»Zwanzigtausend Euro?« Magda betonte es so, als könnten dem Notar versehentlich drei Nullen zu viel herausgerutscht sein.
Rachel nickte. »Zwanzigtausend Euro.«
Sie hatte sich mit Magda verabredet, gleich nachdem sie Alan von der Testamentseröffnung berichtet hatte; seine Reaktion war vergleichbar ausgefallen, aber das Telefon hatte ihre Dramatik gedämpft. Persönlich vorgebracht behielt Magdas Stellungnahme ihre ganze Wucht. Rachels Freundin unterstrich ihr Erstaunen, indem sie die Augen weit aufriss, als sie »Zwanzigtausend Euro!« wiederholte. Dann fügte sie hinzu: »Was mindestens doppelt so viel ist, wie er jedem anderen vermacht hat.«
»Na ja«, räumte Rachel ein, »abgesehen von David. David bekommt den Löwenanteil des Vermögens, und dagegen sind zwanzigtausend Euro Peanuts, das garantiere ich dir.«
»Aber trotzdem …« Magda schürzte die Lippen. »Edgar hat zwanzigtausend Euro einem Mädchen hinterlassen, das … In was für einem Verhältnis stand sie eigentlich zu ihm?«
»Ich weiß es nicht.« Sie hatte wirklich keine Ahnung, wurde Rachel bewusst. Niemand hatte erklärt, wer Mademoiselle des Troyes war oder wie sie Eingang in Edgars Testament gefunden hatte.
»Also, wenn ein Mann einem Mädchen zwanzigtausend Euro mit – wie war das noch mal? – ›in Zuneigung und Dankbarkeit‹ hinterlässt, ist es ziemlich offensichtlich, welchen Platz sie in seinem Leben einnahm. Beziehungsweise er in ihr – Verzeihung, in ihrem.« Magda kicherte.
Rachel tat so, als habe sie es überhört; Magda hatte solche Momente. Kurz nachdem sie sich getroffen hatten, hatte es angefangen zu regnen, und sie hatten beschlossen, ins Trockene zu flüchten und sich einen Drink in ihrem Lieblingslokal zu genehmigen, dem Bistrot Vivienne. Um nicht auf Magdas Bemerkung eingehen zu müssen, betrachtete sie jetzt den Mosaikfußboden, auf dem sie ihren triefenden roten Regenschirm abgestellt hatte. Gescheit vom Bistro, in der glasüberdachten Galerie Vivienne ein paar Tische aufzustellen. So konnte man dem gemütlichen Geräusch des prasselnden Regens lauschen, während man im Warmen und Trockenen saß.
Sie kehrte zum Gesprächsthema zurück. »Aber der Betrag war gar nicht mal das Erstaunlichste. Das Erstaunlichste war ihre Reaktion.«
Magdas Gesicht bezweifelte deutlich, dass es vieles gab, das erstaunlicher sein konnte als eine ungeklärte Zuwendung in Höhe von zwanzigtausend Euro, aber aus Höflichkeit fragte sie: »Ihre Reaktion?«
»Ja. Ihr Gesicht. Ihr Gesicht war außergewöhnlich.«
»Oh-oh.« Magda tadelte mit dem Zeigefinger. »Professor McNaughton wäre aber gar nicht zufrieden.«
»Nein, nein, das ist es ja gerade! Es war wirklich außergewöhnlich. Es war so … ungewöhnlich.«
Magda seufzte. »Das klingt wie deine Begründung von letzter Woche, als du einen Mord vermutet hast. Könntest du ein bisschen weniger unbestimmt sein?«
Rachel nagte an ihrer Lippe, holte tief Luft. »Also gut.« Sie legte eine Denkpause ein. »Als der notaire sagte, dass Edgar ihr etwas hinterlassen hatte, und dann den Betrag nannte, war sie sprachlos. Absolut. Aber gleichzeitig wirkte sie sprachloser, als sie tatsächlich war.«
Magda sah nach wie vor verwirrt aus. Rachel konnte es ihr nicht verdenken. Sie probierte es noch einmal, schloss die Augen und versuchte, sich in den Augenblick zurückzuversetzen: Der Notar hatte die Worte gesagt; die Augen des Mädchens hatten sich geweitet. Da fiel es ihr ein: »Weißt du, was es war? Meine Mutter sagte früher oft: ›Ich bin schockiert, aber nicht überrascht.‹ Genau so war’s mit dem Mädchen. Zunächst einmal glaube ich gar nicht, dass sie überrascht war, überhaupt im Testament zu stehen. Ich glaube, sie hatte das zumindest halb erwartet. Und sie wusste auch, warum sie drinstehen würde. Aber sie war von der Höhe der Zuwendung schockiert. Und dabei wollte sie nicht, dass irgendjemand merkte, dass sie überhaupt damit gerechnet hatte, im Testament bedacht zu werden. Also kaschierte sie das, indem sie sich zu überrascht über den Betrag gab. Sie übertrieb, aber sie übertrieb etwas, das sie wirklich empfand. Das war das Außergewöhnliche: ihr dabei zuzusehen, wie sie den Verstellungsprozess durchmachte und dann zu ihrer abschließenden Reaktion gelangte.« Rachel lehnte sich zurück, erschöpft, aber erleichtert. Hatte sie es am Ende doch geschafft!
