»Ich glaub’s einfach nicht, dass es der Butler war!«, sagte Alan. Es war derselbe Abend, und er, Magda und Rachel drängten sich um einen Tisch im hinteren Bereich des Bistrot Vivienne. Alan hielt die Augen verlegen gesenkt. »Ich wollte es nicht sagen, aber ich dachte, es würde auf Mathilde hinauslaufen. Nach diesen ganzen Auseinandersetzungen wegen Geld.«

Rachel schüttelte den Kopf. »Es gab gar keine Auseinandersetzungen.«

»Aber –«

»Fulke hatte sie erfunden.«

»Er hatte sie erfunden?«

»Ist das nicht furchtbar?« Magda war deswegen noch immer empört, als ob Mord bestenfalls auf dem zweiten Platz, weit hinter Lügenerzählen rangierte.

»Ich habe ihm die Gelegenheit geboten, mich in die falsche Richtung zu dirigieren, und er hat sie beim Schopf ergriffen. Es hatte mit Edgar keine Auseinandersetzungen wegen Geld gegeben, und sie war Elisabeth gegenüber nicht grausam gewesen.« Rachel korrigierte sich: »Na ja, war sie schon, aber nicht mehr als gewöhnlich. Fulke hat das alles nur erfunden, um unsere Aufmerksamkeit von sich abzulenken.«

Magdas Finger verirrten sich an ihren Hals. Sie sagte grimmig: »Als der Druck entsprechend wurde, wusste er sich zu helfen.«

»Aber worin bestand denn dieser Druck?« Alan zuckte mit den Schultern. »Das kapiere ich immer noch nicht.«

»Es ist nicht krank!« Rachel dachte an Fulke, wie sie ihn zuletzt gesehen hatte, eine graue Gestalt auf der anderen Seite des Tisches unter der Neonbeleuchtung eines Vernehmungsraums. Zunächst von einer Studentendemo auf dem Boulevard Saint-Michel aufgehalten war die Polizei schließlich doch noch eingetrudelt und hatte sie alle ins commissariat gebracht, wo Fulke, nach seiner Vernehmung, den Wunsch geäußert hatte, Rachel zu sprechen. Er hatte gesagt, er wolle sich entschuldigen. »Es ist nicht krank«, wiederholte sie. »Es ist traurig. Er hat die beiden getötet, weil sie ihn in ihren Testamenten nicht bedacht hatten.«

Alan starrte sie verständnislos an. »Was?«

Magda sagte: »Ich hab’s ja gesagt, dass es krank ist.«

Rachel seufzte. »Sie haben ihm nichts hinterlassen. Weißt du noch, ich hatte dir erzählt, dass Magda und ich anfangs dachten, Mathilde könnte Edgar getötet haben, weil sie wusste, dass er die Höhe ihre Erbes verringert hatte?« Alan nickte. »Na ja, wir hatten dabei nicht bedacht, welche Wirkung es haben kann, überhaupt nichts vermacht zu bekommen.« Sie lehnte sich vor. »Fulke arbeitete jahrzehntelang für Edgar, mit absoluter Hingabe. Aber Edgar war es egal. Als es darauf ankam, tat er nichts für ihn. In seinem Testament bedachte er Elisabeth des Troyes, die er für seinen Steuerbetrug gebraucht hatte, und er bedachte seine Exfrau, die sich von ihm hatte scheiden lassen. Aber den Mann, der mehr als zwanzig Jahre lang sein Leben gemanagt hatte, überging er. Und dann, nachdem Fulke im Haus geblieben war, um das Gleiche für David zu tun, geschah das Gleiche noch mal! Er war gut genug, um Testamente zu bezeugen, aber nicht, um in ihnen bedacht zu werden.« Sie schwieg kurz. »Er tat es also, weil er sich«, sie suchte ihre Worte mit Bedacht, »nicht wertgeschätzt fühlte.«

Sie nickte.

