Elisabeth hatte von irgendwoher Heizgeräte hervorgezaubert, und in ihrem Zimmer war’s behaglich warm. Rachel versuchte, nicht an die kurzschlussgefährdeten Verlängerungskabel zu denken, die die Wärme möglich machten. Ein Handtuch hing über der Tür der Duschkabine, und ein volles Wäschegestell erfüllte von der Küche aus die Luft mit dem Duft von Weichspüler. Jetzt warm und gemütlich schien das Zimmer kaum dasselbe zu sein, in dem sie und Magda ein paar Tage zuvor gestanden hatten. Rachel musste an Sara Crewe denken, die kleine Heldin von Little Princess, und an die Verwandlung ihrer Dachkammer in einen wahrhaften Kokon der Behaglichkeit.

»Danke«, sagte sie und nahm die Tasse Kräutertee, die Elisabeth ihr hinhielt. Das Mädchen legte einen Folies-Bergère-Untersetzer auf den Schreibtisch und setzte sich aufs Bett. Ihre Wangen waren rosig, ihre Augen klar.

»Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie.

Als sie Elisabeths ernsthaftes Gesicht betrachtete, ihre Ärmel, die natürlich wieder über ihre Hände hinuntergezogen waren, fragte sich Rachel, ob sie nicht einfach ihren Tee trinken und wieder gehen sollte. Das kleine Mädchen, das entschlossen gewesen war, sich der Polizei zu stellen und ihre Erbschaft zurückzugeben, würde schwerlich etwas über Davids fragwürdige Freunde wissen. Dann aber verhärtete Rachel ihr Herz und bemühte sich, Elisabeth in einem anderen Licht zu sehen. Klare Augen und rosige Wangen hin oder her: Dieses kleine

Rachel holte tief Luft. »Erzählen Sie mir von David.«

Elisabeth wandte den Blick ab, blieb stumm. Rachel verstand: Das Mädchen gehörte der Sippe »der Jungen« an und war daher bestrebt, David vor »der Alten« zu schützen. Rachel würde geschickter vorgehen müssen.

Wie um ihre Vermutung zu bestätigen, sagte Elisabeth zurückhaltend: »Was möchten Sie denn wissen?«

»Einfach nur, wie er so ist.« Rachel musste an ihr Gespräch mit Fulke denken: ähnliche Loyalität, wenn auch einer anderen Sippe gegenüber. Vielleicht würde die bewährte Taktik auch hier funktionieren. »Ich mach mir seinetwegen Sorgen. Er wirkt schrecklich angespannt. Ich möchte einfach nur ein Gefühl dafür bekommen, was für ihn ein normaler Zustand ist. Sie sind mehr oder weniger im selben Alter; Sie haben sich bestimmt gelegentlich miteinander unterhalten. Ich dachte, Sie könnten mir vielleicht helfen.«

Elisabeth runzelte die Stirn. »Ja, wir haben manchmal geredet, wenn wir beide in der Wohnung waren.« Sie blickte in die Ferne, dachte nach. »Er wirkt nett. Er ist mit der Uni fertig.« Letzteres sagte sie so, als entrückte es ihn in ein fernes Land, von dem sie sich nur vage Vorstellungen machen konnte. »Er fragte mich nach meinem Studium, verglich es manchmal mit seinem. Er ist sehr gescheit. Er hat Architektur studiert, glaube ich. Aber er ist kein Architekt.«

Komm endlich zur schmutzigen Wäsche, wäre Rachel am liebsten rausgeplatzt. Aber inzwischen wusste sie, dass langsame Entwicklungen bisweilen unerwartet gute Ergebnisse zeitigten. »Ja, er hat mal erwähnt, dass er auf der Suche nach einem Job war. Haben Sie eine Ahnung, was er gern machen würde?«

