Edgar war seit ihrer gemeinsamen Zeit in eine größere Wohnung umgezogen, stellte Rachel fest, aber die résidence hatte er nicht gewechselt. Warum auch? Das Erste war das eleganteste und luxuriöseste Arrondissement von Paris, und der Quai des Orfèvres eine seiner hübschesten Offenbarungen. Rachel befand sich nicht mehr als zwanzig Meter von der Reiterstatue Heinrichs IV. auf dem Pont Neuf und den Strömen von Fahrzeugen und Touristen, die ihn unablässig überquerten, entfernt, aber in dieser engen Straße am Ufer der Seine war es so still wie auf dem Land, und selbst die Busse, die hier gelegentlich durchkamen, schienen ihre Motoren rücksichtsvoll zu dämpfen. Das fünfstöckige Gebäude, das sich vor ihr in die Höhe reckte, stand seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gelassen da, und sie vermutete, dass Edgar von seinen vorderen Fenstern aus einen Blick auf den Fluss gehabt hatte. An seiner Stelle wäre sie auch nicht von hier weggezogen.
Das I. Arrondissement beherbergte, wie sie wusste, viele solche Orte. Sie dachte an Galignani, die Buchhandlung am Ende der Rue de Rivoli, die seit über einem Jahrhundert, von keinem Touristenfuß entweiht, stillvergnügt englischsprachige Bücher verkaufte; an den Innenhof des Louvre bei Nacht, menschenleer, aber mit der Glaspyramide, die wie eine von innen beleuchtete überdimensionale CD-Hülle den Platz überstrahlte. Wenn man schon nicht im Sechsten wohnen konnte, sagte sie sich, war das Erste eine gute zweite Wahl. Über ihren unbeabsichtigten Witz grinsend tippte sie den alten Türcode in das Tastenfeld. Zu ihrer Überraschung funktionierte er. Sie horchte auf das Klappern ihrer Schuhe auf dem Marmorfußboden, während sie durch die Eingangshalle zum Aufzug ging.
Auf der Fahrt hinauf in den zweiten Stock wurde sie wieder nervös. Die Situation war ihr in jeglicher Hinsicht ungewohnt. Sie hatte nicht einmal gewusst, was sie anziehen sollte. Erst nach Beratung mit Magda hatte sie sich für ein schlichtes schwarzes Kleid und schlichte schwarze Schuhe entschie- den.
»Es ist ein feierlicher Anlass«, hatte Magda zu bedenken gegeben. »Er hat immerhin etwas mit einem Todesfall zu tun. Mit Schwarz kannst du nichts falsch machen.«
Rachel hatte gehofft, dass das Outfit ihr zumindest ein bisschen Selbstvertrauen schenken würde, aber momentan fühlte sie sich darin lediglich wie eine nervöse Frau in einem schwarzen Kleid. Sie zog den Mantel enger um sich und klingelte an Edgars Tür.
Die Tür schwang auf und gab den Blick frei auf einen imposant dastehenden Butler.
»Fulke?« Rachel staunte.
Der Butler nicht. »Madame Levis.« Er trat beiseite, um sie hereinzulassen. »Stets ein Vergnügen, Sie zu sehen, Madame.« Er sprach so, als sei sie ein häufiger Gast.
Fulke war schon Edgars Butler gewesen – na ja, damals noch eher etwas wie ein »Haushalts-Manager« –, als Edgar und Rachel gerade anfingen, sich zu treffen. Obwohl es sie verblüffte, ihn noch immer vor Ort vorzufinden, musste sie nach kurzem Nachdenken zugeben, dass sie nicht eigentlich überrascht war. Fulke hatte schon zwanzig Jahre zuvor unüberwindlich gewirkt, und die Zeit hatte weder an seiner Größe noch an seiner eindrucksvollen Masse etwas geändert. Er vermittelte einen Eindruck von Ewigkeit, wie ein menschgewordener Familienschatz, und so schien es irgendwie richtig, dass er, nachdem er Edgar während seines ganzen Lebens in Frankreich gedient hatte, ihn nun auch daraus hinausgeleiten sollte.
