In dieser Nacht schlief Rachel kaum. Ihr schwirrte der Kopf. Sie konnte nicht aufhören, Fragen zu stellen und Indizien zu immer neuen Lösungsversuchen zu ordnen. Eine ihrer ursprünglichen Verdächtigen fiel inzwischen flach: Elisabeth hätte Edgar nicht getötet, konnte David nicht getötet haben, weil sie zu dem Zeitpunkt mit Rachel zusammen gewesen war, und sie hätte wahrscheinlich nicht die Kraft gehabt, Catherine zu töten (Rachel weigerte sich zu akzeptieren, dass Catherines Tod ein Selbstmord gewesen war, und wenn das auch die ganze Pariser Polizei behauptete). Einer ihrer Verdächtigen schied für einen Mord aus, aber – aus der Geschichte mit Elisabeth und Mathilde hatte sie ihre Lehre gezogen – das schloss ihn nicht zwangsläufig für die anderen aus: David hatte sich nicht selbst getötet, aber er konnte nach wie vor Edgar und Catherine ermordet haben. Mathilde kam zwar für Edgars und Catherines Tod in Frage, aber dass sie ihren geliebten Sohn getötet hätte, konnte Rachel nicht glauben. Mit anderen Worten – dieser jüngste Todesfall warf wieder einmal sämtliche Möglichkeiten durcheinander.
Aber jetzt hatten sie ein neues Element, das es zu bedenken galt: die zwei Männer. Mediouri und Brabinet. Sie konnten David – oder auch Edgar und David – getötet haben, und sie schienen genau die Sorte Leute zu sein, die bei Bedarf jemanden aus dem Fenster werfen würden. In einer Hinsicht war es eigentlich wahrscheinlicher, dass sie, und nicht David, Edgar getötet hatten. Den eigenen Vater würde man zwar nicht umbringen, aber den reichen Vater seines eifrigsten Kunden gegebenenfalls doch. Das hing aber davon ab, ob Mediouri und Brabinet erwartet hatten, von Edgars Tod zu profitieren – und, rief sie sich in Erinnerung, ob sie zu dem Zeitpunkt überhaupt schon mitgemischt hatten. Sie schienen auch plausible Verdächtige für den Mord an David zu sein. Dazu imstande wären sie allemal gewesen, aber was für einen Grund hätten sie haben können? Wenn er ihnen den Erlös aus dem Bibelverkauf gegeben hatte, hatten sie gerade ein hübsches Sümmchen eingestrichen, und in Anbetracht dessen, was er bekommen würde, sobald der Erbschein ausgestellt wäre, war noch erheblich mehr zu erwarten gewesen. David war jung; er hätte für die beiden auf Jahre hinaus eine stetige Einkommensquelle darstellen können. Es wäre kaufmännisch dämlich gewesen, ihn umzubringen.
Aber jetzt dieses Testament … Sie dachte daran, was Boussicault gesagt hatte: David hatte es erst vor ganz kurzem unterschrieben. Ließ sie diesbezügliche kindliche Hemmungen außer Acht, war es vorstellbar, dass David Edgar wegen seines Geldes getötet und anschließend, um den Koksnachschub zu sichern, Mediouri und Brabinet zu seinen Erben eingesetzt hatte, was diese wiederum dazu veranlasst haben konnte, ihn zu ermorden. Sie biss sich in den Daumennagel. Es lag im Bereich des Möglichen. Sie zu seinen Erben einzusetzen, wäre nicht sehr gescheit oder gut durchdacht gewesen, aber Drogenabhängige waren nicht gerade bekannt für folgerichtiges Denken. David hätte ja auch keinen Grund zu der Annahme gehabt, dass er bald sterben würde, dafür aber jeden Grund, sich einen Nachschub dessen zu sichern, was Mediouri und Brabinet zu bieten hatten. Und dann, mit der Aussicht auf einen großen Betrag, der ihnen nach seinem Tod zufallen würde, hatten die zwei Männer wenig Grund gehabt, ihn weiter zu beliefern, und dafür ein ausgezeichnetes Mordmotiv.