Magda war da offensichtlich anderer Meinung. »Na ja, wie gesagt, das ist nicht gerade viel, oder? Aufrichtige Überraschung, die gleichzeitig irgendwie gespielt wirkt.« Sie zog die Brauen zusammen. »Wie haben denn die anderen auf ihr Glück reagiert?«
Rachel überlegte. »David hat eigentlich überhaupt nicht reagiert. Er hat geschnieft, aber er hat auch sonst viel geschnieft. Ich glaube, er war erkältet. Dass er keine Reaktion gezeigt hat, schien aber nicht weiter verwunderlich. Er hätte sich ohne weiteres denken können, was ihn erwartete; jeder kann sich im Internet über das französische Erbrecht schlau machen.«
Magda stürzte sich sofort darauf. »Warum sollte er das tun? Erweckte er irgendwie den Eindruck, das getan zu haben?«
»Ich sage nicht, dass er’s getan hat. Ich meinte nur, man könnte, und dann hätte man eine Vorstellung davon, was ein Sohn erben kann, und das wiederum könnte der Grund sein, warum er keine besondere Reaktion zeigte. Wahrscheinlicher ist aber, dass er unter Schock stand. Sein Vater war gerade erst gestorben.«
Aber Magda hatte den Punkt schon abgehakt. »Und was ist mit der anderen Frau? Madame Nideau?«
»Nadeau«, korrigierte Rachel sie. »Ja, wenn ich darüber nachdenke, war ihre Reaktion interessant – ihre unmittelbare Reaktion, meine ich. Als sie hörte, wie viel sie bekam, lächelte, ja grinste sie regelrecht, als hätte sie einen Preis gewonnen.«
Magda horchte auf. »Das ist allerdings interessant.«
»Aber nur ganz kurz. Dann fing sie an zu weinen.«
»Also …« Jetzt war es an Magda nachzudenken. »Es wäre möglich, dass ihr in dem Moment bewusst wurde, welches Ereignis der Grund dafür war, dass sie das Geld bekam. Also Edgars Tod. Oder«, ihre nach oben schießenden Augenbrauen kündigten eine zweite Möglichkeit an, »ihr könnte aufgegangen sein, wie sie sich eigentlich verhalten sollte, und sie fing an zu weinen, um ihre Schuldgefühle zu maskieren.«
Vielleicht lag es an Magdas Augenbrauen, vielleicht lag es auch am Wort »maskieren«, jedenfalls erinnerte sich Rachel plötzlich an etwas anderes. »Und dann …«
»Und dann was?«
»›Und dann wer‹, muss es heißen. Mathilde.« Mathilde bedurfte keiner Erklärung; Magda hatte ihre Bekanntschaft gemacht. »Du erinnerst dich doch, ich hatte dir mal gesagt, dass es für sie Ehrensache war, nie irgendeine Reaktion zu zeigen.«
Magda nickte.
»Na ja, als sie von ihrer Erbschaft hörte, da … da zuckte sie kurz zusammen. Ganz automatisch. Es war kein willkürliches Zucken; sie konnte es nicht unterdrücken. Und als sie dann hörte, was Elisabeth bekam, da hob sie die Augenbrauen.«
Magda dachte kurz nach und sagte dann: »Hob sie sie wie? Ich meine: Hob sie sie erfreut?« Sie führte vor, wie sie es meinte. »Oder hob sie sie empört?« Noch einmal, jetzt minimal anders.