»Ein trauriger Anlass, Fulke«, sagte sie. Sie sah den Schatten einer Gefühlsregung über sein Gesicht huschen, aber er war zu sehr der treue Bedienstete, um irgendetwas preiszugeben. Stattdessen neigte er lediglich den Kopf, während er ihr den Mantel abnahm. Nachdem er ihn aufgehängt hatte, deutete er in die Tiefen des appartements. »Madame.« Er führte sie den Korridor entlang zum entsprechenden Zimmer.
Rachel und Alan waren alles andere als arm, aber die Wohnung, durch die sie jetzt ging, machte klar, dass Edgar wirklich reich gewesen war. Sie kam an einem langgestreckten Esszimmer mit einem Nussbaumtisch vorbei, an dem zwei scheinbar endlose Reihen von Stühlen standen. Durch die Doppeltür auf der anderen Seite des Korridors blickte sie kurz in einen sorgfältig in Graubraun und Gold gehaltenen salon, blasse Ölbilder und kraftvolle Radierungen an den Wänden, die Fenstertüren zu einer Veranda im Vorübergehen gerade noch zu erkennen. Und das war keine selbstverständliche, geerbte Fülle. Nirgends waren die fadenscheinigen Stoffe, die Atmosphäre von abgewetzter Plüschigkeit zu bemerken, die Rachel in den (sehr wenigen) Häusern von französischen vieilles fortunes, die sie im Rahmen von Alans Arbeit besuchten, erlebt hatte. Edgar hatte zu viel Geschmack und Selbstachtung, um dem Bild eines nouveau riche zu entsprechen, doch er hatte andererseits auch nicht die Zeit gehabt, das selbstverständliche Gefühl von Behagen und Anspruch zu erwerben, das mit altem Reichtum einherging; er hatte sich nicht auf das Bewusstsein stützen können, dass die Fadenscheinigkeit seiner Sesselbezüge von dreihundertjähriger Benutzung herrührte. Dennoch, dachte sie, als Fulke eine Tür zu ihrer Rechten öffnete, wie wunderschön das alles war! Wie wohlgeordnet und wie elegant. Sie betrat das Zimmer und ließ, kurz innehaltend, den Luxus auf sich wirken, während sie die Tür hinter sich ins Schloss fallen hörte.
Hinter einem Schreibtisch am anderen Ende des Raumes saß ein gepflegter Mann in einem grauen Anzug, der sich bei Rachels Erscheinen halb erhob und dann wieder Platz nahm. »Enfin, Madame Levis«, sagte er. Wie alle Franzosen sprach er den Namen vorn mit einem »e« und mit Betonung auf der zweiten Silbe aus. Rachel hatte es längst aufgegeben zu erklären, dass er korrekt »Liviss« lautete, also lächelte sie lediglich und nickte. Er erwiderte das Nicken. »Ich bin maître Bernard, notaire in Monsieur Bowens Anwaltskanzlei.«
Vor dem Schreibtisch waren fünf Sessel aufgereiht. Vier davon waren besetzt, und während Rachel auf den verbleibenden schlüpfte, musterte sie verstohlen ihre mutmaßlichen Mitbegünstigten. Wie sich zeigte, konnte man mit Schwarz durchaus etwas falsch machen, denn sie war die einzige Person im Raum, die sich für diese Farbe entschieden hatte – abgesehen von David, der jenes Ensemble von schwarzer Samtjacke und Jeans trug, das die Winteruniform des Pariser Mannes darstellte. Die drei anderen, die vor dem Schreibtisch saßen, waren allesamt Frauen, und keine von ihnen sah nach Beerdigung aus. Die erste war Mathilde, ihre Haltung noch so kerzengerade, wie sie zwanzig Jahre zuvor gewesen war. Sie trug ein langärmeliges Etuikleid in blassem Karamell, und um ihre Schultern lag ein vollendet gefalteter karminroter Schal. Wie schafften es bestimmte französische Frauen mittleren Alters nur, dachte Rachel, ihre Kleidung gezielt als Vorwurf einzusetzen? Nicht, dass Mathilde es nötig gehabt hätte, auf eine bestimmte Kleidung zurückzugreifen, damit sich ihr Gegenüber minderwertig fühlte; als sie Rachel erkannte, neigte sie den Kopf um eine Winzigkeit – eine Königin, die eine armselige Untertanin zur Kenntnis zu nehmen geruhte. Schlagartig war Rachel wieder vierundzwanzig, zerzaust und verlegen in ihren abgeschnittenen Shorts.