Die Frage war: Hatte David so gehandelt? Stand die Errichtung seines Testaments mit seiner Ermordung im Zusammenhang, oder war die zeitliche Nähe nur Zufall? Rein gefühlsmäßig hätte Rachel gesagt, dass junge Männer – selbst junge Männer, die gerade zu einem Haufen Geld gekommen waren –, es normalerweise nicht sonderlich eilig hatten, Testamente zu machen. Er musste einen besonderen Grund gehabt haben.
Schließlich gab sie den Versuch, Ordnung in ihren Kopf zu bringen, endgültig auf. Sie stieg vorsichtig aus dem Bett; Alan grunzte und öffnete die Augen, ohne aber ganz aufzuwachen. Im séjour war das Fenster pechschwarz. Die Sonne würde frühestens in zwei Stunden aufgehen. Sie setzte sich im Morgenrock an ihren Schreibtisch und schrieb alle ihre unbeantworteten Fragen untereinander auf, versuchte dann, sie zu beantworten, zerknüllte schließlich die Liste und schmiss sie in den Papierkorb. Jetzt wusste sie, was sie machen würde. Sie kehrte ins Schlafzimmer zurück, zog sich so leise wie möglich an, ließ für Alan zwei Zeilen auf dem Tisch zurück und ging aus dem Haus. Sie wäre gern durch den Jardin du Luxembourg gelaufen, aber der machte erst nach Sonnenaufgang auf, also bog sie vor ihrer Haustür nach links und fröstelte sich zur Metrostation Port Royal. Fünfzehn Minuten später war sie in Cadet, der Haltestelle, die Magdas Wohnung am nächsten lag.
Draußen vor der Station blieb sie kurz stehen: Trotz all ihrer Anspannung schlug sie der Pariser Morgen in seinen Bann. Das frühe Sonnenlicht, das seinen Dunst die Rue La Fayette hinabsandte, gewährte einen Augenblick der Gnade; die gleichförmigen flachen Fassaden und die durchgehende Firstlinie des langen Boulevards wirkten zugleich unnahbar und tröstlich, ihre helle Heiterkeit wie der Ausdruck von Gleichgültigkeit gegen zeitweilige Turbulenzen. Sie blickte die lange Straße entlang, atmete die leere Morgenluft ein, und dann nahm sie den Aufstieg zu Magdas Haus in Angriff.
Auf dem Scheitel der langen Steigung der Rue de Rochechouart färbte sich die weiße Kuppel von Sacré-Cœur unter dem heller werdenden Himmel erst rosa, dann gelb. Die Luft roch nach warmer Butter und Hefe, und die Rinnsteine glänzten vom Wasser, das die Kleinlaster der Straßenreinigung versprüht hatten. Gelegentlich schlenderte ein Arbeiter vorbei, eine Zigarette – auf die von tausenden französischen Filmen her vertraute Weise – zwischen Daumen, Zeige- und Mittelfinger gekniffen, während ihm die verkrümmte Handhaltung und die Schleppe von ausgeatmetem weißem Rauch die Faszination eines aalglatten Gangsters verliehen. An jedem anderen Morgen hätte sie ihre Nase mit Backdüften und ihre Augen mit dieser blassen Version Alain Delons vollgesogen und es genossen, in dieser noch halb im Schlaf versunkenen Stadt wach zu sein. An diesem Morgen achtete sie nur auf das Tempo ihrer Schritte.
***
Magda öffnete die Tür, noch während sie ihren Morgenmantel um sich raffte. »Was ist?«
»Ich muss mit Benoît reden.«
»Dann solltest du vielleicht in der Kanzlei anrufen.« Ihr Gesicht war das Inbild der Tugend.
