Alan nahm sich den Vormittag frei, und er und Rachel blieben im Bett. Sie hatte kein Bedürfnis zu reden oder zu schlafen, ja nicht einmal nach Sex. Sie lag nur so da, den Kopf auf seiner Brust und die Arme eng um ihn geschlungen, die Hände auf der anderen Seite verschränkt. Sie drückte ihn fester und fester, spürte seine weiche Haut und das kratzige Gestachel seiner Brusthaare, genoss seinen vertrauten Duft nach Zitrusfrucht, einem Hauch Schweiß und tiefer Dunkelheit. An irgendeinem Punkt musste der Druck unangenehm, ja schmerzhaft geworden sein, aber Alan ließ seine Arme um sie liegen, sein Gesicht in ihrem Haar, und rührte sich nicht.

»Erzähl mir, wie wir uns kennengelernt haben«, sagte sie endlich.

»Wie wir uns kennengelernt haben?« Alan war überrascht. Aber er verstand, warum sie die Geschichte hören wollte, also erzählte er. »Also, es war im Juli zweitausendunddrei, und ich war gerade hierhergeschickt worden. Ich kannte niemanden, und mein Französisch war nicht gerade gut, also beschloss ich, zu einem Vortrag von Bernard-Henri Lévy zu gehen.«

Rachel lachte gegen seinen Brustkorb.

»Ich kannte seinen Namen, und ich hatte irgendwas von ihm in Übersetzung gelesen, und ich wollte mich … französisch fühlen.«

Sie spürte, wie sich seine Rippen beim Einatmen hoben.

»Also ging ich ins Centre Pompidou, und ich hörte zu, und ich verstand vielleicht jeden fünften Satz, aber ich sah mir

Rachel gab ihm einen Stups.

»Hey! Ich erzähle es genau so, wie es war. Du bist rübergekommen, du hast dich neben mich gestellt, und du hast gesagt: ›Bernard-Henri Lévy ist ein Arsch.‹« Er legte eine Kunstpause ein, so wie sie damals, und als er weitersprach, sprach sie die Worte mit: »›Aber er hat tolles Haar.‹« Er holte Luft. »Und damit fing’s mit uns an.«

Rachel drückte ihn noch fester an sich.

***

Es wurde Nachmittag, und Rachel fühlte sich bald viel besser. So schlimm war es doch nicht, entschied sie, eine Leiche zu sehen. Das war ohne Frage etwas, was Detektivinnen andauernd machten; sie lernten, den Tod mit stählernem Auge zu betrachten. Sie spürte, dass sie dazu imstande war. Sie versuchte, ein stahläugiges Gesicht zu machen.

Ein Klopfen an der Tür kündigte Magda an. Sie stand auf der Matte und reckte eine Rolle Oreos in die Höhe. »Ich hab mir gedacht, du könntest einen Geschmack von Heimat gut gebrauchen.« Sie grinste. »Frisch aus dem Notvorrat in meinem Küchenschrank!« Sie gab Rachel einen Kuss auf die Wange, folgte ihr in die Küche, um die Kekse abzulegen, dann gab sie ihr noch einen Kuss und nahm sie dazu fest in die Arme. »Jesus Maria«, sagte sie. »Was du für ein Leben führst!«

Dann saßen sie auf der Couch, jede einen Becher in der Hand und beide stumm. Schließlich fragte Magda, jetzt ohne Ulk: »Wie geht’s dir?«

»Gut«, sagte sie leichthin. Magdas Miene forderte Aufrichtigkeit. »Nein, ernsthaft. Ich glaube, ich bin weitgehend wieder auf dem Damm.«

Magda beugte sich vor und öffnete die Oreos. Rachel starrte in ihre Teetasse. Sie sah die Flüssigkeit hin und her schwappen, ihre Oberfläche flimmern, sich dann kräuseln und in Miniaturwellen zersplittern. Sie bemühte sich, ihre Hände stillzuhalten.

»Iss einen Keks«, sagte Magda.

