Als Rachel Alan erzählte, dass Elisabeth wieder aufgetaucht war, sagte er: »Möchtest du darüber reden?« Und als sie den Kopf schüttelte, machte er ihr eine Tasse Tee und ging dann in sein Arbeitszimmer. Rachel war für den Tee ebenso dankbar wie für das Schweigen, aber Ruhe schenkte ihr beides nicht. Irgendwie hatte sich in der Wohnung die ganze Anspannung und Aufregung der letzten paar Stunden angesammelt; das Bedürfnis, da rauszukommen und endlich Frieden zu finden, machte sie ganz rappelig. Schließlich schlüpfte sie in ihren Mantel. Der Monoprix-Supermarkt, zu Fuß in zehn Minuten zu erreichen, war ein Tempel der Ordnung, und um neun Uhr abends würde er höchstwahrscheinlich weitgehend menschenleer sein. Sie hatte ein Ziel.
Um die Lebensmittelabteilung zu erreichen, mussten Monoprix-Kunden die Rolltreppe nach unten nehmen und dann einen trüb beleuchteten Gang entlanggehen, der von Regalen voll Wein und Spirituosen gesäumt war. Dieser rituelle Abstieg, gepaart mit der Bändigung so vielfältigen potenziellen Chaos – so viele verschiedene Sorten Alkohol, die durcheinandergeraten könnten, es aber nicht taten, so viele unterschiedlich gefärbte Flüssigkeiten, die falsch eingeräumt sein konnten, es aber nie waren – schenkte Rachel immer ein Gefühl innerer Ruhe, das sich noch vertiefte, wenn sie in der Frischeabteilung auf die einförmigen Obst- und Gemüse-Arrangements stieß, Paprikaschoten und Äpfel und Avocados in fest geschichteten kühlen Stapeln. In einem guten Supermarkt herrschte Zivilisation: Überall war es sauber und gesittet, und kein Mensch wusste, wer man war oder was man getan hatte.
Sie fühlte sich gedemütigt; das gestand sie sich ein. Sie und Magda, erkannte sie jetzt, hatten sich eine Geschichte ausgedacht und sie anschließend zur Wahrheit erklärt. Mathilde erschien wie eine Schurkin – sie pries sich förmlich als Schurkin an –, und sie hatten entschieden, dass sie das zu einer qualifizierte. Sie hatten ein herrenloses Handy, ein paar Tropfen Blut und einige unerfreuliche Bemerkungen auf einem Balkon zu einem Wunscherfüllungsszenario zusammengerührt, dem sie sich, ohne einen Augenblick nachzudenken, mit Haut und Haaren verschrieben hatten.
Rachel wusste, dass sie kein Mensch von lauen Empfindungen war. Ihre Freude war immer Glückseligkeit, ihr Kummer immer abgrundtiefer Jammer. So gesehen war es nicht weiter verwunderlich, dass ihre Beschämung sich wie vollkommene Selbstverachtung anfühlte. Trost suchend legte sie die Hand auf eine Reihe Cantaloupe-Melonen. Niemand sah hin. Keinen kümmerte es, dachte sie. Hier wusste niemand, dass sie falschgelegen hatte, dass Alan recht gehabt hatte, dass die Polizei recht gehabt hatte, dass ihr erster Exkurs in die Welt der Ermittlung zu einem Mordopfer geführt hatte, das in Wirklichkeit gesund und munter und im Urlaub in Südfrankreich gewesen war. Im Februar.
Mit diesem Gedanken begann ihre Vernunft ihre Autorität wieder geltend zu machen, und nach seinem kurzen Aussetzer lief ihr gesunder Menschenverstand wieder rund. Es stimmte, dass Elisabeths Rückkehr ihre emotionale Einstellung zu Edgars Ermordung grundlegend geändert hatte, aber änderte das auch wirklich etwas an der konkreten Möglichkeit dieses Mordes? Sie und Magda hatten sich einen Fall konstruiert, in dem Elisabeths Ermordung die Realität von Edgars Ermordung untermauerte und umgekehrt, aber musste es unbedingt so sein? Mussten sie jetzt, wo Elisabeth von den Nicht-richtig-Toten zurückgekehrt war, unbedingt akzeptieren, dass Edgar, ausgelaugt von Raffgier und geringfügigem Diebstahl, im Zuge des Abendessens, vor sich auf dem Tisch den Lieblingswein seiner Besucherin, einfach umgekippt und gestorben war? Zum ersten Mal seit dem Tag, als Magda im Bistrot Vivienne ihre Hypothesen zerpflückt hatte, unterzog sie sich einer strengen Selbstbefragung. Glaubte sie noch immer, dass Edgar ermordet worden war?
Sie sah die Tomaten an. Das intensive Rot ihrer Haut verlangte ihr Konzentration ab. Sie kehrte ihre Aufmerksamkeit nach innen, tastete nach ihren Instinkten. Ja, entschied sie, sie glaubte es noch immer. Elisabeth hin oder her, das andere Szenario fühlte sich nach wie vor falsch an. Edgar war durch Fremdeinwirkung gestorben.