»Seh ich so naiv aus?« Rachel drückte die Tür weiter auf und trat in die kleine Küche. »Würdest du ihn bitte wecken?«
Magda setzte schon zum Protestieren an, als eine Stimme hinter ihr sagte: »Er ist schon wach.« Benoît stand im Bogendurchgang hinter ihr. »Womit kann ich Ihnen helfen, Rachel?« Sein Ton vollbrachte den Eindruck, dass es für ihn eine Lappalie war, seine juristische Meinung in Boxershorts und Unterhemd abgeben zu müssen – und tatsächlich wirkte er in dieser Aufmachung nicht weniger kompetent als in Anzug und Schlips.
»Ich bitte um Verzeihung«, sagte Rachel mit einem entschuldigenden Nicken. »Ich komm deswegen so früh, weil die Polizei gleich bei Öffnung der Kanzlei bei Ihnen auf der Matte stehen wird. Die Sache ist die, dass ich David Bowens Testament einsehen muss. Ich meine, ich würde gern.«
Bevor Benoît darauf antworten konnte, fragte Magda: »Warum?«
»Ich glaube, es könnte Informationen enthalten, die für uns wichtig wären.«
»Zum Beispiel?«
»Ich glaube, es könnte uns der Entdeckung von Davids Mörder einen Schritt näher bringen.«
»Aber es waren doch deine Fahrstuhlmänner, die David getötet haben!« Magda klang verwirrt. »Das hat der capitaine doch gesagt.«
»Nein.« Rachel schüttelte den Kopf. »Der capitaine hat gesagt, dafür sprächen nur Indizien und sie würden auch in andere Richtungen ermitteln.« Sie war selbst von der Entschiedenheit ihrer Stimme überrascht. Irgendwann im Verlauf der Metrofahrt war sie zur Gewissheit gelangt: Wenn sie nur Davids Testament einsehen könnte, würde alles mit einem Schlag klarwerden. Sie musste nur Magda irgendwie überzeugen.
»Hör zu«, sagte sie. »Wahrscheinlich haben sie David getötet. Aber was, wenn nicht? Das Einzige, wofür es sich gelohnt hätte, David zu töten, war sein Geld. Wenn Mediouri und Brabinet dieses Geld sowieso schon im Austausch gegen Drogen bekamen, hatten sie keinen Grund, ihn zu töten. Es sei denn, sie wären durch seinen Tod an mehr Geld gekommen«, sie legte eine kurze Pause ein, »weil sie in seinem Testament standen.«
»Glaubst du wirklich, David hätte zwei Drogenhändlern Geld vermacht?« Magda machte ein skeptisches Gesicht.
»Ich weiß es nicht«, sagte Rachel. »Darauf will ich ja hinaus. Wenn ja, dann können wir praktisch sicher davon ausgehen, dass sie ihn getötet haben. Und dann könnten wir sie auch auf unsere Liste von Verdächtigen für Edgars Ermordung setzen. Der capitaine sagte ja, David hätte ›ihre Dienste oft in Anspruch genommen‹«, zitierte sie Capitaine Boussicaults Worte.
»Ihre Dienste häufig in Anspruch genommen«, korrigierte Magda sie.
»Noch schlimmer! Wir wissen, dass er kein Geld hatte, und wir wissen, dass Edgar ihm keines mehr gab.« Ihr Ton wurde einschmeichelnd. »Ist nicht schwer vorzustellen. David sagt: ›Wenn mein Vater tot wäre, könnte ich euch mit einem Schlag auszahlen und euch sogar noch mehr geben.‹ Mediouri und Brabinet fassen das als Wink mit dem Zaunpfahl auf. David sagt: ›Gott, nein, so hatte ich das nicht gemeint, aber wo es nun mal passiert ist, vermache ich euch einen Haufen Geld, damit ich mir auch in Zukunft eurer Verschwiegenheit und Loyalität sicher sein kann.‹ Und die beiden denken: ›Was kümmert uns die Zukunft? Wir wollen den Schotter jetzt!‹ Also –«
»Also töten sie ihn«, vollendete Magda atemlos den Satz.