»Aber, ich meine, das ist doch kontraproduktiv. Wenn man schon jemanden wegen eines Testaments umbringt, dann will man doch wohl in diesem Testament stehen

»Das waren genau Fulkes Worte, als er versuchte, mich von der Fährte abzubringen! Und natürlich ist das, logisch betrachtet, ja auch richtig. Aber verschmähte Liebhaber handeln nicht logisch. Und genau das war Fulke im Grunde.« Sie schüttelte bekümmert den Kopf. »Er lebte über zwanzig Jahre lang mit Edgar zusammen, kochte für ihn, erriet seine Bedürfnisse im Voraus. Und dann musste er mit einem Schlag erkennen, dass er für Edgar als Person gar nicht existierte.« Sie dachte einen Augenblick nach. »Das ist vermutlich das Problem, wenn man Bedürfnisse vorausahnt. Wenn man es gut macht, erkennt der andere gar nicht, dass er sie überhaupt hatte, also kann er einem auch nicht dafür dankbar sein, dass man sie vorausgeahnt hat.«

»Aber weißt du, etwas finde ich seltsam.« Magda sprach mit nachdenklicher Stimme. »In Bezug auf Edgar ist das, auf eine schräge Weise, schon irgendwie nachvollziehbar. Aber David hatte doch gerade erst alles geerbt – es war doch noch gar keine Zeit gewesen, sich irgendwelche falschen Hoffnungen zu machen.«

Rachel erinnerte sich an Fulkes hängende Schultern, an seine aufgerissenen Augen, als er sie über den Alutisch hinweg angesehen und gesagt hatte: »Monsieur David wusste, dass Monsieur Bowen mir nichts hinterlassen hatte. Und wenn ich für Monsieur Bowen mehr als fünfundzwanzig Jahre lang gearbeitet hatte, hatte ich es für Monsieur David sein ganzes Leben lang getan.« Seine Stimme hatte gezittert. »Ich habe ihm geholfen, sich die Schuhe zuzubinden!«

Rachel hatte den Drang verspürt, seine Hand zu nehmen,

»Es tut mir leid, Fulke«, hatte sie gesagt, und da war ihr der Gedanke gekommen, dass es das erste Mal sein musste, dass sich jemand bei einem Mörder für dessen Motiv entschuldigte.

»Danke, Madame Levis.« Förmlich bis zuletzt.

»Beständigkeit erzeugt eine ganz spezifische Bindung«, sagte sie zu Magda, mit ihren Gedanken wieder in der Gegenwart. »Kann es jedenfalls. Bei Fulke war es so. Er war eine Konstante in Davids Leben gewesen, ein liebevoller, treu ergebener Helfer. Aber gerade diese Verlässlichkeit machte ihn für David einfach zu einem Teil des Mobiliars. Wie beim Vater, so beim Sohn. Folglich«, sie zog eine Grimasse, »wie der Vater, so der Sohn.«

»Na ja, nicht ganz«, schränkte Alan ein. »Der Mord an David war weit brutaler. Warum so unterschiedliche Vorgehensweisen?«

Rachel zuckte die Achseln. »Unterschiedliche Umstände. Bei Edgar hatte er mehr Zeit zu planen, über seiner Kränkung zu brüten und seine Rache kalt zu genießen. Während bei David …«

»Ich war sehr wütend. Ich verlor die Beherrschung«, hatte Fulke gesagt. »Andernfalls hätte ich nie den Kerzenleuchter benutzt.« Seine Miene drückte Bedauern aus.

»Und als er begriff, dass es unmöglich sein würde, ein so brutales Verbrechen zu vertuschen«, fuhr Rachel fort, »behauptete er, die Männer aus dem Fahrstuhl seien zu Besuch gewesen. Das war ebenfalls gelogen; sie boten sich einfach als Verdächtige an. Bei Edgar wollte er es aber so einrichten, dass es wie ein natürlicher Tod aussähe, damit kein Verdacht aufkäme und er bleiben könnte, um David zu betreuen. Also wartete er ab, bis Edgar eines Tages den Wunsch äußerte, am Abend eine Suppe zu essen, und kochte extra mehr davon.

»Natürlich spritzte alles überallhin«, übernahm Magda, die diesen Teil der Geschichte schon im Taxi, auf der Rückfahrt vom commissariat, gehört hatte. »Aber er wusste, wo es Ersatz gab. Eine neue Tischdecke, Servietten – und er hatte extra viel Suppe gekocht, sodass er einen neuen Teller füllen und es so aussehen lassen konnte, als wäre Edgar gerade erst mit dem Gesicht hineingefallen. Und dann versteckte er die schmutzigen Sachen, um sie, wenn er am nächsten Tag aus dem Haus ging, zur Reinigung zu bringen.«

»Und hier kommt Catherine ins Spiel«, übernahm Rachel wieder. »Denn sie kam, um ihre Sachen aus der Wohnung mitzunehmen, und zwar bevor er die Wäsche in die Reinigung gebracht hatte. Er sagte nicht, wie, aber sie fand die Original-Tischdecke, die er versteckt hatte …«

»Sie sah auch wirklich wie der Typ aus, der gern herumschnüffelte«, warf Magda ein.

