Als Rachel am nächsten Morgen ihre Schultertasche umhängte, war sie voller Optimismus. Die Sonne strahlte am frostigen Himmel, und eine Ahnung neuer Möglichkeiten erfüllte sie. Als sie Edgars résidence erreichte, schien ihre Positivität belohnt zu werden, denn der Aufzug stand im Erdgeschoss – etwas, was nie zuvor der Fall gewesen war.
Doch als sich die Tür auf Edgars Etage öffnete, war es mit ihrem Glück leider vorbei. Auf dem Treppenabsatz standen der Mann mit dem Anzug und sein Gehilfe. Rachel spürte, wie sie (hoffentlich unauffällig) zurückzuckte, aber der Mann im – diesmal elektrisch blauen – Anzug schien erfreut, sie zu sehen.
»Ah, die Freundin des Vaters!« Wieder zeigte er sein grimmiges Grinsen, dann sagte er auf Englisch: »Wi ’äw to stop mieting leik siis.« Er lachte mit vielen schiefen Zähnen.
»Ganz Ihrer Meinung«, sagte Rachel.
Zum Glück verstand er die Pointe nicht. Er klopfte sich auf die Jacketttaschen. »Wir gehen einen draufmachen, ein bisschen Geld ausgeben. Sind Sie dabei?« Er zwinkerte.
»Nein, danke.« Sie machte einen Schritt auf die Wohnungstür zu. »Ich habe viel zu tun.«
Er zuckte die Achseln. »D’acc. Ein andermal.« Er zwinkerte noch einmal, anzüglicher. Dann zeigte er, wie aus einer Eingebung heraus, auf den Kurzgewachsenen und sagte, wieder auf Englisch. »See älloh tu mei littöl fränd!« Sie brachen beide in Gelächter aus, und durch die sich schließende Fahrstuhltür sah sie, wie der lange Mensch dem Kurzen einen fingierten Fausthieb in den Magen verpasste und erst abbremste, als sein Kumpan schon zusammenklappte.
Während sie aus dem Mantel schlüpfte, sagte sie zu Fulke: »Ich bin draußen zwei Männern begegnet.«
»Ah, ja. Monsieur David kam heute Morgen in Begleitung dieser Herren nach Hause. Sie tranken Kaffee, bevor sie gingen.«
Auf Fulke war Verlass, wenn’s darum ging, eine durchgemachte Nacht mit einem Morgen wie im Herrenklub zu krönen. Aber zum ersten Mal bemerkte sie, dass sein für gewöhnlich unerschütterliches Gesicht etwas blass wirkte. Sie wollte etwas Mitfühlendes sagen, aber ihr wollte nichts Passendes einfallen.
»Monsieur David ist ein junger Mann«, sagte sie schließlich, »mit den Gewohnheiten eines jungen Mannes.«
Einen Augenblick lang entspannten sich seine Züge zu einem Ausdruck tiefer Zuneigung, wenngleich seine einzige Antwort ein »In der Tat« war.
Dachte auch er gerade an den kleinen David? Schließlich hatte Fulke ihn von Anfang an miterlebt. Aber wieder fühlte es sich ungehörig an, solche Dinge auszusprechen und damit die Wand einzureißen, die seine Privatsphäre schützte. Also schenkte sie ihm stattdessen ein herzliches Lächeln, in das sie, so gut es ihr gelang, all ihre Sympathie und Aufrichtigkeit einfließen ließ, und begab sich in die Bibliothek.
***
Als sie am Ende des Vormittags aufstand, stellte sie zu ihrer Verwunderung fest, dass sie so gut wie fertig war. Sie hatte alle Regale aufgeräumt und fast sämtliche Bücher, die auf dem Fußboden gestapelt gewesen waren, an ihren richtigen Platz gestellt – erst nach Kategorie und dann nach Autor sortiert. Es waren noch drei, vier Stapel übrig, aber in rund einer Woche würde ihr nichts mehr zu tun bleiben, als den Katalog ins Reine zu tippen, und das konnte sie auch zu Hause erledigen.