»Ah, Letzteres, keine Frage.«
»Bist du dir sicher?«
»Absolut.« Wieder rang Rachel mit einer Erklärung. »Was ihr Gesicht zeigte, als sie die Brauen hob, war kein Ausdruck von Freude. Im Gegenteil, es war Missfallen. Und als der notaire fertig war, wollte sie noch einmal Edgars Begründung für die Zuwendung hören. Sie sagte«, Rachel versuchte, Mathildes eisigen Ton zu reproduzieren, »›Aus welchem Grund?‹ Das war keine frohe Stimme.«
Magda sagte nichts. Rachel begriff, dass sie sich darüber klar zu werden versuchte, was sie von dem Gehörten halten sollte. Sie wartete.
»Na ja, viel ist es immer noch nicht. Aber …« Magda hielt kurz inne. »Es ist auch nicht nichts. Drei Leute, die sich bei einer Testamentseröffnung seltsam verhalten … das ist seltsam. Suspekt.«
»Sag ruhig verdächtig«, sagte Rachel.
»Also schön, ihr Verhalten ist verdächtig. Hinreichend verdächtig, um weitere Untersuchung zu verdienen.«
»Ich weiß, was du jetzt denkst.« Rachel zog sich den Mantel um die Schultern. »Du denkst, dass wir zur Polizei gehen sollten.«
»Nein, tu ich nicht.«
»Nicht?«
»Nein.« Magda sagte es wie eine Selbstverständlichkeit. »Was könnten wir schon erzählen, was überzeugender wäre als das, was wir letzte Woche hatten? Wir können nur sagen: ›Nicht nur soll jemand, den ich kenne, nach einem Herzinfarkt neben einer Flasche Rosé in seiner Suppe ertrunken sein, obwohl er, als ich ihn vor zwanzig Jahren kannte, Rosé auf den Tod nicht ausstehen konnte und sich bester Gesundheit erfreute, sondern als ich zur Verlesung seines Testaments ging, lächelte eine Begünstigte, zuckte eine andere zusammen und erhielt eine dritte eine überraschend hohe Zuwendung.‹« Sie schüttelte den Kopf. »Die würden uns auf dem commissariat nur auslachen.«
Rachel musste ihr recht geben.
»Ich sag dir aber, was wir tun könnten.« Magdas Augen begannen zu leuchten. »Weißt du noch, wie du im Café sagtest, den nächsten verdächtigen Todesfall, in den eine von uns irgendwie verwickelt ist, würden wir untersuchen?«
Rachel nickte.
»Also …« Sie breitete die Hände aus und legte den Kopf schief.
»Also was?«
»Also bitte, da hast du’s!«
»Oh, nein.« Rachel schüttelte den Kopf.
»Oh, doch. Eine Person, die sich auf einer Testamentseröffnung komisch verhält, ist nichts Besonderes. Selbst zwei ließen sich irgendwie erklären. Aber drei Leute, die sich komisch verhalten? Wobei eine von ihnen sich komisch verhält, nachdem sie eine überraschend hohe Summe vermacht bekommen hat? Die Polizei würde das vielleicht nicht groß aufregen, aber es ist praktisch der Anfang eines Agatha-Christie-Romans!«
Magda packte Rachel am Handgelenk. Das war immer ein schlechtes Zeichen.
