Rachel nahm einen weiteren Schluck. »Ich hatte genau den gleichen Gedanken.«

Ein weiteres Schweigen. Dann: »Ist sie tot?« Magdas Stimme war ein Flüstern.

Magda trank ihren Cognac aus, setzte das Glas sehr behutsam ab und starrte es kurz an. Dann sagte sie mit fester Stimme: »Wir sollten wieder zur Polizei gehen.«

»Ja.« Rachel schickte sich an, ihren Mantel zuzuknöpfen. »Sollten wir.«

Es ertönte das Ping einer eingehenden Textnachricht. Sie fischte das Handy aus ihrer Handtasche, kniff die Augen zusammen. »Wenn man vom Teufel spricht … Der capitaine.« Sie setzte sich so, dass Magda mitlesen konnte.

Die Nachricht war keine zwei Sätze lang:

Bez. Mlle. des Troyes – Bankkarte wurde vor zwei Tagen an distributeur in Bayonne benutzt.

»Macht nicht viel Worte, was?«, sagte Magda.

»Sie hat ihre Geldkarte benutzt!« Warme Erleichterung durchflutete Rachel. Sie hatten sich wegen nichts einen Kopf gemacht! Elisabeth ging es gut! Aber Moment mal. Elisabeths Karte war benutzt worden, aber von wem, stand nicht fest. Ihr war wieder kalt. »Oder zumindest hat irgendjemand ihre Karte benutzt.« Aber der Benutzer musste Elisabeths PIN wissen, und wer außer Elisabeth konnte das? Trotzdem, man hörte alle möglichen Geschichten von Leuten, die durch Drohungen

– oder Schlimmeres – dazu gebracht worden waren, ihre PIN zu verraten. Gut möglich, dass es Elisabeth doch nicht so gut ging; vielleicht sogar alles andere als gut.

Magda runzelte die Stirn. »Ich meine, sie klingt gut. Schließlich dürfte sie die einzige Person sein, die ihre Geldkarte benutzen kann.«

Dürfte. »Aber Bayonne? Was sollte sie dort zu suchen haben?«

»Sie könnte dort Urlaub machen«, sagte Magda. »Liegt schließlich am Meer.«

Das klang Rachel wenig plausibel. Wer machte im Februar schon Urlaub am Meer? Und erst jetzt, nach zwei Wochen, benutzte Elisabeth ihre Bankkarte? Aber sie wollte es glauben. »Okay.«

»Sieh’s doch mal so.« Magdas Stimme klang entschlossen beruhigend: »Zumindest ist damit Mathilde aus dem Spiel. Wir wissen, dass sie nicht in Bayonne ist.«

Das war eine gewisse Erleichterung. »Stimmt. Ihre einzige Beziehung zu Südfrankreich ist ihr Geburtsort: Perpignan.«

»Perpignan?« Magda packte sie am Handgelenk. »Mathilde kommt aus Perpignan?«

»Ja.« Rachel schüttelte ihre Hand frei. »Na und?«

»Perpignan liegt bei Bayonne!«

»Es liegt auf der anderen Seite des Landes!«

»Aber beides liegt in den Pyrenäen.« Magda sagte es so, als besiegelte dies einen wichtigen Deal.

»Ja, nur dass eins am Atlantik und eins am Mittelmeer liegt. Mehr als dreihundert Kilometer auseinander.« Magda sah nicht überzeugt aus. »Du glaubst, Mathilde besuchte gerade die Stätten ihrer Jugend, und plötzlich beschloss sie, mal eben ans andere Ende der Pyrenäen zu flitzen, um ein bisschen zu shoppen und zu dem Zweck die Geldkarte der Frau zu benutzen, die sie kurz vorher ermordet hat?«