Die Frau im Sessel neben Mathilde war ungefähr in Rachels Alter, vielleicht ein paar Jahre darunter, und mit einer dunklen Pixie-Frisur. Sie trug eine schmal geschnittene marineblaue Hose und einen an der Taille gegürteten marineblauen Blazer über einem Rollkragenpullover aus cremefarbener Wolle; ihr einziges ins Auge fallendes Make-up war dunkelroter Lippenstift. Auch dies erkannte Rachel als einen sehr spezifisch französischen Look: vielbeschäftigte, kompetente Großstädterin, ausreichend selbstsicher, um sich lässig zu geben, aber gallisch genug, um auf Stil zu achten.
Als sie den Blick auf die dritte Frau richtete, sagte sich Rachel, dass die Gruppe ein gutes Triptychon abgegeben hätte – etwas wie »Drei der vier Alter der Frau«. Höchstens Anfang zwanzig, trug dieses Mädchen eine Wolke von langen Haaren, wie man sie bei so vielen jungen Französinnen sah. In ihrem Fall war die Mähne honigblond. Ihr frisches Gesicht war leicht rundlich, mit einem Hauch von Rosa auf den ungeschminkten Wangen, und zusammen mit der entsprechenden Rundheit ihrer Augen verlieh ihr das die Erscheinung einer lieb dreinschauenden Puppe. Sie trug Jeans, Boots und einen Pullover; die Ärmel des Pullovers hatte sie bis über ihre Hände gezogen.
Mit einer Miene, die seinem schwarzen Blazer entsprach, saß David abseits von den Frauen. Er hatte die Beine gekreuzt, war aber in seinem Sessel so weit nach unten gerutscht, dass sie sich gerade nach vorn streckten. Er starrte auf seine Fingernägel, und als Rachel im verbleibenden Sessel Platz nahm, schniefte er.
Fast genau im selben Augenblick räusperte sich der Mann im grauen Anzug. »Da wir nun alle versammelt sind, können wir beginnen.«
Rachel, die zwei lebende Eltern und zwei lebende Schwiegereltern besaß, war noch nie bei einer Testamentseröffnung zugegen gewesen. Aus einem Wirrwarr von Quellen schöpfend, hatte sie sich darunter immer eine Mischung aus Krimiklischees und der Szene in Middlemarch vorgestellt, in der Mr Featherstones Testament verlesen wird. Ohne eine junge Witwe in schwarzen Handschuhen und üppig verschleiertem Kapotthut oder eine Reihe vulgärer raffgieriger Verwandter fühlte sie sich daher betrogen und etwas desorientiert. Fanden testamentarische Eröffnungen wirklich in gut beleuchteten bureaus, vor fünf ganz gewöhnlichen Leuten statt? Wie enttäuschend. Dann bemerkte sie das Funkeln im Auge des Notars. Er zumindest spürte die Dramatik des Moments. Er schlug die Mappe auf, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag, zog eine schmale Brille aus seiner Brusttasche und setzte sie sich auf die magere Nase.
