Jemand brachte Rachel eine Tasse heißen süßen Tee. Jemand brachte eine Decke und legte sie ihr um die Schultern. Jemand fragte, ob man jemanden benachrichtigen solle, und ging dann Alan anrufen. Hinter all diesen Dingen lag ein stetes Gewimmel, ein Hin und Her und Kommen und Gehen und Reden und Fotografieren, das unbeirrt fortdauerte, während sie in der Diele in einem Sessel saß, den jemand für sie besorgt hatte, und versuchte, die Erinnerung aus ihrem Bewusstsein zu halten.
Sie starrte in ihren Tee, und ihr fiel auf, dass die Tasse ohne Untertasse gekommen war. Fulke hätte so etwas nie geduldet. Er konnte den Tee nicht gemacht haben. Er musste irgendwo anders sein. Vielleicht ebenfalls mit einer Decke und einem Tee, obwohl sich Rachel Fulke mit einer Decke um die Schultern nicht vorstellen konnte, und ganz gewiss konnte sie sich nicht vorstellen, dass er Blut zum Tee nehmen würde. Blut? Sie wand sich innerlich. Nein, nein, Zucker – Fulke wirkte nicht wie der Zuckertyp.
»Madame Levis?« Das war ihr Name, aber die Stimme konnte sie nicht unterbringen. Verwirrt sah sie auf und erkannte nach und nach Capitaine Boussicault.
Er legte eine Hand an seine Brust. »Boussicault. Sie haben eine SMS von mir bekommen.«
»Ja.« Sie nickte. »Ja, ja, ich erinner mich. Bonsoir.«
»Bonsoir.« Seine Stimme klang überrascht, aber sanft. »Warum sind Sie hier?«
»Ich …« Sie räusperte sich. »Ich wollte David sprechen.« Als ihr aufging, dass ihm der Name vielleicht nichts sagte, erklärte sie: »Das ist der Mann, der hier wohnt. Edgar Bowens Sohn.« Sie versuchte zu lächeln, etwas von ihrem üblichen Charakter wiederzufinden. »Aber was machen Sie hier? Ist das nicht außerhalb Ihres Reviers?«
Ihr Lächeln erwidernd zuckte er mit den Schultern. »Polizisten haben eine Schwäche für frappante Todesfälle.« Er ging neben ihr in die Hocke, sodass sein Trenchcoat den Fußboden berührte. »Nein, nein. Die Meldung kam bei uns rein, und natürlich habe ich mich an den Namen erinnert. Und an Ihre Geschichte habe ich mich ebenfalls erinnert. Also dachte ich, ich komm vorbei und schau mich um.« Er sah ihr aufmerksam ins Gesicht. »Entschuldigen Sie mich kurz? Ich bin hier auch nur Zaungast, also besorge ich mir am besten einen Stuhl und leiste Ihnen Gesellschaft.«
Sie bemerkte nicht, wie lange er weg war, aber als er zurückkam, hatte er nicht nur einen Stuhl, sondern auch eine frische Tasse Tee dabei. Er reichte sie ihr. »Sie hatten einen Schock«, sagte er. »Und dieser Tee ist stärker als Ihr voriger.«
Sie nahm die Tasse, während er den Stuhl neben sie stellte und sich setzte, dann den Mantel um sich raffte und vor sich hin starrte. Nach einigen Sekunden sprach er. »Eigentlich«, sagte er im Plauderton, »sind heiße Getränke nicht das Richtige für Menschen, die unter Schock stehen. Das Trinken bereitet ihnen Probleme, oder sie trinken zu schnell und verbrennen sich den Mund. Allerdings«, fuhr er in sanftem Ton fort, »habe ich nicht den Eindruck, dass Sie unter Schock stehen. Sie hatten lediglich einen Schock. Solche Unterscheidungen sind wichtig. Eine Tasse Tee wird Sie trösten, und ein bisschen Zucker wird Ihnen Kraft geben.« Er lächelte ihr zu. »Versuchen Sie, ihn ganz auszutrinken.«
Sie trank ein Schlückchen. Zucker war da ohne Frage drin.
»Während ich auf den bouilloire wartete, habe ich mich ein bisschen mit der hier zuständigen lieutenante unterhalten. Sie sagte, Sie haben die Leiche gefunden.«
»Ja.« Rachel fröstelte und raffte die Decke enger um ihre Schultern.
»Und warum waren Sie noch mal hier? Frischen Sie mein Gedächtnis auf.«
»Ich wollte David sprechen. Ich …« Sie fing sich im letzten Moment. Besser sie verriet ihm nicht ihren Verdacht, um ihm damit bloß weitere Gründe zu liefern, sie für übergeschnappt zu halten. »Ich katalogisiere zurzeit die Bibliothek seines Vaters, und er hatte mir heute Nachmittag gesagt, dass er sie verkaufen wollte. Ich wollte ihm zeigen, welche die besonders wertvollen Bücher waren.«
Der capitaine nickte, ob er ihr allerdings abnahm, dass sie gegen zehn Uhr abends hergekommen war, um ihm ein antiquarisches Gutachten zu liefern, konnte Rachel nicht erkennen. Zumindest fragte er nicht nach näheren Details.