Rachel nahm an, diese Kurzdarstellung würde verdeutlichen,

»Bloß was?«

»Bloß, dass Mathilde Elisabeth gar nicht selbst ermordet zu haben braucht. Sie könnte jemandem den Auftrag dazu gegeben haben. Tatsächlich«, wieder eine Pause, »wäre es sogar viel wahrscheinlicher. Es wäre gescheiter.« Jetzt kam sie richtig in Fahrt. »Das ist ohne weiteres denkbar. Durch seine verschwenderische Lebensweise hatte Mathildes Vater die Bekanntschaft einiger lichtscheuer Gestalten gemacht. Mathilde fährt nach Perpignan und sucht eine davon auf. Einen Kumpel von früher. Sie sagt: ›Du müsstest mir jemanden aus dem Weg räumen.‹ Er hat sie wegen ihrer Taffheit schon immer bewundert, also werden sie sich einig. Sie fährt nach Paris zurück und hat das perfekte Alibi. Und der Killer, der hat eben einige Zeit abgewartet, bis er die Bankkarte gefahrlos benutzen konnte. Bis Gras über die Sache gewachsen war. Oh Gott!« Wieder packte sie Rachels Handgelenk. »Das könnte dieser Mann gewesen sein, den Catherines Nachbar gesehen hatte! Er könnte sie beide umgelegt haben!«

Zu einer anderen Zeit hätte Rachel versucht, Magda auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen, indem sie ihr sämtliche logischen Löcher in diesem Szenario aufzeigte. Aber nach dem Erlebnis in Elisabeths Wohnung war das nicht mehr so leicht.

»Wie dem auch sei«, sagte sie jetzt: »Wir haben Blut gefunden. Also können wir nicht automatisch davon ausgehen, dass Elisabeth unversehrt ist. Und wir können nicht automatisch davon ausgehen, dass sie diejenige ist, die die Karte benutzt hat. Wir sollten mit dem capitaine reden.«

***

Er nahm den Hörer des Tischtelefons ab, drückte ein paar Tasten und führte ein kurzes Gespräch; dann legte er wieder auf. »Der capitaine ist beim Mittagessen. Wenn Sie warten möchten?«

Mittagessen? Wie war denn das möglich? Ein Blick auf die Uhr, und Rachel stellte fest, dass es halb zwei war. »Ja, wir warten.« Sie und Magda begaben sich zu den bereits vertrauten Plastikstühlen, wo dieselben trostlosen Zeitschriftencover sie von dem schäbigen Tischchen herauf anglotzten.

Nach ein paar langen Minuten murmelte Magda plötzlich: »Wir sind eingebrochen.«

»Was?«

Ohne die Stimme zu heben, wiederholte sie: »Wir sind eingebrochen.«

»Na und?«, flüsterte Rachel zurück.

»Du hast das Schloss gepickt. Und wir sind nicht die Polizei. Also ist das Einbruch.«

»Aber für einen guten Zweck!«

»Ich glaube nicht, dass der Zweck zählt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir Straftäterinnen sind, und ich bin mir ebenso ziemlich sicher, dass sich das, was wir entdeckt haben, aus ebendiesem Grund nicht verwenden lässt.«

Rachel starrte in Kim Kardashians falsch bewimperte Augen. Das Schlagwort »illegale Durchsuchung und Beschlagnahme« tauchte aus den Untiefen ihres Gedächtnisses. »Na toll. Und was machen wir jetzt?«

Magda dachte nach. Tatsächlich dachte sie so lange nach, dass Rachel schon kurz davor war, sie anzustupsen. Dann endlich sprach sie, aber so leise, dass ihre Lippen sich fast nicht bewegten. »Wir könnten einen telefonischen Tipp geben.«

»Doch. Eine von uns beiden ruft anonym an und sagt, die Polizei sollte sich in Elisabeths Zimmer umsehen. Wir machen das von einem Münztelefon aus. Das kannst du heute Abend auf dem Nachhauseweg erledigen.«

»Ich?« Rachel klang entsetzt.

Magda zuckte die Achseln. »Ich habe ein Date.« Sie griff sich ihre Tasche und stand auf. »Es tut uns leid«, sagte sie zum gardien, »aber wir müssen jetzt gehen. Wir melden uns morgen noch einmal beim capitaine.«

***

Sobald Rachel an dem Nachmittag die Tür von Edgars Bibliothek hinter sich geschlossen hatte, ließ sie sich auf den Polsterhocker plumpsen. Sie wusste, dass sie nichts zustande bringen würde, ehe sie sich wieder gesammelt hatte.