Als der erste Bissen in ihrem Mund zerbröselte, gab Rachel ein Mittelding zwischen Schluchzen und Lachen von sich – etwas wie ein abgebrochener Schluckauf. Der Keks schmeckte nach tausend verregneten Nachmittagen ohne drängendere Pflichten, als sich Wiederholungen von Drei Mädchen und drei Jungen anzusehen und von Duran Duran zu träumen. Sie nahm einen zweiten Bissen und schloss einen Moment lang die Augen. Als sie sie wieder aufschlug, sagte sie: »Ich hatte vorher noch nie einen Toten gesehen.« Ihre Stimme zitterte.

Magda sagte nichts.

Rachel erinnerte sich an die nachdrückliche Unlebendigkeit von Davids Leichnam. Er hatte nicht auf die gleiche Art tot ausgesehen wie seinerzeit ihr erstes Haustier, Hamster Wilfred, als sie einmal aus der Schule gekommen war und ihn kalt in seinem Käfig vorgefunden hatte. Wilfred hatte wie Wilfred ausgesehen, nur bewegungslos, aber Davids toter Körper schien keinerlei Beziehung zum lebendigen David zu haben. In einem ursprünglichen, instinkthaften Sinne war er definitiv nicht gewesen. Zum ersten Mal hatte sie den Unterschied zwischen Schlaf und Tod verstanden – zwischen Passivität und Leere. Und mit dieser absolut neuen Erfahrung konfrontiert war sie zwei, drei lange Sekunden lang zu verwirrt gewesen, um das, was sie sah, zu verarbeiten; sie hatte es wahrgenommen, es aber nicht begriffen. Als diese Sekunden vorüber waren, kam das Entsetzen, mit Urgewalt, aber selbst jetzt noch konnte sie sich die Szene in nüchterner Klarheit vergegenwärtigen. Und diese Erinnerung – ein Blutbad als Stillleben – machte das Ganze irgendwie noch schlimmer. Vielleicht war es doch keine so glänzende Idee, den Tod mit stählernem Auge zu betrachten.

»Es war grauenvoll«, sagte sie, weil es keine besseren Worte dafür gab.

»Es tut mir so leid.« Magda seufzte. Sie wartete lange, bevor sie wieder etwas sagte. »Wie … also – ich meine – wie kam es eigentlich, dass du überhaupt da warst?«

Rachel schüttelte den Kopf. »Ich war bei Elisabeth, und sie hat mir …« Sie verstummte; sie war nicht in der Stimmung für Magdas Schadenfreude. »… Sie hat mir gewisse Dinge erzählt, die ich mit anderen Dingen kombiniert habe. Und plötzlich war ich überzeugt, dass David Edgar ermordet hatte. Also bin ich hin, um ihn zur Rede zu stellen.«

»Was für Dinge?« Magda versuchte, ihre Stimme zu zügeln, aber Rachel hörte das Beben der Spannung heraus. Was soll’s, dachte sie, früher oder später muss ich ihr sowieso alles erzählen.

»Äh, na ja.« Sie druckste herum. »Sie hat gewisse Fakten erwähnt, gewisse Probleme, die er so gehabt hatte …« Sie gab’s auf. »Er war Kokser.«

»Ich wusste es!« Magda tat einen jähen Atemzug, haute einem Couchpolster befriedigt eine rein. »Das habe ich die ganze Zeit gewusst!« Sie fällte den Kopf zu einem befriedigten Nicken. »Hab ich nicht die ganze Zeit gesagt, dass es um Drogen ging? Ich habe die ganze Zeit gesagt, dass es um Drogen ging.«

»Wie auch immer.« Magda wiegelte mit der Hand ab. »Die zwei Möglichkeiten schließen einander nicht aus.«

Glücklicherweise klingelte es an der Tür. Rachel hielt einen Finger in die Höhe, befreite ihre Füße von der Decke und ging aufmachen. Es war der capitaine.

»Madame Levis? Tut mir leid, Sie so zu überfallen. Ich wollte nur nachsehen, wie es Ihnen geht.« Boussicaults Augen schlugen an den Winkeln Fältchen, als er lächelte, aber sein Blick war aufmerksam. »Ich konnte jemanden überreden, mich ins Haus zu lassen.«

»Mir geht’s besser, danke.« Sie bemühte sich, so zu klingen, als sei der Anblick einer Leiche nichts Weltbewegendes. Erblasse vor Neid, V. I. Warshawski!