»Na ja«, Elisabeth sah verwirrt aus, »das weiß ich nicht

»Wie bitte?« Das war unerwartet. »Wann sagte er denn das?«

»Vielleicht letzten September? Als David von seinem Vermieter vor die Tür gesetzt wurde. Ich kam an einem Nachmittag gerade in die Wohnung, als –« Sie verstummte abrupt und warf Rachel einen besorgten Blick zu, ehe sie weitersprach: »Ich hab nicht gelauscht, aber wenn man hört, dass zwei Leute mitten im Gespräch sind, wartet man eine Pause ab und platzt nicht einfach so rein.«

Rachel nickte. »Sehe ich auch so.«

Jetzt mit Rückenwind fuhr Elisabeth fort: »Ich hörte Edgar sagen: ›Du hast einen hervorragenden Abschluss. Mir ist unbegreiflich, wie du keinen Job finden kannst. Ich glaube, du willst überhaupt nichts machen.‹«

Das klang ganz und gar nicht nach Davids Version von Edgar. Vielleicht steckte ja noch mehr dahinter. »Sagte er … sagte er was von schlechten Einflüssen oder Freunden, die David zu schlechten Angewohnheiten verleiten würden?«

»Was? Nein.« Elisabeth hatte sichtlich nicht die leiseste Ahnung, wovon Rachel sprach. »Zuerst haben beide geschwiegen, und dann sagte David: ›Danke.‹«

Rachel kannte dieses Schweigen. Es war das Geräusch eines entnervten Elternteils, der einem besorgniserregend unterstützungsbedürftigen Kind Geld gibt, und sie hatte selbst schon mehrmals auf der Empfängerseite dieses Verhältnisses gestanden. Sie drückte diese Erinnerungen weg und versuchte es noch einmal. »Sagte Edgar sonst noch etwas? Von Dingen, die sich ändern sollten, oder …« Sie verstummte. Sie wollte Elisabeth keine Antworten in den Mund legen.

Elisabeth schüttelte den Kopf. »Er sagte nur: ›Das kannst du laut sagen. Du gibst das Geld ja schnell genug aus.‹«

Das Mädchen blinzelte, augenscheinlich verwirrt und begierig zu helfen, und Rachel konnte es beim besten Willen nicht für möglich halten, dass sie eine kaltblütige Psychopathin sein sollte. Besser die Zeugin reden lassen: Gut möglich, dass Elisabeth sich in Widersprüche verwickelte – oder, dass spätere Recherchen aufzeigen würden, inwieweit sie die Wahrheit sagte.

Sie räusperte sich. »Und wissen Sie, ob David je aufhörte, seinen Vater um Geld zu bitten?«

»Ich weiß es nicht. Ich glaube nicht, denn Edgar wusste, dass David im November rausgeschmissen worden und bei Freunden untergekommen war. Wenn er ihm da noch Geld gegeben hätte, dann hätte er ihm doch wohl auch etwas für die Miete gegeben, nicht?«

Wieder nickte Rachel.

Elisabeth sagte bestimmt: »Aber ich weiß, dass er an ihn glaubte und nicht aufhörte, an ihn zu glauben. Er sagte, David hätte sich so gut wieder aufgerappelt, dass –«

»Verzeihung.« Rachel kam wieder nicht mit. »Sich wieder aufgerappelt? Wovon denn aufgerappelt?«

Elisabeth errötete wegen ihres Ausrutschers, aber sie konnte

»Rehab?« Rachel schrie es fast und fiel vor Verblüffung ins Englische. Warum hatte Kiki das nicht erwähnt?

»Mais oui.« Elisabeth nickte tiefernst. »Vor ungefähr anderthalb Jahren. Edgar versuchte, jedes Aufsehen zu vermeiden. Der Entzug dauerte nur einen Monat, und als David wieder rauskam, war er kuriert.«