Dann fiel ihr Blick auf die Lücke, die noch immer der verschwundenen Gutenberg-Bibel harrte, und im Nu erschien ihr die Gelassenheit, die sie in den vergangenen paar Tagen kultiviert hatte, wie willentliche Blindheit. Nicht nur hatte sie den Mord an Edgar nicht aufgeklärt – selbst bei seinen Büchern hatte sie ihre Sorgfaltspflicht verletzt. Waren die Bibelbände vielleicht hinter die Regalbretter gerutscht? Sie ignorierte die Unwahrscheinlichkeit dieser Hypothese und schmiegte sich platt an die Wand, sodass sie in den schmalen Spalt spähen konnte. Aber egal wie sehr sie sich den Hals verrenkte oder welche abnormen Stellungen sie einnahm, um ganz hinter, über, zwischen und unter die Regale zu lugen: Das Gutenberg-Faksimile war nicht da.
Ihr Optimismus, so fragil wie jeder frisch gefasste gute Vorsatz, bekam einen Riss. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Was hatte sie heute, bei ihrem großartigen Wiedereintritt in die Sphären der Kriminalistik und der Bibliothekskunde, eigentlich erreicht? Nichts. Morde waren keine aufgeklärt worden, und sie war nicht mal imstande, ein dreibändiges Werk wiederzufinden. Was bedeutete, dass sie für Edgar bis dato nicht mehr geleistet hatte, als ihm eine Wertanlage in Höhe von achttausend Euro zu verschludern. Sie war keine gute Freundin!
Magda hätte ihre Selbstgeißelung mit einer spöttischen Bemerkung oder der Feststellung gelindert, dass exzessive Schuldgefühle eine spezifische Form von Narzissmus waren, aber Magda war nun mal nicht da. Aber vielleicht war das auch besser so, denn dadurch war Rachel gezwungen, sich selbst auszuschimpfen. Was hatte sie denn erwartet, in den letzten zwölf Stunden noch groß zu entdecken? Statt zu jammern, sollte sie sich vielmehr überlegen, wie sie mehr aus der ihr verbleibenden Zeit machen konnte. Sollte sie sich vielleicht weigern, den Katalog ins Reine zu tippen, solange sie nicht jeden Eintrag noch einmal überprüft und gegengeprüft hätte? Sollte sie darauf bestehen dazubleiben, bis das Gutenberg-Faksimile wiederaufgetaucht wäre? Sie seufzte. Sie sollte Magda anrufen, das sollte sie.
»Du brauchst nicht mehr Zeit!« Magdas Stimme kam knackig durch die Leitung. »Alles, was der Fall noch braucht, ist, dass man ihn mit anderen Augen betrachtet, und jetzt, wo wir uns nach der Sache mit Elisabeth neu formieren konnten, haben wir andere Augen. Wir treffen uns in einer Stunde im Bistrot Vivienne.«
Wie immer erwartete Fulke sie bereits in der Diele. Eine einzige, erschöpfte Sekunde lang spielte Rachel mit dem Gedanken, ihn zu fragen, was er über das Thema dachte: Wer konnte Edgar getötet haben und warum? Butler hörten und sahen zwar nichts, doch sie wussten alles, und sie wäre jede Wette eingegangen, dass Fulke Informationen besaß, gegen die ihre läppischen kleinen Ermittlungsergebnisse richtig läppisch ausgesehen hätten. Natürlich würde sie niemals fragen. Sie mochten sich seit Jahren kennen, oder zumindest voneinander wissen, aber sie würde mit Fulke nie auf so vertrautem Fuße stehen, dass sie sich eine solche Offenheit und Unverfrorenheit herausnehmen könnte. Diese Erkenntnis verhagelte ihr wieder die Laune: Offenbar war es das Schicksal eines guten Butlers, zeit seines Lebens ein Fremder zu bleiben.