Rachel unternahm einen verzweifelten Versuch, der Realität wieder Geltung zu verschaffen. »Aber ich muss schreiben. Und du hast deine Arbeit.«
»Ach, die Arbeit«, sagte Magda leichthin. Sie hatte eine Internetfirma, die französische Bett- und Tischwäsche und ähnliche Haushaltsprodukte an Ausländer verkaufte. »Die Seite läuft seit Ewigkeiten wie geschmiert. Mittlerweile muss ich eigentlich nichts anderes tun, als darauf achten, dass der Lieferant das Zeug schnell in die Post gibt, und das kostet mich nur ein paar Anrufe. Und du hast mir gesagt, dass du zurzeit eine Schreibblockade hast.« Ihr Griff wurde fester. »Jetzt komm. Wir können zusammen Detektivinnen spielen. Schnüfflerinnen! Rechercheusen!«
Nicht zum ersten Mal fragte sich Rachel, wie diese Frau, die ihr Grundgefühl, dass jede Zukunft Unheil barg, so offenkundig nicht teilte, zu ihrer besten Freundin geworden war. Wenigstens hatte sie diesmal ein konkretes Indiz, das Magda den Wind aus den Segeln nehmen würde – obwohl die Aussicht, darüber zu sprechen, nicht gerade angenehm war. Sie holte tief Luft. »Ich muss dir was sagen.«
Sichtlich in Träumen noch auf der Jagd nach versteckten Dokumenten und entscheidenden Entdeckungen, war Magda nicht sonderlich interessiert. »M-hm?«
»Ich hab Edgars caviste angerufen.«
»Wen?«
»Edgars caviste. Die Cave Bernard Magrez.«
Magda machte ein höfliches Geräusch. »Aha. Wie hast du die gefunden?«
»Ich hab im Internet gesucht, und als ich den Namen sah, habe ich mich wieder erinnert.«
»Hm? … Moment mal!« Sie sah, dass bei Magda der Groschen fiel. »Du hast doch gesagt, wir dürften nicht ermitteln!«
»Ich habe gesagt, wir sollten von Edgars Tod die Finger lassen.« Rachel wiederholte die Erklärung, mit der sie ihr eigenes Gewissen beschwichtigt hatte. »Aber ich bin meinem Verdacht bezüglich des Rosés nachgegangen. Das ist etwas anderes.«
Offenkundig war Magda nicht so leicht zu besänftigen. »Das machst du ständig! Ständig! Das ist genau wie das eine Mal, wo du …«
»Könntest du bitte nicht wieder damit anfangen? Das war vor fünfzehn Jahren! Und überhaupt«, sie warf ihr die ultimative Ablenkung hin, »hat sich herausgestellt, dass ich falsch lag.«
Volltreffer. »Du lagst falsch?«
»Ja. Anscheinend schloss Edgars monatliche Bestellung immer auch Rosé ein, zwei Flaschen. Also lag ich mit meiner Behauptung falsch, er hätte nie welchen im Haus gehabt. Und du hattest recht: Sein Geschmack hatte sich geändert.« Sie schluckte. »Es gibt also einen konkreten Hinweis darauf, dass Edgar sehr wohl Rosé trank. Was bedeutet, dass er durchaus allein gewesen sein könnte, als er starb, und das wiederum bedeutet, dass es höchstwahrscheinlich kein Mord war.«
»Hmm.« Das war eine Silbe, die Rachel aus Magdas Mund wohlvertraut war, und sie bedeutete keine Zustimmung. »Was bestellte er sonst noch?« Magda kniff ein Auge zu.
Rachel dachte zurück an das Telefonat. »Okay, das mitgerechnet, was er zum Einkellern bestellte … Portwein, Bordeaux, Burgunder, Chardonnay und Merlot.«
»Jeweils wie viele Flaschen?«
Wieder dachte sie nach. »Vom Portwein eine. Dann neun Flaschen Weißen und neun Roten.«
»Verglichen damit sind zwei Flaschen Rosé eigentlich nicht viel.«
»Nein.«
»Tatsächlich ist es so wenig«, sagte Magda langsam, »dass es dafür sprechen könnte, dass er den nicht für sich, sondern für einen Gast kaufte. Einen regelmäßigen Gast.«
»Das war auch mein Gedanke!« Rachel verpasste ihr einen leichten Klaps auf den Arm. »Aber dann habe ich mir gesagt, wenn jemand anders da gewesen wäre, hätten wir davon erfahren – auf der Trauerfeier oder durch die Todesanzeige.«
»Es sei denn«, Magda setzte einen listigen Blick auf, »keiner wusste was davon. Weil die andere Person ihr Gedeck entfernt und sich unbemerkt davongemacht hatte.«
Sie schien von dieser Hypothese so angetan zu sein, dass Rachel ihre Seifenblase nur sehr ungern platzen ließ. Sie tat es trotzdem. »Und vermutlich entfernte sie auch die Suppenspritzer von ihrer fraglos vollgekleckerten Kleidung und schaffte es, auf dem Weg nach draußen von keiner Menschenseele gesehen zu werden.«
»Möglich ist es.« Magda konnte eine Idee nie fallenlassen.