»Alors.« Eine Pause. »Dies ist Monsieur Edgar Bowens Testament, angefertigt vor drei Monaten, bezeugt durch die erforderlichen zwei Zeugen, in diesem Falle Monsieur Bowens Butler und seine Reinmachefrau. Es ist somit rechtsgültig, und es setzt jedes sonstige Testament außer Kraft, das Monsieur Bowen zuvor errichtet haben mag.« Nachdem die Formalitäten erledigt waren, entspannte er sich minimal und fuhr fort: »Erstens hinterlässt Monsieur Bowen, vorbehaltlich der nachfolgenden Verfügungen, sein gesamtes Vermögen seinem Sohn, Monsieur David Bowen.« Er machte eine Geste in Davids Richtung, als ob er der Identifizierung bedürfte. »Dazu gehören diese Wohnung, die durch keine Hypothek belastet ist; Monsieur Bowens Ersparnisse sowie seine Lebensversicherung; schließlich die Ersparnisse aus seiner betrieblichen und privaten Altersvorsorge. Monsieur Bowen père hatte zu beiden Seiten des Atlantiks sehr umsichtige Vorkehrungen getroffen, und wir sind gern bereit, Sie, Monsieur, steuerlich zu beraten.« Maître Bernard gestattete sich ein kleines professionelles Lächeln in Davids Richtung. »Seien Sie unbesorgt, Monsieur Bowen.«
Davids Augen waren noch immer gerötet, und die Bekanntgabe seines neuen Reichtums rief in seiner Miene keinerlei Veränderung hervor. Vielleicht war das sein neutraler Gesichtsausdruck, oder vielleicht doch eine Maske, die er aufgesetzt hatte, um seine Gefühle zu verbergen. Oder vielleicht, dachte Rachel, stand er noch immer unter Schock wegen Edgars Todes. Schließlich war er – wie alt? Fünfundzwanzig? In dem Alter kommt einem der Tod eines Elternteils noch unwahrscheinlich vor, und sein vorzeitiges Eintreten bedeutet zweifellos einen Schock. Er schniefte noch einmal – ein ganz gewöhnliches Schniefen, aber es erinnerte Rachel an ähnliche Schniefer, die er als kleiner Junge von sich gegeben hatte, um ja nicht zu weinen, wenn sie ihm Erde vom aufgeschürften Ellbogen wusch oder ein Pflaster auf ein blutiges Knie klebte. Ihr wurde weich ums Herz.
»Und nun zu den Legaten.« Maître Bernard räusperte sich, wodurch eine makellose Pause entstand. »Erstens vermacht Monsieur Bowen fünftausend Euro dem ›Heim für die Katzen vom Montmartre‹.«
Katzen? Gott, dachte Rachel. Es stimmt wirklich, dass man einen anderen nie richtig kennt. Aber wie sollte man auch jemanden kennen, mit dem man genau genommen seit zwanzig Jahren kein richtiges Wort mehr gewechselt hatte? Sie musste zugeben, dass sie kaum in der Lage war, fundierte Urteile über die Normen von Edgars Handeln abzugeben. Aber trotzdem, die Katzen vom Montmartre? Lieb von dir, Edgar. Sie mochte Tiere.
»Madame Levis.« Der Notar fixierte sie kurz über seine Brille hinweg. Rachel setzte sich wie ein gehorsames Schulkind auf. »Monsieur Bowen hat eine Bitte an Sie.« Wieder eine Pause. »Er bittet Sie, die Sichtung und Katalogisierung seiner Bibliothek zu übernehmen, damit Monsieur David über deren weiteres Schicksal entscheiden kann. Zum Dank für Ihre Mühe vermacht er Ihnen ein Buch Ihrer Wahl.«
Rachel lächelte. Nicht nur ein heimlicher Katzenliebhaber, sondern auch ein heimlicher Romantiker! Was für ein Glück, dass sich Edgars verborgene Qualitäten als so liebenswert entpuppten. Er hatte sich an diese Nachmittage erinnert, die sie zusammen in Buchläden verbracht hatten, hatte sich weiterhin an ihrer Freude daran erfreut. Eine Sekunde lang schnürte sich ihr die Kehle zusammen. Dann spürte sie den scharfen Blick des Anwalts auf sich ruhen, und die Sekunde war vorbei.
Der notaire räusperte sich abermals und atmete ein. »Catherine Nadeau« – die Frau mit den roten Lippen beugte sich vor – »hinterlässt er siebentausendfünfhundert Euro«, dann las er von dem vor ihm liegenden Blatt ab, »›zum Dank für deine Liebe und für unsere gemeinsame Zeit.‹«
Rachel hatte sich schon gedacht, dass die Frau Edgars aktuelle Freundin gewesen war, und es freute sie, sich bestätigt zu sehen. Ihre Freude hinderte sie allerdings nicht daran, die Reaktion der Frau zu beobachten. Catherine Nadeau grinste kurz über das ganze Gesicht; dann verflog das Lächeln, ihre Miene fiel in sich zusammen, und sie brach in Tränen aus. Sie hob ihre Handtasche auf, die sie neben sich auf den Boden gestellt hatte, und begann, darin nach irgendwas zu kramen, womit sie sich die Augen trocknen könnte. Bevor sie irgendetwas finden konnte, zauberte Maître Bernard mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung ein Taschentuch hervor, lehnte sich über den Schreibtisch und reichte es ihr. Klar hatte er ein Taschentuch parat, dachte Rachel; in seinem Metier muss er ja ständig welche brauchen. Prompt fühlte sie sich mies wegen dieses Gedankens.