Als Fulke ihr gerade in den Mantel half, tauchte zu ihrer Verblüffung David auf. Zumindest dem Aussehen nach hatte er nicht nur die Nacht durchgemacht, sondern seither auch nicht geschlafen – seine großen Augen waren blutunterlaufen, seine Haare wirr zerzaust. Er wischte sich die Nase mit dem Handrücken, nieste und musste sie sich dann noch einmal wischen.
»Hallo«, sagte er endlich.
»Hallo.« Sie lächelte ihm zu. »Oje. Wie geht’s dir?«
Er zuckte die Achseln. »Geht schon.« Er sah ihr zu, wie sie ihren Mantel zuknöpfte, dann sagte er: »Rachel?« Zum ersten Mal hörte sie in seiner Stimme den Jungen, der er mal gewesen war. Sie nickte ermutigend. »Wann wirst du mit der Bibliothek voraussichtlich fertig sein?«
»Das ist komisch! Gerade hatte ich mich das selbst gefragt.« Sie blies die Backen auf und dachte nach. »Vielleicht in zwei Wochen?«
»Ah.« Wie fahl er aussah! Menschen mit bleicher Haut schmeichelte der Winter nicht gerade.
»Und danach solltest du die Bücher schätzen lassen.«
»Schätzen?« Seine Stimme klang schrill vor Verwirrung. »Ich dachte, du wüsstest, was sie wert sind.«
»Ich katalogisiere sie nur. Zu ein paar Sachen könnte ich wohl einen ungefähren Tipp abgeben, aber wie viel die ganze Sammlung wert ist, kann ich dir nicht sagen.«
»Und wie lange wird so eine Schätzung dauern?«
Rachel dachte nach. »Einen Monat? Hängt davon ab, wie schnell ein Fachmann kommen kann und wie schnell er recherchiert.«
Sie sah, wie die Ränder seiner Nasenlöcher erblassten. Er schüttelte den Kopf, und seine Stimme spitzte sich zu einem Kreischen zu. »Nein! Das reicht nicht! Das muss schneller gehen!« Dann verstummte er abrupt. Er holte tief Luft, versuchte sich geradezu gewaltsam zu beruhigen. Das Blut kehrte in sein Gesicht zurück. »Schön, dann weiß ich Bescheid. Danke.« Er drehte sich um und verschwand wieder in den Tiefen des Korridors.
Rachel war vor Verwirrung erstarrt. Was war gerade passiert? Würde David zurückkommen? Sie wartete ein paar Sekunden lang, aber nein, er blieb verschwunden, und als sie Fulke ansah, lieferte er ihr keinerlei Anhaltspunkte, wie der Ausbruch vielleicht zu verstehen wäre. Stattdessen öffnete er ihr mit einer geschmeidigen Bewegung die Tür.
»Morgen wie gewohnt, Madame?«
Mit einem unverbindlichen Murmeln trat sie hinaus auf den Treppenabsatz. Als sie den Aufzugknopf betätigte, sah sie, dass ihr Finger zitterte. Sie war nicht erschrocken – nur verblüfft und aus dem Gleichgewicht gebracht. Hatte sie etwas gesagt oder getan, was David verärgert haben konnte?
Als sie aus der Haustür kam, bemerkte sie, dass die Luft ein winziges Spürchen wärmer als noch am Morgen war. Langsam, aber doch, nahte der Frühling. Zu seinen Ehren, und um das gerade Vorgefallene aus dem Kopf zu bekommen, würde sie zu Fuß nach Hause gehen.
Sie überquerte die Seine über den Pont Neuf und dachte dabei über die Zeit und den Wandel nach. Das war die älteste Brücke von Paris. Sie war im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts erbaut und 1607 von Heinrich IV., ihrem französischen Lieblingskönig, offiziell eröffnet worden. Aber der Pont Neuf war mittlerweile so oft repariert und restauriert worden, dass sich schwer sagen ließ, wie viel vom Original noch verblieb. War das also die älteste Brücke von Paris, oder war sie zu einer neuen geworden? Oder war sie neu, aber dieselbe geblieben? Hatte sie die Zeit überdauert, oder war sie dem Lauf der Zeit zum Opfer gefallen?