Er lächelte wieder. »Und außerdem wollte ich Ihnen berichten, wie unsere Ermittlungen vorankommen.«

Während Magdas Enthusiasmus sie kaltgelassen hatte, wurde ihr von dieser Ankündigung ganz warm ums Herz. Die Polizei erstattete ihr Bericht. Man holte sie ins Boot! Von wegen V. I. Warshawski. Sie trat beiseite, um ihn hereinzulassen.

»Aha!«, sagte er, als er den séjour erreichte. »Und hier ist Ihre Komplizin. Madame.« Er nickte, und Magda nickte zurück, nahm die Beine von der Couch und setzte sich gesittet hin.

»Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten oder Tee?« Rachel wandte sich schon zur Küche.

»Nein, nein, danke.« Er senkte den Kopf. »Aber vielleicht einen Sitzplatz?«

»Natürlich!« Sie deutete auf einen Sessel und setzte sich dann ihrerseits wieder auf die Couch.

Was denn für kleine Freunde? Edgar hatte keinen einzigen kleinen Freund, dachte Rachel. Dann begriff sie, dass sein Monsieur Bowen David war.

»Das ist wirklich gut!«, sagte sie. »Dürfen Sie mir Näheres verraten?«

Er lächelte. »Ihre Namen, sicher. Der eine heißt Matthieu Mediouri. Sein Vorbild ist offenbar Al Pacino in Scarface.«

Na gut, dachte Rachel, das erklärt die Anspielungen.

Der capitaine fuhr fort: »Der andere heißt Laurent Brabinet. Hört allerdings offenbar lieber auf«, hier verfiel er in einen sehr nasalen amerikanischen Akzent, »L-Brah.« Dann sprach er mit normaler Stimme weiter: »Sie sind beide polizeibekannt. Mittelschwerer Drogenhandel. Ich bedaure, Ihnen sagen zu müssen, dass Monsieur Bowen ihre Dienste häufig in Anspruch nahm.«

»Ist schon in Ordnung«, warf Magda ein. »Das wussten wir schon.«

Der capitaine sah sie perplex an. »Ah bon? Und wieder überraschen Sie mich.« Er schnalzte mit der Zunge. »Nun, wie es aussieht, hatte sich Monsieur Bowen finanziell ein wenig übernommen, und die beiden gelangten zu dem Schluss, dass er ihre Gutherzigkeit über Gebühr beansprucht hatte. Sie waren bestrebt, ihn an die Art ihres wechselseitigen Verhältnisses zu erinnern.«

Gütiger Himmel, dachte Rachel, Stendhal ist als Polizist wiedergekehrt.

»Wir haben uns mit Monsieur Bowens Mutter unterhalten. Eine unbeugsame Frau. Sie wies die Möglichkeit, dass ihr Sohn

»Dreitausend!« Rachel war empört. »Das ist weniger als die Hälfte seines Wertes!«

»Und des Preises, zu dem sie es jetzt anbietet. Nichtsdestoweniger nahm Monsieur Bowen, wie sie uns erklärt hat, das Angebot ohne zu feilschen an. Und Pierre Brunets Bank hat angegeben, ein Mann, auf den Monsieur Bowens Beschreibung passte, habe den Scheck noch am selben Tag eingelöst.« Hier pausierte er kurz, um Atem zu holen, und fuhr dann fort: »Diese dreitausend Euro sind nirgendwo in der Wohnung zu finden. Wir haben sie gründlich durchsucht. Und Monsieur Bowens maître d’hôtel sagte uns, Monsieur Bowen sei letzten Abend von Mediouri und Brabinet aufgesucht worden. Wie ich Ihnen schon sagte, erklärte Monsieur Bowen, er würde seine Besucher später selbst zur Tür bringen. Daher kann der Mann bedauerlicherweise nicht angeben, wann sie die Wohnung wieder verlassen haben. Ebenso wenig«, fügte er feinfühlig hinzu, »in welchem Zustand sich Monsieur Bowen befand, als sie sie verließen.«

Rachel war von der Polizei beeindruckt. Noch keine vierundzwanzig Stunden im Spiel und schon hatte sie mehr