Catherine Nadeau hatte sich gesammelt, und der notaire gestattete der Atmosphäre, sich wieder zu beruhigen, bevor er fortfuhr. »Jetzt zu Madame Bowen. Ihnen hinterlässt er zehntausend Euro.«
Mathildes Ausdruck blieb unverändert, aber nicht einmal sie hatte alles unter Kontrolle: Eine einzige Mikrosekunde lang – so kurz, dass Rachel fast an ihrer Wahrnehmung zweifelte – zuckte sie zusammen. Dann nickte sie wieder, eine weitere winzige Kopfbewegung.
Maître Bernard atmete ein, dann wieder aus. »Und nun, Mademoiselle des Troyes.«
Das blonde Mädchen richtete sich auf, und ihre Augen weiteten sich. Sie klemmte sich die Unterlippe zwischen die Zähne. Man hätte tatsächlich, dachte Rachel, eine Stecknadel fallen hören können.
»Ihnen hinterlässt Monsieur Bowen …« Er spähte konzentriert auf das Dokument in der Mappe, als sähe er es zum ersten Mal. »Ah, ja, ›in Zuneigung und Dankbarkeit …‹«
Jetzt komm schon zu Potte!, schrie Rachel innerlich.
»Er hinterlässt Ihnen zwanzigtausend Euro.«
In ihrem ersten Jahr auf dem College hatte Rachel in ihren Referaten zu einer gehäuften Verwendung des Wortes »außergewöhnlich« tendiert: Bücher waren »außergewöhnlich«; Philosophen hatten »außergewöhnliche« Gedanken. Dann hatte einer ihrer Dozenten ihr einmal an den Rand eines Aufsatzes geschrieben: »Welches Wort werden Sie verwenden, wenn etwas wirklich außergewöhnlich ist?«, und damit hatte es dann aufgehört. Jetzt war Rachel froh, dass sie das Wort all die Jahre lang hatte ruhen lassen, denn die Reaktion, die sich auf diese Eröffnung hin in Elisabeths Gesicht abspielte, war im wahrsten Sinne des Wortes außergewöhnlich. In rascher Folge zeichneten sich darin mehrere Ausdrücke ab: der einer Frau, die ein Geschenk erwartet hatte; der einer Frau, die weiß, dass es ein Zeichen von schlechter Erziehung ist zu zeigen, dass man ein Geschenk erwartet hatte; und schließlich der Ausdruck einer Frau, die plötzlich feststellt, dass sie ein größeres Geschenk erhalten hat, als sie je hätte erwarten können. Nicht, dass Rachel sich diese Veränderungen mit solcher Exaktheit ausbuchstabiert hätte. Sie spürte sie, erkannte sie wortlos, aber wenn sie in dem Moment gefragt worden wäre, was sie gesehen hatte, hätte sie nur sagen können, dass das Mädchen erblasste.
Mathilde sprach. »Aus welchem Grund?« Ihre Augenbrauen hoben sich minimal. Ihre Stimme war absolut gleichmütig.
Der Blick notaire schnellte kurz in ihre Richtung. »Wie ich sagte, ›in Zuneigung und Dankbarkeit‹.«
Was bedeutet das?, hätte Rachel gern gefragt. Sie konnte unmöglich die einzige Person im Raum sein, die sich das fragte, aber alle saßen nur stumm da: Mathilde so regungslos, dass sie wie eine Statue wirkte; David mit einem wippenden Knie; Catherine Nadeau, ohne Elisabeth des Troyes’ bleiches – und jetzt verwirrtes – Gesicht aus den Augen zu lassen; und sie selbst, Rachel, zu fremd unter den Anwesenden, um auszusprechen, was alle beschäftigen musste. Und was den Notar betraf – er schloss die Lippen und übte sich in Verschwiegenheit.