Vielleicht wegen des Wortes »Opfer« schweiften ihre Gedanken zu ihrer Begegnung am Fahrstuhl und den zwei grotesken Männern zurück. Da zeigte sich wahrhaftig, wie die Zeit verging. Edgar war wahrscheinlich nicht einmal im Vorbeigehen mit solchen Leuten in Berührung gekommen, und sein Sohn bewirtete sie bei sich zu Haus! Aber sie dachte an die Verse aus Hamlet: »Auch diesem Vater starb ein Vater; diesem Verstorbnen seiner.« Wer wusste schon, was Davids Kinder zu seinem Entsetzen anbringen würden, wenn die Reihe erst einmal an ihnen wäre? Als sie am Café le Buci vorbeikam, wo das Frühstück teuer war, die Croissants aber, so weit sie zurückdenken konnte, schon immer perfekt gewesen waren, vertiefte sie sich in eine genussvoll wehmütige Reflexion über die Metamorphose junger Großkätzchen in alte Löwen. Wie Kiki gesagt hatte: Die Zeit verging. Sie war unerbittlich. Die Zeit blieb nicht stehen; die Jahreszeiten rollten dahin; aus den Jungspunden wurde die alte Garde.
Sie hätte über diesen Ausflug ins Metaphysische gern gelacht, aber die in altehrwürdige Gebäude gequetschten zahllosen modernen Geschäfte, an denen sie vorbeikam – ein Wellnesssalon! ein Chocolatier! eine Marionnaud-Parfümerie! –, ließen die abstrakten Spekulationen nur allzu realistisch erscheinen. Die Franzosen waren gut im Bewahren, gut im Überdauern. Sie dachte an Kiki in ihrer Wohnung: Sie akzeptierte die Unausweichlichkeit des Verlusts mit einem Gleichmut, der einer Amerikanerin nie in den Sinn käme. Egal, wie lange sie unter ihnen lebte, dachte sie, eine Französin würde nie aus ihr werden.
Während sie über diese Themen meditierte und dabei ziellos den Boulevard Saint-Germain entlangschlenderte und in die Rue des Carmes einbog, hatte sie gelegentliche Blicke in die Schaufenster geworfen. Plötzlich blieb sie abrupt stehen und schaute noch einmal hing. Denn da, im Schaufenster von P. Brunet, Livres anciens et d’occasion, lag ein Faksimile der Gutenberg-Bibel.
***
»Was glaubst du, was das bedeutet?«, fragte Magda. Es war zehn Minuten später, und sie stand neben Rachel vor dem Schaufenster.
»Ich weiß es nicht«, sagte Rachel, obwohl sie es sich ziemlich genau denken konnte.
»Na ja, bist du sicher, dass es Edgars Exemplar ist? Hast du es wiedererkannt, als du es dir angesehen hast?«
»Ich hab’s mir nicht angesehen. Ich bin gar nicht reingegangen.«
»Du bist nicht reingegangen!« Magda riss die Augen auf.
»Ich …« Rachel konnte ihr nicht erklären, dass die Gewissheit gleichermaßen furchtbar wäre: So oder so wären sie wieder einmal bei null angelangt, oder sie würden wieder einmal unangenehmen Möglichkeiten ins Auge blicken müssen. »Ich hab auf dich gewartet.«
»Tja, und da bin ich.« Magda drückte die Ladentür auf.
Eine Frau sah von einer Glastheke auf, die sie gerade blank wischte. »Bonjour.«
»Bonjour. Wir würden uns gern das Gutenberg-Faksimile aus Ihrem Schaufenster ansehen.« Magdas Ton suggerierte, dass sie eine Expertin in Sachen Bibel-Faksimiles war, möglicherweise auf der Suche nach einem weiteren Stück für ihre Sammlung.
»Selbstverständlich.« Die Frau kam mit den Büchern in ihrem Schuber zurück und stellte sie auf die Theke. »Ein sehr schönes Exemplar. In sehr gutem Zustand, abgesehen von leichten Verfärbungen am Schuber.« Sie legte ihn auf die Seite, um es ihnen zu zeigen.