Sie nahm sich strenger ins Gebet. In Ordnung, das war also ihr Bauchgefühl, aber hatte sie auch irgendwelche konkreten Anhaltspunkte? Keine Ahnungen oder Instinkte, sondern konkrete, polizeiliche Ermittlungen rechtfertigende Beweise?
Sie biss sich in den Daumennagel. Nun, für den Anfang hatte sie die Tatsache, dass, obwohl Rosé auf dem Tisch stand, keine der zwei Frauen angegeben hatte, mit Edgar zu Abend gegessen zu haben. Wenn jemand kurz nach oder sogar während einer gemeinsam eingenommenen Mahlzeit starb, dann war das normalerweise schon etwas, was man, und wenn auch nur beiläufig, erwähnen würde – selbst jemandem gegenüber, den man nicht besonders gut kannte. Doch weder Mathilde noch Elisabeth hatten etwas Diesbezügliches gesagt. Das bedeutete, dass entweder keine von beiden an dem Abend mit Edgar zusammen gegessen hatte – wodurch der Rosé erneut zum Rätsel wurde –, oder aber eine von beiden ihre Anwesenheit vertuschen wollte. So oder so stimmte etwas nicht.
Ah, da war es wieder, ihr »da stimmt was nicht«. Aber jetzt hatte sie mehr als nur einen Anhaltspunkt. Da war auch noch die Suppe. Sie erinnerte sich, von ihrer Mutter einmal gehört zu haben, man könne in zwei Fingerbreit Wasser ertrinken. Ein durchschnittlicher Suppenteller fasste wahrscheinlich drei Fingerbreit. Das bedeutete, dass Edgar, um in der Suppe ertrinken zu können, seine Mahlzeit gerade erst angefangen haben musste. Aber auch wenn Edgar von sich aus ohnmächtig geworden und mit dem Gesicht in den Suppenteller gefallen war: Wieder bewies der Rosé, dass er nicht allein zu Tisch gesessen hatte. Und wenn jemand mit dem Gesicht in seine Suppe sackte, während man gerade das gemeinsame Mahl anfing, dann rief man entweder den Rettungswagen, oder man versuchte, ihn selbst zu retten – oder aber man war sein Mörder.
Aber diese Indizien traten im Kontext der Tatsache auf, dass sie konkrete Verdächtige hatte. Ockhams Rasiermesser, ermahnte sie sich, Ockhams Rasiermesser. Sprach – ohne die verkomplizierende Annahme spezifischer Verdächtiger – überhaupt noch etwas für Mord?
Sie zwang sich, ganz langsam zu denken. Elisabeth und David hatten, jeweils für sich, unaufgefordert erwähnt, dass Edgar Rosé nicht ausstehen konnte. Die Flasche auf dem Tisch ließ sich also nicht mit einer Laune des Geschmackssinns oder einer plötzlichen Lustanwandlung wegerklären. Zu erklären war ihre Anwesenheit nur damit, dass noch jemand da gewesen sein musste. Das bedeutete nicht nur, dass jemand mit Edgar am Tisch gesessen hatte, sondern auch, dass diese Person jetzt diesen Umstand verschwieg – womit sich zu den verdächtigen Umständen ein verdächtiges Verhalten gesellte. Dann war da noch die Tatsache, dass der Edgar, den ihre jüngsten Erkenntnisse offenbart hatten, gar nicht mehr so wohlanständig aussah. Er war ein Steuerbetrüger gewesen, hatte gegenüber dem Finanzamt falsche Angaben gemacht und hatte eine unbeteiligte Person dazu genötigt, an dem Betrug mitzuwirken. Nicht mal ein Herz für Katzen hätte einen solchen Charakter noch retten können. Laut Fulke hatte er seine Frau wegen Geld in Rage gebracht, und nach Elisabeths eigener Aussage hatte er sie, seine widerwillige Komplizin, zu ununterbrochener Angst und Sorge verurteilt. Wer wusste schon, wie viele Leute mit weniger Skrupeln er sonst noch gegen sich aufgebracht haben mochte?
Zählte sie den Wein, die Suppe und die Fakten zusammen, konnte sie die Frage mit Fug und Recht bejahen: Es gab genügend Indizien, um einen Verdacht auf Mord zu rechtfertigen – selbst auf Mord durch einen oder mehrere Unbekannte.
Aber ernsthaft, gestand sie sich ein, glaubte sie nicht, dass es ein Unbekannter gewesen war. War da nicht diese massive Eingangstür? War es nicht unvorstellbar, dass Fulke je vergessen sollte, die Hintertür abzuschließen? Und selbst, wenn man das alles außer Acht ließ, blieb die Tatsache, dass Edgar an einer der exklusivsten Adressen in einer der ruhigsten Straßen von Paris gewohnt hatte. Konnte irgendjemand ernsthaft glauben, dass sich ein Fremder unbemerkt in dieses Gebäude, in dieser Straße schleichen könnte? Nein, auch wenn sie von »einem oder mehreren Unbekannten« sprach, meinte sie in Wirklichkeit jemanden, den Edgar kannte, und wenn sie »jemand, den Edgar kannte« sagte, dann meinte sie in Wirklichkeit Mathilde, mit ihrem Stolz und ihrer Not und ihrer Gier.