»Apropos Schnüffeln«, sagte Rachel: »In dem Stoß Quittungen, den ich gefunden hatte, war irgendwo dazwischen auch der Abholschein für die Tischdecke. Wenn ich bloß so gescheit gewesen wäre, mir alle Belege einzeln anzusehen …«

»Anfängerinnenfehler.« Magda tätschelte ihr die Hand.

»Wie auch immer, sie fand die Sachen, und bevor sie wieder ging, fotografierte sie sie mit ihrem Handy. Dann erpresste sie ihn mit dem Foto.«

»Madame Nadeau war eine sehr dumme Frau.« Fulke hatte im grellen Licht den Kopf geschüttelt. »Man hätte nie geglaubt, dass sie die Verbindung herstellen würde. Möglich, dass ihre

»Die Tischdecke so schlecht zu verstecken, war aber nicht sein einziger Patzer.« Magdas Bemerkung brachte Rachel wieder in die Gegenwart zurück. »Im Eifer des Gefechts vergriff er sich auch beim Wein.« Die zwei Frauen tauschten einen triumphierenden Blick.

»Er war nervös«, sagte Rachel zu Alan. »Da kann so was schon passieren.«

»Sicher.« Er nickte. »Ich bin auch immer nervös, nachdem ich jemanden in einer Suppe ertränkt habe.«

Sie ignorierte ihn. »Er war nervös, und Edgar hatte die ursprüngliche Weinflasche umgestoßen, während er … äh … in der Suppe um sein Leben kämpfte. Aber Fulke wollte, dass es wie ein einfacher Schwächeanfall aussah, ohne große Unordnung. Und nachdem er Edgar saubere Sachen angezogen hatte …«

Alan zuckte leicht zusammen.

»Ich weiß, aber ich vermute, er war zumindest daran gewöhnt, Edgar beim Ankleiden zu helfen, und ihn vollständig anzuziehen, ging lediglich einen Schritt weiter. Und nachdem er damit fertig war und Tischdecke und Servietten und den Suppenteller ausgetauscht hatte, war die erste Flasche, die ihm in die Hände kam, diejenige, die er eigentlich zu seinem

»Moment mal, der Butler aß Kalbfleisch?« Alan hob die Augenbrauen. »Für mich klingt das so, als ob er wie die Made im Speck gelebt hätte. Er brauchte wahrhaft niemanden zu beerben.«

»Ach, Alan!« Rachel lachte, wurde dann aber sofort wieder ernst. »Darum geht es doch gar nicht, und das weißt du auch. Es geht um Treue. Er war ihnen treu gewesen, und er fand, dass sie ihm das Gleiche schuldeten.«

»Und das völlig zu Recht.« Alan legte seine Hand auf die ihre. »Treue verdient Gegentreue.« Dann richtete er sich auf. »Also: ›Amateur-Detektessen klären unbemerkten Mord auf.‹«

»Detekteusen«, korrigierte Rachel automatisch.

Er ging nicht darauf ein. »Gut gemacht, die Damen. Gestattet mir, euch zum Zeichen meiner Bewunderung eine Flasche sündteuren Champagner auszugeben.« Er hob eine Hand nach dem Kellner. »Eines kann ich dir aber versichern«, sagte er über die Schulter hinweg zu Rachel.

»Was?« Sie lächelte ihn an.

»›Butler‹ kannst du aus deiner Dienstbotenwunschliste streichen. So einer kommt mir nicht ins Haus!«

»Wart mal«, sagte Magda, die noch nicht ganz fertig war, »eine Frage hätte ich noch.«

»Was?«

»Edgar sagte doch, du dürftest dir ein Buch aussuchen, wenn du fertig wärst. Jetzt bist du fertig. Also, welches hast du dir ausgeguckt?«

»Ach, das.« Rachel sah den Kellner kommen. »Das erzähle ich dir nächstes Mal.«