»Und wie lautet die schlechte Nachricht?«

»Ja, tja, die schlechte Nachricht … Davon gibt es eigentlich zwei. Ihre Angelegenheiten betreffend lautet die erste, dass es mir nicht gelungen ist, irgendeine Verbindung oder Begegnung zwischen diesen zwei Männern und Madame Nadeau zu finden. Tatsächlich ist es mir nicht gelungen, überhaupt einen Hinweis darauf zu finden, dass Madame Nadeaus Tod durch einen Dritten verschuldet worden sein könnte.« Er sah Rachel an. »Und ich habe gründlich gesucht.« Sie begriff, dass das seine Art war, sich zu entschuldigen, und sie nickte zum Dank, während er fortfuhr. »Die zweite ist die, dass es uns vorerst auch nicht gelungen ist, die zwei Männer aufzuspüren.« Er sah enttäuscht aus. »Wir haben mit unseren mouchards gesprochen, aber bislang Fehlanzeige.«

»Na ja«, sagte Magda, »nach allem, was Rachel erzählt hat, sind das ziemlich auffällige Erscheinungen, also wird’s wahrscheinlich nicht lange dauern.«

»Ja, vielleicht.« Aber Boussicault sah nicht so aus, als teilte er diese Meinung. Schließlich war »auffällige Erscheinung« relativ. »Immerhin«, jetzt hoffnungsvoller, »haben wir noch etwas, was wir, nur zur Sicherheit, überprüfen müssen. Fingerabdrücke haben wir auf dem Kerzenleuchter keine gefunden, was bedeutet, dass wir gegen Mediouri und Brabinet bislang nur Indizien haben. In solchen Fällen gehen wir gern auch anderen Spuren nach, und wenn auch nur, um sie auszuschließen. Und es gibt tatsächlich eine sehr interessante. Der maître d’hôtel hat angegeben, Monsieur Bowen habe kurz vor

»Aha.« Rachels Stimme war nichts anzumerken. »Ein weiteres Testament.«

»Ja.« Boussicault hob die Schultern. »Ich vermute, sein Anwalt empfahl es ihm direkt nach der Verlesung von Monsieur Bowen pères Testament. Wenn es um große Summen geht, versuchen die Burschen so früh wie möglich, für alle Eventualitäten vorzusorgen. Also statten wir morgen«, wieder sah er in sein Notizbuch, »Cabinet Martin Frères, der Anwaltsfirma der Bowens, einen Besuch ab. Anschließend«, sagte er, während er schon aufstand, »werde ich den Damen erneut Bericht erstatten. Und wenn Ihnen in der Zwischenzeit irgendetwas einfällt, was uns Ihrer Meinung nach weiterhelfen könnte, Madame Levis, dann rufen Sie mich bitte an. Jederzeit.« Er fischte eine Karte aus seiner Tasche und überreichte sie ihr.

Als er aufgestanden war, hatte Magda einen Blick auf ihre Uhr geworfen. »Ich muss auch gehen. Ich habe meiner Mutter versprochen, um elf Uhr jamaikanischer Zeit anzurufen, und es ist fast so weit.« Sie stand auf und sah Rachel aufmerksam ins Gesicht. »Aber ich kann auch bleiben, wenn’s dir lieber ist. Sie wird es schon verstehen.«

»Nein, nein.« Rachel schüttelte den Kopf und lächelte beiden zu. Der Bericht des capitaine hatte ihr neue Kraft gegeben. Ihr Kopf war voll von verschwommenen Möglichkeiten und Nahezu-Schlussfolgerungen, und sie brauchte etwas Zeit, um sie zu erfassen. »Mir geht’s bestens. Wir unterhalten uns später – ich meld mich. Versprochen. Geh du nur.«

An der Tür half der capitaine Magda in den Mantel, dann lächelte er Rachel noch einmal zu. »Ich gehe den ascenseur holen. Madame Levis, wie gesagt …«

Während der capitaine mit langen Schritten zum Fahrstuhl ging, legte Magda die Arme um sie und sah ihr noch einmal forschend ins Gesicht. »Ganz sicher?«

»Ganz sicher.«

»Tja …« Sie sah zweifelnd drein. »Ruf mich später an, ja?«

»Versprochen.« Sie küssten sich. Rachel schloss hinter Magda die Tür und vergewisserte sich, dass beide Schlösser eingerastet waren. Heute Abend würde sie Alan bitten, eine Kette zu kaufen.