»Darf ich?« Rachel zog den ersten Band heraus, öffnete ihn behutsam und begann, darin zu blättern. Ungefähr in der Mitte des Hohenliedes hielt sie inne; sie zeigte mit dem Finger auf ein schwarzes Haar, das auf der Buchseite lag. Sie warf Magda einen Blick zu; Magda erwiderte ihn.
»Ach, das muss vom Verkäufer sein!« Die Frau wischte das Haar behutsam von der Seite. »Man sieht so was dauernd, wenn man mit antiquarischen Büchern zu tun hat. Haare von Lesern werden so manchmal jahrhundertelang konserviert.«
Magda wandte sich wieder der Verkäuferin zu und lächelte gekonnt interessiert. »Dann könnte es also ein antikes Haar sein? Aber wie kommen Sie darauf, dass es vom Verkäufer ist?«
Die Frau zuckte die Achseln. »Ach, er hatte schwarzes Haar.«
»Hatte der Verkäufer zufällig auch einen Schnupfen?« Rachels Stimme zitterte ein bisschen.
»Warum fragen Sie?« Die Verkäuferin spähte alarmiert auf das aufgeschlagene Buch. »Ich habe ihm ein Kleenex gegeben und darauf geachtet, dass nur ich die Bände berührte. Ist da etwa –«
»Entschuldigen Sie uns bitte einen Augenblick.« Magda nahm Rachel das Buch ab und legte es auf die Theke. Dann stellten sie sich etwas abseits, neben eine Vitrine voll sakraler Figurinen, darunter einem besonders grausigen Kruzifix, bei dem das Blut Jesu zu einer Pfütze am Fuß des Kreuzes zusammenlief. Warum waren die frühen Christusdarstellungen so fixiert auf das Leiden?, fragte sich Rachel. Sie starrte weiter auf die Statuette, bis Magda sich bemerkbar machte.
»Es tut mir leid«, sagte sie leise. »Ich weiß, dass sie uns nicht gerade hieb- und stichfeste Beweise geliefert hat, aber …« Sie wand sich. »Ich glaube, wir sollten uns wirklich über David unterhalten.«
Rachel seufzte. »Ich weiß.«
»Du weißt?«
»Ja.« Nach dem Haarfund hatte es keinen Sinn mehr, ihre Befürchtungen weiter für sich zu behalten. »Du hattest recht. Wir haben Mathilde wegen ihrer Gehässigkeit und Habgier verdächtigt, aber der, der wirklich das beste Motiv hatte, Edgar zu töten, ist David. Schön, man konnte hoffen, es wäre Mathilde, aber ob’s uns passt oder nicht, Aktien steigen und fallen, und ihre Vermögensverhältnisse hätten sich von selbst wieder erholen können. David andererseits ist durch Edgars Tod tatsächlich reich geworden. Und er entspricht der Beschreibung von Catherines Besucher, die uns der Nachbar gegeben hat. Klar, die Beschreibung passt auf achtzig Prozent aller Pariser, aber auf ihn eben auch. Und ich habe dir nicht erzählt – ich habe es nicht über mich gebracht, es dir zu erzählen –, dass David, bevor Edgar starb, aus irgendeinem Grund aus seiner Wohnung rausmusste und Edgar ihm nicht helfen wollte. Er schlief bei einem Freund auf der Couch.« Für einen Augenblick vergaß sie sich und wehklagte: »Und dabei war er doch so ein süßer kleiner Junge!«
Die Verkäuferin hob die Augen, senkte sie aber sofort wieder. Mit demonstrativer Konzentration blätterte sie eine Seite der Bibel um.