»Aber sehr unwahrscheinlich.«
»›Wenn man das Unmögliche ausgeschlossen hat‹«, sagte Magda mit der Stimme, die sie für Zitate verwendete, »›muss das, was übrig bleibt, so unwahrscheinlich es auch klingen mag, die Wahrheit sein.‹«
»Aber wir haben das Unmögliche ja gar nicht ausgeschlossen«, wandte Rachel ein und dachte, dass Sherlock Holmes’ These ohnehin blödsinnig war. Viele unwahrscheinliche Lösungen waren höchstwahrscheinlich auch unwahr. Wie zum Beispiel, dass ein Suppenmörder hinter sich Reinschiff und anschließend die Flatter machte, ohne vom wachsamen Fulke gesehen zu werden. »Tatsächlich klingt schon dein Szenario unmöglich. Hör dir das im Klartext an: Wir würden nach jemandem suchen, der ausreichend wohlgesonnen und vertraut erschien, um ein regelmäßiger Gast zu sein, aber insgeheim vor mörderischer Wut kochte und der am fraglichen Tag unbemerkt eine zweite Garnitur Kleidung in die Wohnung schmuggelte, sich nach der Tat umzog und dann verschwand. Und alles, ohne gesehen zu werden.« Sie ließ es kurz wirken. »Ziemlich unwahrscheinlich, wirst du doch wohl zugeben.«
Doch Magda gab nicht auf. »Unwahrscheinlich ja. Aber nicht unmöglich.«
Rachel wusste, wann sie nicht weiterkam. »Meinetwegen. Unmöglich wäre es nicht.«
Besänftigt fuhr Magda fort: »Und die Reaktion des Mädchens – wie heißt sie überhaupt?«
»Elisabeth. Elisabeth des Troyes.«
»Schön, Mademoiselle des Troyes’ Reaktion ist ebenfalls merkwürdig. Dito Mathildes Verhalten. Du hattest recht letzte Woche: Ein paar Dinge stimmen nicht und sie verdienen es, unter die Lupe genommen zu werden.« Es war offensichtlich, dass Magda sich in die Idee, Detektivin zu spielen, hoffnungslos verliebt hatte. »Und im Ernst«, sie setzte eine fromme Miene auf, »du bist es Edgar schuldig. Er hat sein Vertrauen in dich gesetzt, und es scheint mir nur recht und billig, dass du das angemessen honorierst.«
Rachel verkniff es sich, darauf hinzuweisen, dass Edgar sie mit der Sichtung seiner Bibliothek betraut hatte, nicht mit der Aufgabe, die ihm am nächsten stehenden Menschen im Zusammenhang mit einer möglicherweise nur eingebildeten Straftat auszuspionieren. Sie dachte an ihren nostalgischen Tagtraum in der Metro am Tag zuvor, an ihre Einsicht, wie wichtig Edgar für sie gewesen war. Unbeabsichtigt hatte Magda den richtigen Nerv getroffen: Sie war es ihm schuldig. Er hatte ihr geholfen, damit aufzuhören, jung zu sein, und anzufangen, interessant zu sein – und, noch wichtiger, interessiert zu sein. Er verdiente etwas zum Dank dafür, selbst wenn sie ihm nichts anderes bieten konnte als ihr postmortales Interesse an ihm. Denn sie war sich sicher, dass sich da etwas Interessantes abspielte. Etwas war seltsam, manche Dinge waren faul, und verschiedene Leute hatten sich auf verdächtige Weise verhalten. Und nach Indizien zu suchen, Spuren zu folgen und Beweise zutage zu fördern … ja, auch ihr gefiel die Vorstellung zu ermitteln. Rachel Levis, Detekteuse, dachte sie. Gab es das Wort Detekteuse überhaupt? Jetzt gab’s das.
»Einverstanden«, sagte sie endlich.
Der Kellner brachte einen weiteren Kaffee für Magda und eine neue heiße Schokolade – diesmal ohne Schlagsahne – für Rachel. Magda fasste ihre Tasse von oben und trank den Kaffee aus der Lücke zwischen Daumen und Zeigefinger. Die Geste besagte, dass sie zu beschäftigt war, um sich mit dem Henkel abzugeben: Sie besagte, dass sie ganz und gar bei der Sache war.