Rachel ballte die Hände auf ihren Oberschenkeln zu Fäusten. Das änderte alles. Alles. Sie schämte sich für ihr vormaliges ahnungsloses Ich. Sie dachte an Davids rote Augen, an seine durchgemachten Nächte, die zu durchgemachten Tagen wurden, an den hartnäckigen Winterschnupfen, der seine Nase fortwährend laufen ließ. Sie krümmte sich innerlich, als sie sich erinnerte, wie sie geglaubt hatte, ihm sei die Schönheit des Gutenberg-Faksimiles aufgegangen – ihm war lediglich sein potenzieller Wiederverkaufswert aufgegangen! Und diese Kreditkarte im Bad hatte nicht zufällig dort gelegen: Er benutzte sie, um Kokslinien zu legen! Er war abhängig, und er brauchte Geld, um seine Sucht zu finanzieren. Das war die Sorte von übler Sache, in die ein netter Junge aus dem I. Arrondissement hineingeraten konnte!

Dann schämte sie sich für ihr aktuelles aufgeklärtes Ich. Magda hatte die ganze Zeit recht gehabt. Sie dachte an den Mann im Anzug und seinen Kumpanen, an Davids plötzlichen Ausbruch am Tag zuvor. Er hatte Geld gebraucht, um diese Männer zu bezahlen, und vielleicht auch andere vor ihnen. Und als er Edgar kein Geld mehr abschwatzen konnte, musste er einen anderen Weg zum Zaster finden, und am Ende hatte er zu diesem Zweck seinen Vater getötet. Catherine hatte wahrscheinlich etwas herausgefunden – etwas, was den Mord betraf oder die Drogen; auf jeden Fall etwas so Großes, dass die Polizei ihr schon zuhören würde –, und als sie versucht

»Entschuldigen Sie mich.« Sie stellte ihre Tasse ab und stand auf.

***

Zu diesem Besuch klingelte Rachel nicht. Sie hämmerte mit der geballten Faust so fest gegen Edgars Wohnungstür, dass deren Metall spürbar erzitterte, während die Schläge von den Wänden des Treppenhausabsatzes widerhallten. Wenn David seinen Vater ermordet hatte, verdiente die Tat keine gesellschaftlichen Rücksichten. Sie verlangte nach Lärm und Empörung, und Rachel würde für beides sorgen.

Fulke öffnete die Tür. »Madame Levis.« Er war nur minimal echauffiert.

»Fulke.« Sie ließ ihre Faust fallen: »Ich muss David sprechen.«

Der Butler äußerte seine Überraschung durch ein Heben der Brauen. »Ich erwartete zu dieser Uhrzeit keine Besucher mehr. Ich hatte gerade erst die vorderen Zimmer geschlossen.«

Rachel trat über die Schwelle und blieb, leicht außer Atem, in der Diele stehen. »Ich muss David sprechen, und ich muss ihn jetzt sofort sprechen. Es ist unbedingt notwendig.«

»Monsieur David ist im bureau. Er wird gewiss entzückt sein, Sie zu sehen.« Fulke drehte sich um, um ihr vorauszugehen.

Aber Rachel war heute nicht für gemessenes Schreiten zu gewinnen. Sie rannte los, den Korridor entlang. Fulke würde ihr bestimmt die Tür öffnen und sie melden wollen, aber sie wollte David überrumpeln, ihm keine Zeit lassen, sich ein Pokerface oder ein Alibi zurechtzulegen. Wenn sie ihn überrumpelte,

Aber es waren nicht Davids Züge, die sie begrüßten, als sie die Tür aufstieß. Vielmehr überrumpelte sie der Anblick seines bäuchlings auf dem Schreibtisch liegenden Oberkörpers. Wo sein Hinterkopf hätte sein sollen, klaffte eine Sauerei aus blutgetränkten Haaren und Knochen. Weiteres Blut strahlte von dieser zentralen Quelle in Spritzern und langen Rinnsalen über den ganzen Schreibtisch und umfloss Davids nach unten gewandtes Gesicht. Blut besprenkelte die Papiere, die vor ihm auf dem Schreibtisch lagen; ein kleiner Spritzer zierte die Birne der Schreibtischlampe. Neben dem Schreibtisch lag auf dem Teppich, verbogen und zerbeult, einer der Kerzenleuchter aus dem Esszimmer.