»Ich meinte doch bloß, dass wir uns über ihn und die Bibel unterhalten sollten«, sagte Magda. »Aber ja. Absolut. Es ist ganz offensichtlich, dass er am meisten von Edgars Tod profitiert hat. Und er schlief bei jemandem auf der Couch? Dazu würde ich gern Näheres erfahren.«
Ihre Unterbrechung hatte Rachel allerdings Zeit zum Zweifeln gegeben. »Moment.«
Magda machte schmale Lippen. »Ja?«
»Er hatte ein Motiv, das ist richtig. Aber ein Motiv ist irrelevant, solange kein wohlbegründeter Verdacht besteht, dass der Mörder auch wirklich zum Handeln motiviert wurde. Unser Problem bei Mathilde ist, dass wir keinen konkreten Beweis dafür haben, dass irgendetwas sie zu dem Mord veranlasst hat, richtig?«
Widerstrebend nickte Magda.
»Na ja, und das Gleiche gilt für David. Nur weil er von Edgars Tod profitiert hat, kann man nicht gleich daraus schließen, dass er dafür verantwortlich ist. Er hatte ein mögliches Motiv, aber wir wissen nicht, ob er dadurch auch tatsächlich motiviert wurde.« Sie schüttelte den Kopf. »Der David, mit dem ich mich in den vergangenen paar Tagen unterhalten habe, hatte weniger als gar keinen Grund, seinen Vater zu töten. Er und Edgar vergötterten einander.«
Aber Magdas Geduld hatte offenbar ihre Grenze erreicht. »Stopp«, sagte sie. Sie wiederholte es, als sei es ein Beruhigungs-Mantra. »Stopp, stopp, stopp.« Dann sammelte sie sich und lächelte der Verkäuferin zu. »Vielen herzlichen Dank. Wir müssen uns noch ein wenig beratschlagen, bevor wir uns entscheiden.« Sie zog die Tür auf.
Von der Straße aus konnte Rachel die Hände der Verkäuferin sehen, wie sie die Bibel wieder ins Schaufenster stellten.
»Irgendjemand hat diesen Mann umgebracht«, sagte Magda, und ihre Worte waren zornige Wölkchen in der kalten Luft. »Daran haben wir nie gezweifelt. Es ist ziemlich offensichtlich, dass Elisabeth keine brauchbare Verdächtige ist. Mathilde wäre zwar eine, aber wir haben noch offene Fragen. Hier endlich haben wir jemanden, der, wie du selbst sagtest, von dem Tod profitiert, diesen Profit rasch genutzt hat und ein paar seltsame Angewohnheiten und noch seltsamere Freunde besitzt. Er läuft wie eine Ente; er spricht wie eine Ente; er treibt sich mit Enten herum! Da musst du doch wenigstens die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass er«, sie legte eine beklommene Pause ein, »unsere Ente ist.«
Rachel stand stumm da. Es stimmte; es stimmte alles – es waren sogar exakt ihre eigenen Gedanken. Sie durfte dem David, den sie als Kind gekannt hatte, nicht länger gestatten, Entschuldigungen für das Verhalten des erwachsenen David zu liefern. Und ob es ihr nun passte oder nicht: Der erwachsene David sah wie (sie klammerte sich an den Euphemismus) eine Ente aus. Warum hatte er bei einem Freund auf der Couch geschlafen, statt Edgar um Hilfe zu bitten? Warum war er so dick befreundet mit diesen zwei üblen Gestalten? Warum hatte er – der Gedanke bereitete ihr noch immer Qualen – das Faksimile beiseitegeschafft und verkauft? Konnte es auch nur eine andere Erklärung dafür geben?