»Ja!« Rachel normalisierte ihre Stimme wieder. »Natürlich werden wir nie wissen, ob die Theorie plausibel ist, wenn wir das Testament nicht einsehen können.«
Magda wusste, dass sie gerade eingeseift wurde, Rachel sah es ihr an, aber die implizierte Verlockung – dass sie recht haben könnte! Dass ihre Überzeugung, es sei von Anfang an um Drogen gegangen, alles erklären könnte! – war ihr wohlig unter die Haut gegangen. Rachel wartete mit angehaltenem Atem.
»Pardon.« Benoît stand immer noch im Durchgang. »Ich glaube nicht, dass es darum geht, Magda zu überzeugen.«
Rachel nahm sich zusammen. »Völlig richtig. Verzeihung.«
Er nickte milde.
»Es läge mir sehr viel daran, David Bowens Testament einzusehen. Meine Gründe kennen Sie ja jetzt.« Sie deutete auf den leeren Raum zwischen sich und Magda, als ob die Gründe dort herumstünden. »Wären Sie bereit, mir zu helfen?«
Mit angehaltenem Atem sah sie ihm beim Nachdenken zu: Sie wusste, was immer er sagte, würde richtig sein. Endlich holte er tief Luft und atmete sie dann wieder aus. »Als Erstes«, sagte er, »sollte ich mich anziehen.«
***
»Da wären wir also wieder.« Benoît saß an seinem Schreibtisch und runzelte die Stirn. Rachel stellte sich vor, dass er sich an die gummiweichen Croissants erinnerte, die sie in der boulangerie bei Magda nebenan gekauft hatten. Als sie dabei selbst an die Dinger erinnert wurde, prägte sie sich für künftige Fälle ein, dass köstlicher Duft nicht zwangsläufig mit köstlichem Geschmack einherging. Benoît atmete aus, nahm eine professionelle, straffe Sitzhaltung ein und sagte den mittlerweile vertrauten Spruch auf: »Dieses Testament ist noch nicht bestätigt worden. Ich kann es nur selbst lesen und Ihnen dann paraphrasierend sagen, was darin steht.« Er sprach den letzten Satz sehr langsam und deutlich. Dann schlich ein seltsamer Ausdruck über sein Gesicht. Er hielt sich den Magen. »Ah«, sagte er und legte den Kopf schief, als ob er horchte. »Pardon. Vielleicht sollte ich nicht so zeitig frühstücken.« Er schwieg kurz. Dann legte er die offene Heftmappe auf den Schreibtisch, starrte Rachel an und stand auf. »Würden Sie mich bitte einen Augenblick entschuldigen?« Er richtete den Blick auf den Hefter, dann wieder auf Rachel. »Ich bin gleich wieder da.« Dann verließ er das Zimmer und zog die Tür hinter sich zu.
»Oh nein!« Magda erhob sich halb von ihrem Stuhl. »Glaubst du ihm ist schlecht? Sollten wir nach ihm sehen?« Ihre Miene war besorgt.
»Nein, du Hohlkopf!«, zischte Rachel. »Er ist nur rausgegangen, damit wir uns das Testament ansehen können!«
»Was? Nein, ihm ist schlecht von diesen grauslichen Croissants. Du hast ihn doch gehört.« Sie verharrte in ihrer seltsamen Position, die Knie gebeugt, das Gesäß eine Handbreit über der Sitzfläche schwebend.
»Ihm ist nicht schlecht! Hast du nicht gesehen, wie er zuerst uns und dann den Aktendeckel angesehen hat? Er tut nur so, damit wir einen Blick reinwerfen können!« Rachel sprach so leise und so schnell, dass sie Magda fast mit Spucke besprühte. Um keine weitere Zeit zu vergeuden, erhob sie sich dann ebenfalls halb vom Stuhl und zog das Testament zu sich herüber.