»Und Monsieur Bowen war so, wie Sie ihn vorgefunden haben?«
»Ja. Ich habe nichts angerührt.«
»Ja.« Er nickte und schenkte ihr ein konspiratives Lächeln. »Ich erinnere mich, dass Sie eine ziemlich ehrgeizige Detektivin sind – Sie und Ihre Freundin.«
»Magda«, bestätigte sie.
Wieder starrte er vor sich hin, dann schüttelte er den Kopf. »Das ist eine üble Geschichte, Madame Levis. Es ist bedauerlich, dass Sie da hineingezogen worden sind.«
»Inwiefern ist das eine üble Geschichte?« Er sagte nichts. »Was«, sie schluckte, »was glauben Sie, was passiert ist?«
»Na ja, Monsieur Bowens maître d’hôtel gab der Polizei gegenüber an, Monsieur Bowen habe ein paar besonders unangenehme Freunde gehabt, und ein, zwei Nachbarn bestätigen das.«
Die Männer. »Ja, ich habe sie gesehen.«
»Ah!« Der capitaine hob die Augenbrauen. »Tja, offenbar statteten sie Monsieur Bowen heute Abend einen Besuch ab. Der maître d’hôtel ließ sie ein, und Monsieur Bowen sagte, er würde sie, wenn sie fertig wären, selbst zur Tür begleiten. Der maître d’hôtel ging auf sein Zimmer, und«, er deutete nach hinten, ins Innere der Wohnung, »das Ergebnis kennen Sie ja.« Er schnalzte mit der Zunge. »Junge Leute, Drogen – wir haben dauernd damit zu tun. Es ist schlimm.« Er schüttelte bekümmert den Kopf.
Rachel trank den Schlick auf dem Boden der Tasse aus. Sie wandte sich dem capitaine zu. »Warum sind Sie jetzt so nett?«
Er machte ein betroffenes Gesicht. »Sie sagen das so, als wäre ich ein Ungeheuer!«
»Kein Ungeheuer, aber letztes Mal haben Sie mich ausgelacht und uns von Ihrem Untergebenen vor die Tür setzen lassen. Jetzt verhalten Sie sich … wie ein netter Onkel.«
Er lächelte. »Das ist eine weitere neue Charakterisierung für mich.« Er sah ihr in die Augen. »Madame Levis, beruflich habe ich oft mit Spinnern zu tun. Häufig sind es Spinnerinnen, und gelegentlich kommen sie sogar in Begleitung einer Freundin zu mir ins Büro. Aber noch nie – noch nie – hat mir eine von eingebildeten Straftaten erzählt, nur um kurz danach in eine reale Straftat verwickelt zu werden. Das ist ausreichend ungewöhnlich, um einen persönlichen Besuch und eine gründliche Neubewertung der Sachlage zu rechtfertigen.« Er tätschelte ihre Hand, die auf ihrem linken Knie lag. »Und da bin ich also und mach einen auf nett.«
Sie erwiderte sein Lächeln.
»Rachel?« Sie hörte Alans Stimme, bevor sie ihn sah. Und dann wurde sie gegen seine Kaschmir-Brust gedrückt, hörte durch seine Kleidung sein Herz hastig schlagen. »Mein Gott! Jemand hat angerufen und gesagt, du hättest eine Leiche gefunden. Wie geht es dir?« Er strich ihr die Haare aus den Augen und sah ihr forschend ins Gesicht, küsste sie, küsste sie noch einmal.
»Alles in Ordnung«, sagte Rachel.
»Monsieur Levis.« Der capitaine stand auf.
»Field.« Alan wandte sich ihm zu. »Alan Field.«
»Monsieur Field.« Der capitaine reichte ihm die Hand, und Alan schüttelte sie ihm. »Ich bin Capitaine Boussicault. Ihre Frau hat tatsächlich eine Leiche gefunden, aber sie hat meinen Kollegen schon alles erzählt.« Wirklich? Jetzt erinnerte sich Rachel vage an eine Frau, die sich mit ihr zusammengesetzt, ihr Fragen über David gestellt und ihre Antworten in ein Notizbuch geschrieben hatte. »Es steht ihr frei zu gehen.« Der capitaine sah Rachel mit feierlicher Miene in die Augen. »Möglicherweise werden wir sie noch einmal sprechen müssen, aber vorerst ça suffit. Sie dürfen sie mit nach Hause nehmen.«
Rachel war plötzlich vollkommen erschöpft. Sie fühlte sich wie ein Wischlappen, den man benutzt und ausgewrungen hatte. »Danke«, sagte sie, als Alan ihr aufhalf. Sie lehnte sich gegen ihn, wünschte sich, er würde seinen Mantel öffnen und sie darin verbergen.
Alan musste ihr die Erschöpfung angemerkt haben, denn er sagte während der Rückfahrt im Taxi kein Wort, hielt sie nur fest, während sie schlapp an ihn geschmiegt dasaß. Zu Hause angelangt steckte er sie gleich ins Bett. Ein paar Minuten später brachte er ihr eine Tasse warme Milch. Sie hatte sie noch nicht halb ausgetrunken, als sie schon eingeschlafen war.