Und apropos Gier …
Zufällig erblickte sie in einem dieser Spiegel, die es dem Personal erleichtern sollten, Ladendiebe zu erwischen, ihr Gesicht und wandte sich sofort ab. Sie hatte nicht den Mut, sich dem nächsten Gedanken zu stellen. Sie brachte es einfach nicht über sich. Dann drehte sie sich wieder um. Im Leben jeder Detektivin, sagte sie sich, kommt irgendwann der Augenblick, wo sie das bis dahin Inakzeptable akzeptieren, das zuvor Undenkbare bis ins Letzte durchdenken, sich das vordem Ungenießbare ganz und gar zu Gemüt führen muss – Stopp! befahl sie sich. Sieh einfach den Tatsachen ins Auge.
Sie begann mit den zwei Männern, denen sie am Fahrstuhl vor Edgars Wohnung begegnet war. Wenn man daran, mit wem einer umging, tatsächlich erkennen konnte, wer er war, was verriet ihr dann dieser bestimmte Umgang über David? Nicht viel, flüsterte der bösere Engel in ihr; nichts Gutes, entgegnete der bessere. Keiner, der sich so kleidete wie diese zwei Typen, verdiente sich seine Brötchen auf legale Weise. Sie war Großstädterin genug, um das zu wissen. Und dann war da noch diese Sache, dass David bei einem Freund auf der Couch statt bei seinem Vater in der großen Wohnung geschlafen hatte. Warum hatte Edgar sich geweigert, seinen Sohn bei sich aufzunehmen? An Platz hätte es nun wahrlich nicht gemangelt, und im Abstellraum stand ein Bett. War David in irgendeine Sache hineingeraten, von der er seinem Vater nichts erzählen wollte? Aber in was für eine üble Sache konnte ein netter Junge aus dem I. Arrondissement schon hineingeraten? Oder konnte es sein, dass die zwei Fahrstuhlmänner Edgar den »reichen Mann«, »dessen Vermögen jetzt David übernimmt«, aus eigenen, David unbekannten Gründen abserviert hatten? Wenn Catherine wirklich Selbstmord begangen hatte, war diese Hypothese plausibel. Aber hatte sie Selbstmord begangen? War David ein wahrscheinlicher Verdächtiger? Oder waren seine zwei zwielichtigen Freunde bessere Kandidaten? Sie gestand sich ein, dass letztere Möglichkeit ihr die liebste gewesen wäre, dass sie aber auch die am wenigsten wahrscheinliche war.
Doch dann musste sie sich der brutalsten Frage stellen: Wollte sie wirklich noch immer nach der Wahrheit suchen? Die Tatsache, dass es ein Rätsel gab, bedeutete nicht, dass sie es lösen musste. Wozu auch! Um weitere Belege dafür zu finden, dass unangenehme Menschen unangenehme Gedanken hatten, und dass angenehme Menschen sich als hoffnungslos mängelbehaftet erweisen konnten? Um ein weiteres Mal zu versuchen, in einem undurchdringlichen Heuhaufen eine schuldige Nadel zu finden? Um einem Polizisten entgegentreten zu müssen, der ihr niemals glauben würde? Und um der Auslöser weiterer Augenverrenkungen seitens eines die Geduld verlierenden Ehemannes zu werden?
Die Antwort, die sie darauf erhielt, überraschte sie. Ja, sie wollte wirklich weitermachen. Was für widerwärtige Dinge er auch getan haben mochte, hatte Edgar doch auch jenen Menschen gegenüber, die eine wichtige Rolle in seinem Leben gespielt hatten und denen er dankbar gewesen war, seine Anerkennung gezollt. In seinem Testament hatte er zumindest versucht, es ihnen zu vergelten. Wenn sie jetzt nicht weitermachte, würde sie ihm den gleichen Respekt versagen. Sie hatte ihre Ermittlung aufgenommen, um die Rolle zu würdigen, die er in ihrer Entwicklung gespielt hatte; diese Rolle existierte nach wie vor, also durfte die Ermittlung nicht abgebrochen werden.
Sie würde zu den Büchern zurückkehren. Sie brauchte keine neuen Hypothesen auszukochen: Sie konnte einfach dort weitermachen und sehen, was sich so ergab. Sie konnte die Augen offenhalten und dann darauf achten, dass jede ihrer Ideen das Resultat von Vernunftschlüssen wäre – also das war ein schönes altes Wort für Detektivinnen! Sie würde Vernunftschlüsse ziehen. Und schließlich war sie mit der Katalogisierung ja noch nicht fertig. Der Katalogisierung, mit der Edgar sie letztwillig betraut hatte. Sie würde ohne irgendwelche Erwartungen in die Bibliothek zurückkehren, und sie würde den Job zu Ende bringen. Beziehungsweise – sie korrigierte sich und ballte dabei die Hand zufrieden um eine Orange – beide Jobs zu Ende bringen.