Es bestand aus einem einzigen Blatt. Wie in Edgars Fall war es ein Computerausdruck auf schwerem beigeweißem Papier. Am unteren Ende prangte Davids Unterschrift. Rachel schluckte mühsam und zwang sich, nicht an seinen auf dem Schreibtisch ausgebreiteten Körper zu denken, sondern sich auf die schwarzen Schriftzeichen zu konzentrieren. Zunächst waren es dieselben juristischen Formeln, die auch ihr eigenes Testament einleiteten, aber danach stand da fast gar nichts mehr. David hinterließ einen bestimmten Betrag, der für die künftige Pflege von Edgars Grab sorgen sollte, und den ganzen Rest vermachte er seiner Mutter.
»Kein Mediouri und kein Brabinet«, stellte Magda fest.
»Nein.« Rachel schüttelte den Kopf. Sie musste daran denken, dass Mathilde jetzt endlich doch an Edgars Vermögen herangekommen war.
Magda schien ihre Gedanken zu lesen, denn sie sagte: »Du glaubst doch nicht etwa …«
»Nein.« Rachel schüttelte entschiedener den Kopf. Schon schämte sie sich für ihre Gehässigkeit. »Ich kann es nicht glauben. Sie ist keine Medea. Sie hat nicht ihr eigenes Kind getötet. Unmöglich.«
»Es wäre wohl möglich«, sagte Magda langsam, »wenn man davon überzeugt wäre, dass das Kind sonst alles den Drogenhändlern in den Rachen schmeißen würde.«
Rachel lachte kurz auf. »Mach dir um die mal keine Sorgen. Diese Männer werden schon noch an ihr Geld kommen. Sie werden es sich von der Erbin holen.« Sie klopfte mit dem Finger auf Mathildes Namen. »Und sie wird bezahlen. Das ist ein geringer Preis, wenn sie dafür Ärger vermeiden und die Ehre ihres Sohnes reinhalten kann. Nein«, sagte Rachel, senkte den Kopf und legte die Hände auf den Schreibtisch, »Mathilde hat es nicht getan. Und Matthieu Mediouri und Laurent Brabinet werden hier überhaupt nicht erwähnt, also hatten sie gar keinen Grund, David zu töten. Es wäre für sie günstiger, wenn er noch am Leben wäre. Also stehen wir wieder am Anfang, nur mittlerweile mit drei Morden.« Sie seufzte. Sie war es so leid, alles wieder von vorn zu überdenken, wieder bei null zu beginnen! »Oder vielleicht …« Schließlich gab sie auf. »Wahrscheinlich hatte Edgar wirklich einen Herzinfarkt und ist anschließend in der Suppe ertrunken. Wahrscheinlich war das Ganze bloß eine unbewusste Weigerung, einen Teil meiner Jugend loszulassen.«
»Ho-hoo.« Magda hielt eine Hand in die Höhe. »Das war nur ein bisschen Detektivarbeit, keine existenzielle Abrechnung.«
Aber Rachel blieb regungslos sitzen, die Augen auf ihren Daumen auf dem cremefarbenen Papier geheftet. Sie senkte den Blick auf die Unterschrift, betrachtete Davids kühnes »D«, sein etwas kleineres »B«. Dieselben Initialen wie David Bowie, dachte sie. Nur dass David Bowie nicht bäuchlings auf seines Vaters Schreibtisch gestorben war. Wieder begann das Bild vor ihrem inneren Auge aufzutauchen, und wieder fegte sie es beiseite, indem sie sich auf etwas anderes konzentrierte – diesmal auf die Unterschriften der Zeugen.
»Moment mal.« Sie packte Magdas Handgelenk.