»Also schön«, sagte sie. »Du hast recht. Aber hier kommt der Haken: Wir waren uns sicher, dass es Elisabeth war, und wir lagen falsch; wir dachten, es könnte Catherine Nadeau sein, und wir lagen falsch. Was ich über den Unterschied zwischen Motiv und Motivation gesagt habe, ist stichhaltig. Bevor wir also wieder einmal falschliegen, könnten wir bitte ein bisschen tiefer graben und erst dann unsere Schlussfolgerung ziehen?«
»Brillant!« Dann wurde Magda ernst. »Ja, wir sollten unbedingt mehr über ihn herausfinden. Wir könnten …« Sie dachte kurz nach; ihre Heiterkeit trübte sich etwas. »Wir könnten …« Schließlich sagte sie: »Möchtest du es noch einmal bei Kiki versuchen?«
Kiki, überlegte Rachel, schien tatsächlich alles über jeden zu wissen. In Wirklichkeit aber wusste sie nur alles über eine ganz bestimmte Gruppe von Jeden: Leute mittleren und fortgeschrittenen Alters aus alteingesessenen Familien, die in denselben Kreisen wie sie verkehrten. David erfüllte nur eines dieser Kriterien.
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Wir brauchen jemanden, der David, altersmäßig und kulturell, nähersteht. Jemanden, der ihn kennt oder, wenn er ihn nicht kennt, doch Leute kennen könnte, die ihn kennen. Jemanden, der uns die Sorte Informationen liefern kann, die nur junge Leute über junge Leute besitzen.«
Sie überlegten. Es war wieder mal das Informantenproblem, dachte Rachel, nur dass sie diesmal wen junges brauchten. Gott, kannte sie überhaupt noch jemanden, der so jung war? Sie versuchte, eine Liste von Bekannten zu erstellen, die ihrer Beschreibung entsprachen, und musste rasch feststellen, dass sie nur einen einzigen Namen enthielt: »Elisabeth.«
»Elisabeth?«
»Sie ist vielleicht keine enge Freundin Davids, aber sie stehen sich altersmäßig nah, und sie müssen sich doch manchmal unterhalten haben, wenn sie beide bei Edgar waren. Oder sie könnte irgendwann diese zwei Männer gesehen haben. Oder von ihnen wissen.« Sie hörte selbst, dass ihre Vorschläge immer dürftiger klangen, also zog sie sich auf die Wahrheit zurück. »Sie ist alles, was wir haben.«
Magda lächelte. »Na ja, sie ist deine Freundin.«
»Nein, hör auf.« Rachel wand sich fast. »Ich hab mich so mies gefühlt, als sie das sagte. Das war wie damals, als Rosie McAllister meinte, in ihrem ganzen Leben sei noch niemand so lieb zu ihr gewesen wie ich. Weißt du noch?«
»Weil sie sich einen Nachmittag lang bei dir ausheulen durfte, nachdem Charles Lautremont mit ihr Schluss gemacht hatte!«
Rachel biss bei der Erinnerung die Zähne zusammen, und eine Minute lang sannen die zwei Frauen über die Unbehaglichkeit unausgeglichener Zuneigung nach. Dann sagte Magda: »Rosie McAllister ist jetzt Creative Director bei der Agentur LaMarchant.«
»Dann hatte ich also recht. Charles Lautremont hatte keine Ahnung, was er an ihr hatte.«
»Ich meinte nur, dass es sich manchmal lohnt, asymmetrische Freundschaften zu pflegen.«
»Ich weiß, was du meintest.« Sie waren an etwas dran; sie spürte es ganz deutlich. Dass sie sich mies dabei fühlte, die Zuneigung eines anderen Menschen auszunutzen, musste sie eben in Kauf nehmen. Würde Sam Spade etwa Probleme damit haben? Oder Shaft? Sie zückte ihr Handy und wählte rasch, um ihrer feinfühligen Seite zuvorzukommen.
Nachdem sie das Gespräch beendet hatte, sah sie auf. »Wir treffen sie am Sonntagabend.«
»Nicht ›wir‹.« Magda schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht. Ich habe ein Date.«
»Schon wieder ein Date!« Rachel hob die Augenbrauen. »Benoît?«
»Mais bien sûr!« Sie guckte verlegen, aber glücklich.
»Ach, Magda!« Rachel lächelte. »Das freut mich richtig.«
»Mich auch.« Sie grinste. »Na ja, mit Vorbehalten. Jetzt wünschte ich, ich könnte mit dir mit.«
»Keine Bange.« Rachel winkte ab. »Ich erzähle dir hinterher alles.«