In Rachels Metrowaggon war es warm von den vielen zusammengepferchten Körpern. Auf der anderen Seite des Mittelgangs hockte, ganz vorne an der Sitzkante, eine junge blonde Frau, die an ihrem offenen Gesicht und ihrer strahlenden Sauberkeit auf Anhieb als Amerikanerin zu erkennen war. Die aufgerissenen Augen des Mädchens, die einschläfernde Luft und die gerade durchlebte Bestattungsfeier versetzten Rachel mit vereinten Kräften in die Zeit ihrer ersten Begegnung mit Paris zurück. Eine Zeit, in der sie mit ebenso großen Augen in der Metro gesessen hatte, ebenso ungläubig, dass sie – nicht etwa Audrey Hepburn, keine Romanheldin von Henry James, sondern die gewöhnliche, braunhaarige, reale Rachel Levis – wirklich und wahrhaftig in Paris war.
Es gab zwei unfehlbare Wege, eine in Paris ansässige Amerikanerin zu werden, dachte sie bei sich. Der erste bestand darin, als junge Erwachsene anzureisen, sich in die Stadt zu verlieben und dann einfach zu bleiben. Es gab hier englischsprachige Schulen, die händeringend nach Lehrkräften suchten, Familien, die Au-pair-Mädchen einstellten, und verschiedene andere Möglichkeiten, sich viele Jahre lang einen (wenn auch bescheidenen) Lebensunterhalt zu verdienen. So war sie hierhergekommen. Frisch graduiert, hatte sie einen zweimonatigen Ultra-intensiv-Französisch-Kurs besucht. Sie wollte Schriftstellerin werden – Paris ist voll von Amerikanerinnen in den Zwanzigern, die Schriftstellerinnen werden wollen – und, trunken von Hemingway und Colette, strebte sie nach pariserischen Erfahrungen, über die sie schreiben könnte. Sie tat all die Dinge, die Ahnungslose in der Lichterstadt so tun: Sie schmökerte gemütlich bei Shakespeare & Co. und fand, dass eine Szene mit einem jungen Mädchen, das gemütlich bei Shakespeare & Co. schmökerte, sich wunderbar als Romananfang machen würde; sie fuhr in einem bateau-mouche auf der Seine und fand, dass es schrecklich romantisch war, in einem bateau-mouche auf der Seine zu fahren; und sie hatte eine Affäre mit einem angenehmen Pariser Jüngling, der zwar nicht mal entfernt wie Jean-Paul Belmondo in Außer Atem aussah, aber französisch genug war, um sich mit ihm mondän zu fühlen.
Jetzt, um zwanzig Jahre klüger, wusste sie, dass solches Festhalten am Klischee in aller Regel zu Enttäuschung führt. In ihrem Fall jedoch war es anders gekommen. Irgendwie war ihr, während sie die Kulissen und Schauplätze so vieler Fiktionen bewunderte, das reale Paris unmerklich ins Blut übergegangen. Während sie von Buchhandlung zu Kathedrale zu Museum fuhr, verfiel sie dem Zauber der blinkenden Lämpchen, die in den Waggons der Metro die Stationen abzählten. Während sie sich beim Versuch, romantische Regen-Spaziergänge durch die rues zu absolvieren, heillos verfranzte, hatte sie begonnen, die monochrome Palette eines pitschnassen Paris zu genießen. Der graue Himmel über grauen Trottoirs, die graue Straßen säumten, das alles erschien ihr irgendwann nicht mehr wie ein tristes Einerlei, sondern wie eine lehrreiche Lektion über die möglichen Nuancen einer einzigen Farbe. All jene, die sich für Paris entscheiden, lieben die Stadt als solche mehr als jeden ihrer einzelnen Aspekte, und das traf irgendwann auch auf sie zu. Ehe der Sommer zu Ende ging, schwärmte sie für Paris als das, was es war, und stellte fest, dass sie den Gedanken, es wieder zu verlassen, unerträglich fand.
Sie erinnerte sich an das winzige Zimmer, das sie sich gemietet hatte, im obersten Stock eines fahrstuhllosen Gebäudes im VI. Arrondissement: eisig im Winter und bullenheiß im Sommer, aber mit Aussicht auf die Spitze des Eiffelturms. Ein Sortiment von schlecht bezahlten Jobs hielt sie gerade so über Wasser, und spätabends saß sie an dem Tischchen, das gerade noch in ihr Stübchen hineinpasste, und schrieb die Gedichte, die sie gerade als die Hauptsache in ihrem Leben zu empfinden begann. Sie war glücklich. Also blieb sie.
Ihr Sitznachbar setzte sich um, und seine Bewegung riss sie aus ihrer Träumerei. Der Zug wurde langsamer. Die junge Frau hatte offenbar ihre Haltestelle erkannt, denn sie lächelte und stand auf. Beim Anblick der Bauchtasche, die sie umgeschnallt hatte, dachte Rachel an die zweite Möglichkeit, ein amerikanischer expatriate in Paris zu werden: von dem finanzstarken Arbeitgeber – Bank, Anwaltsfirma, Behörde – dorthin geschickt zu werden und seinen Job so gut zu machen, dass man nie wieder abberufen wurde. Auf die Weise war Edgar hier gelandet. Er war als Repräsentant einer expandierenden Bank nach Paris gekommen und während diese immer weiter expandierte, stieg er immer weiter die Karriereleiter hinauf, bis er schließlich der Chef der französischen Abteilung für internationale Finanzen war. Er kaufte sich ein großzügiges appartement im I. Arrondissement, heiratete eine Französin, bekam einen Sohn, und ließ sich ein paar Jahre später auf gesittete Weise scheiden. Er hatte das nötige Geld, um seine alten Interessen mit neuen Anschaffungen zu unterfüttern, und die soziale Kompetenz, um neue Bekanntschaften zu pflegen, bis daraus alte Freunde wurden. Er war zufrieden. Also blieb er.