»Was?« Magda blickte wieder auf das Testament, aber als sie wieder aufsah, war ihre Miene ausdruckslos. »Was sollte ich da sehen?«
»Oh Gott«, sagte Rachel. »Natürlich! Nicht zu glauben, dass ich nicht eher darauf gekommen bin … Ich glaub’s einfach nicht.« Sie zog am Arm ihrer Freundin. »Wir müssen los. Wir müssen sofort los!« Sie stand auf. »Jetzt komm!«
Auf dem Korridor kam ihnen Benoît entgegen, der geruhsamen Schritts auf dem Rückweg in sein Büro war. Rachel blieb stehen, ergriff seine Hand und küsste ihn auf beide Wangen. »Danke.« Sie lächelte ihn an. »Vielen herzlichen Dank dafür.«
»De rien.« Er machte ein übertrieben, aber aufrichtig verblüfftes Gesicht. »Es freut mich, dass ich helfen konnte. À bientôt.« Er lächelte, und Magda, warf ihm über die Schulter ein »Ich ruf dich an!« zu, während sie Rachel nach draußen folgte.
***
»Was soll das?«
Rachel stand am Rand der Fahrbahn und schwenkte den rechten Arm. »Wonach sieht’s aus? Ich winke nach einem Taxi.«
»Nein«, sagte Magda, »ich meine, was war eben los? Ich hab offenbar irgendwas nicht mitgekriegt.«
Rachel machte eine abwehrende Geste, während sie den anderen Arm weiterhin hochgereckt hielt. Ein freies Taxi sauste vorbei, dann ein zweites. »Verdammt!«, brüllte sie.
»Ganz ruhig.« Als sie ein drittes Taxi herannahen sah, stellte sich Magda mitten auf die Fahrbahn und zwang es so zu halten. »Okay? Jetzt steig ein.«
»Quai des Orfèvres 67«, sagte Rachel zum Fahrer, sobald sie beide saßen und die Tür geschlossen war. »Und keine Sightseeingtouren.« Wieder mal hatte sie in der Aufregung auf Englisch gesprochen; sie holte tief Luft und bellte: »Nous ne sommes pas des touristes!«
Beleidigt gab der Fahrer Gas, als ginge es in die letzte Runde von Le Mans, wodurch die zwei Frauen in ihre Sitze zurückgeworfen wurden. Während sie sich wieder aufrappelte, sagte Magda: »Willst du mir jetzt endlich sagen, was los ist? Erst schießen wir wie ein geölter Blitz aus der Kanzlei, und dann sagst du gar nichts mehr. Was hast du gesehen?«
»Geölte Blitze.« Rachel kramte in ihrer Handtasche. »Wir sind zu zweit, also muss es ›wie geölte Blitze‹ heißen.«
»Dann meinetwegen geölte Blitze. Was ist los?«
Sie buddelte weiter. »Es war Fulke.«
»Was?«
Rachel nahm die Hand aus der Tasche und sah Magda mit einem entnervten Seufzer an. »Es war Fulke! Fulke hat’s getan! Zuerst hat er ihre Testamente als Zeuge beglaubigt, und dann hat er sie umgebracht.« Sie wandte sich wieder ihrer Tasche zu und förderte endlich ihr Handy zutage.
»Was?« Nachdem sie sich gerade aufgesetzt hatte, ließ sich Magda wieder zurückfallen. »Aber das ist doch gar nicht möglich. Ich meine, Edgar hatte sein Testament nicht gerade erst unterzeichnet. Du sagtest doch, Maître Bernard hätte gesagt, dass er es drei Monate vor seinem Tod aufgesetzt hatte!«
Aber Rachel hackte nur mit dem Finger auf das Display ihres Handys ein und hielt es sich dann ans Ohr. »Capitaine Boussicault«, erklärte sie. Dann: »Capitaine, hier Rachel Levis. Ich hab die Lösung. Zumindest«, sie erinnerte sich rechtzeitig, dass sie mit einem Polizeibeamten sprach, »bin ich mir ziemlich sicher, dass ich die Lösung habe. Es war der maître d’hôtel. Ja, er. Ja. Wir treffen uns dort; wir sind schon unterwegs.« Eine Pause. »Ja, ich verspreche, dass wir draußen warten.«