Die Tatsache, dass Elisabeths Bankkarte benutzt worden war, schien ihr ein positives Zeichen zu sein. Das Blut andererseits ließ das genaue Gegenteil vermuten. War Elisabeth tot? Die Tropfen waren nicht sehr groß; vielleicht war sie nur verletzt worden. Aber die Tropfen waren vor fast drei Wochen entstanden. Mittlerweile wäre sie nicht mehr nur verletzt. Rachel zitterte und spürte, wie sich ihre Kehle zuschnürte. Sie versuchte, regelmäßig ein- und auszuatmen. Um sich abzulenken, konzentrierte sie sich auf die Titel der Bücher, die vor ihr im Regal standen. Le Giaour, En attendant Godot, Considérations philosophiques de la gradation naturelle des formes de l’être, die Guten-

Aber das Faksimile der Gutenberg-Bibel war nicht da. Seine Nische wurde jetzt von viktorianischen Ausgaben der Vanity und Pendennis ausgefüllt. Rachel stand auf und sah genauer hin. Sie hatte sich nicht getäuscht; die Bibel war nicht da, wo sie hätte sein sollen. Sie ging an den Anfang der Regale und versetzte ihre Augen in diesen speziellen Modus, der alles andere verschwimmen lässt, aber den einen Gegenstand, den man gerade sucht, klar fokussiert. Nichts. Sie suchte die Regale noch einmal, diesmal systematisch ab. Immer noch nichts. Ebenso wenig – sie überprüfte es sorgfältig – befand sich die Bibel in einem der Stapel, die den Fußboden bedeckten.

Sie öffnete die Tür zum Flur, und Fulke erschien. »Ist David da?«, fragte sie. Dann, als sie sich an seine Gewohnheiten erinnerte: »Ist er wach?«

Fulke nickte, vermutlich in Beantwortung beider Fragen, und führte sie den Korridor entlang. Er öffnete ihr die Tür ins bureau. David saß am Schreibtisch und hatte die Augen geschlossen.

»David?« Er riss den Kopf hoch, ganz offensichtlich aus einem heimlichen Nickerchen gerissen.

»Rachel! Wie geht’s?« Er lächelte.

»Gut, danke. Hast du die Faksimile-Bibel gesehen, die ich dir neulich gezeigt hatte?«

Er blinzelte, noch damit beschäftigt, die Nebel des Schlafes zu verscheuchen. »Faksimile-Bibel?«

»Ja, das Gutenberg-Faksimile. Die Paris Edition? Ich habe sie dir gezeigt, als wir uns die Bücher in der Bibliothek angesehen haben.«

Sie sah ihm an, dass er allmählich aufwachte. »Ja, natürlich. Nein, ich hab sie nicht gesehen.«

»Tja, in der Bibliothek ist sie jedenfalls nicht mehr.«

In seinen Augen dämmerte es. »Ach, Moment mal. Die Bibel im Schuber?« Sie nickte. »Ja, die habe ich mir angeschaut. Ich dachte, ich hätte sie zurückgestellt, aber jetzt bin ich mir nicht mehr sicher.« Sein Gesicht schlug ein paar Fältchen. »Tut mir

Rachel runzelte die Stirn. »Irgendwo muss sie ja sein. Danke. Dann suche ich weiter.« Fulke folgte ihr hinaus und schloss dann die Tür.

Eine der nützlichen Früchte eines Lebens im Chaos ist die Gewissheit, dass verschwundene Gegenstände die Neigung haben, sich von selbst wieder einzufinden, sobald man aufhört, nach ihnen zu suchen. Rachel hörte lange nicht auf zu suchen – sie sah Regale und Stapel ein weiteres Mal durch, tastete unter den Sesseln und dem Polsterhocker –, aber schließlich gab sie sich geschlagen und setzte ihre letzte Hoffnung auf diese sauer erworbene Erkenntnis.

Dennoch, durch ihre jüngsten Entdeckungen beunruhigt, durch die verschwundene Bibel verwirrt und durch die fruchtlose Suche verdattert, musste sie sich eingestehen, dass sie kaum in der Verfassung war, sinnvolle Arbeit zu leisten. Sie gab weder Fulke noch David Bescheid, dass sie für heute Schluss machte, sondern holte sich einfach ihren Mantel und schlüpfte aus der Wohnung. Sie genehmigte sich ein spätes Mittagessen im Bistrot Vivienne und einen entspannenden Spaziergang durch den Marais. Erst als sie Alan beim Abendessen von der verschwundenen Bibel erzählte, ging ihr siedend heiß auf, dass sie vergessen hatte, auf dem Heimweg bei einem Münztelefon Zwischenstopp zu machen und Capitaine Boussicault den anonymen Tipp ausrichten zu lassen.