Als diesen kultivierten, gesetzten Financier lernte Rachel ihn kennen. Sie war Kellnerin und er Gast auf einer Cocktailparty, eine jener wenigen Situationen, in denen der knurrende Magen und der gemästete Bauch der Diaspora einander begegnen. Der Junge-der-nicht-Belmondo-war war mittlerweile längst passé, aber bei Edgar Bowen hätte er sowieso nicht mithalten können. Fünfzehn Jahre älter als sie bewegte sich Edgar in Welten, die Rachel bislang nur über den Rand eines Serviertellers hinweg erahnt hatte. Ohne sie je gönnerhaft zu behandeln, bot er ihr Gelegenheiten, sich zu verfeinern und zu formen. Er ging mit ihr in Galerien statt Museen, in überraschende Restaurants, die er, wie ein richtiger Pariser, zufällig entdeckt hatte. Gemeinsam verbrachten sie Stunden in Antiquariaten, versenkten sich in ihre jeweiligen Funde und besprachen sie anschließend bei einem trockenen Weißwein im nächsten Bistro. Sie tappte barfuß durch seine Wohnung und schwelgte in ihren Vorzügen gegenüber ihrem winzigen Zimmerchen. Jetzt, im dampfigen Metrowaggon, konnte sie noch immer das ernste, respektvolle Gesicht sehen, mit dem er ihr zugehört hatte, als sie ihm zum ersten Mal ein paar ihrer Gedichte vorlas, und sich daran erinnern, wie er die Veröffentlichung ihres ersten Lyrikbändchens gefeiert hatte. Ohne ihn hätte sie nie den Mut aufgebracht, das Dichten zu ihrem Beruf zu machen. Mit ihm gelang es ihr, Paris so gut kennenzulernen, um es wie selbstverständlich mit der alltagstauglichen Liebe der Einheimischen zu lieben. Und wenn sie auch, als ihre Beziehung zwei Jahre später endete, weit davon entfernt gewesen war, une parisienne zu sein, wurde sie doch allmählich erwachsen.
Während sie das Mädchen beobachtete, wie es vor dem Fenster den Bahnsteig entlangging, wusste Rachel, dass sie nie wieder so offen, nie wieder so unwissend sein würde. Diese inzwischen längst verlorene Ahnungslosigkeit war das, was sie und Edgar am Ende auseinandergebracht hatte: Sie hatte gerade am Anfang gestanden, als er bereits im Begriff gewesen war, sich zur Ruhe zu setzen. Und das trennte sie mehr, als jede Folge von Kränkungen oder wütenden Auseinandersetzungen es jemals vermocht hätte. Nach zwei Jahren hatte er die Sache mit Anstand und so viel Zartgefühl, wie unter den Umständen möglich, beendet. Danach, sobald sie kein Liebespaar mehr waren, hatten ihrer beider Leben keinen Anlass mehr gehabt, einander zu berühren. Ihr Schmerz über die Trennung zog sich von einer offenen Wunde nach und nach zu einem Nadelstich zusammen; ihre Zeit mit ihm schien irgendwann in die Ferne gerückt. Wieder ein paar Jahre später lernte sie Alan kennen, und da Alan ebenfalls ein Expat war und für eine große internationale Bank arbeitete, begegneten sie Edgar gelegentlich auf Partys und zu Anlässen wie dem Bal Rouge, der alljährlich im Februar stattfindenden Wohltätigkeitsgala der Pariser Finanzgemeinde. Sie lächelten sich zu, tauschten Wangenküsschen und machten Konversation, aber die einzige Möglichkeit, die unbestimmte Befangenheit ehemals Verliebter zu vermeiden, war vorzugeben, sie seien bloße Bekannte.
Und jetzt war er tot. Jetzt, dachte Rachel, als sie an ihrer Haltestelle ausstieg, würden sie nie die nötige Entspanntheit miteinander erreichen können, um wieder ein richtiges Gespräch zu führen. Jetzt hatte sie eine ihrer wenigen noch bestehenden Verbindungen zu der Zeit verloren, als sie noch weniger selbstsicher, aber dafür bei weitem sicherer gewesen war, wer sie eigentlich war. Mit diesem Verlust wurden die vergangenen Rachels ein bisschen weniger wirklich, die jetzige Rachel ein bisschen mehr zu ihrem einzigen Ich, und die vollständige Rachel wurde insgesamt ein wenig unbekannter. Und da ging ihr plötzlich auf, welche Tragweite Edgar Bowens Verschwinden für sie wirklich besaß. Sie hielt einen Augenblick auf dem Bahnsteig inne und gedachte des Toten.