»Also schön.« Sie setzte die Tasse wieder auf die Untertasse, atmete durch. »Als Erstes müssen wir eine Liste unserer möglichen Verdächtigen erstellen.«
»Nicht so hastig, Columbo.« Rachel hob die Hand. »Wer hat dir das Kommando übertragen?«
Magda wand sich vor Verärgerung, musste aber einräumen: »Touché. Du bist diejenige, die Edgar kannte. Du hast das größere Recht, das Kommando zu übernehmen.« Aber daran, wie sie ihre Lippen schmal machte, konnte Rachel erkennen, dass sie verletzt war. »Was meinst du, womit wir den Anfang machen sollten?«, fragte Magda.
»Was ich meine, womit wir den Anfang machen sollten? Ich meine …« Sie ging einen langen Moment lang mit sich zurate und sagte dann: »Ich meine, dass wir als Erstes eine Liste unserer möglichen Verdächtigen erstellen müssen.«
Magda lächelte widerwillig, doch die Luft zwischen ihnen wurde wieder milder. »Okay.«
Rachel fuhr fort: »Ich meine aber auch, dass wir nicht einfach so weitermachen können wie bisher, so mit Ahnungen und Gefühlen und Vielleichts, als wär das Ganze ein nettes Kriminalromänchen. Wir müssen die Sache wie eine polizeiliche Ermittlung aufziehen.«
Zusammen und jede für sich hatten sie unzählige True-Crime-Sendungen gesehen und aufmerksam die polizeiliche Untersuchung der verdächtigen Todesfälle verfolgt, wobei jede Untersuchung mit einer erfolgreichen Festnahme endete. Magda ist vielleicht kein Columbo und ich bin vielleicht kein Sherlock Holmes, dachte Rachel, aber nach diesen ganzen Dokus wissen wir schon, wie man einen Mord handhabt. »Wir müssen logisch vorgehen«, sagte sie. »Wir dürfen keine vorgefassten Meinungen haben, und wir sollten alle möglichen Verdächtigen überprüfen.«
»Also schön, dann los.« Magda atmete tief durch. Sie hob einen Zeigefinger. »Erstens, der Hauptnutznießer: David. Der jetzt einen Haufen Geld hat.«
»Stimmt.« Plötzlich hatte Rachel den schimmernden Flor von Davids Samtjackett vor Augen. »Ich hatte allerdings nicht den Eindruck, dass es ihm finanziell bis dahin schlecht gegangen wäre. Er sah durchaus gutsituiert aus; er war gut gekleidet. Ich würde sogar sagen, gut betucht. Kurzum, ich glaube, er hatte bereits reichlich Geld.«
»Für manche Leute ist reichlich nicht genug.« Magda ließ es so klingen, als hätte sie ihr ganzes Leben in Little Italy verbracht. »Für manche Leute ist es nie genug.«
»Vielleicht.« Rachel verzog das Gesicht. »Aber im realen Leben muss man schon ganz schön abgebrüht sein, um seinen eigenen Vater zu töten.«
»Nicht, wenn man unter Drogen steht.« Wieder dieser wissende Ton. »Jeder weiß, dass reiche Väter verkommene Söhne haben. Vielleicht brauchte er Edgars Geld, um irgendeinen Dealer auszuzahlen.«
»Auch hier, vielleicht.« Rachel stieß den Atem hörbar aus. »Aber ich habe keine Anzeichen von Drogen bemerkt. Er war nicht zappelig; er war nicht rastlos; er wirkte weder weggetreten noch irgendwie aufgepulvert. Er war dünn, aber heutzutage sieht man viele junge Männer, die so sind.«
Magda nickte: Sah man. Außerdem war er ja nur ihr erster möglicher Verdächtiger.
»Also gut, stellen wir ihn erst mal zurück. Aber er ist infolge von Edgars Tod sehr reich geworden, also können wir ihn nicht komplett ausschließen. Setzen wir ihn ans Ende der Liste.« Sie fuhr fort. »Jetzt, Fulke.«
»Fulke?«
Magda zuckte mit den Schultern. »Du sagtest, wir müssten alle möglichen Verdächtigen überprüfen. Er gehört zum Haushalt, also ist er ein möglicher Verdächtiger. Und du hast auch gesagt«, sie schaltete wieder auf ihre Zitierstimme um, »wir würden nach jemandem suchen, der wohlgesonnen und vertraut erschien, aber insgeheim vor mörderischer Wut kochte und Zugang zu einer zweiten Garnitur Kleider hatte. Trifft alles auf ihn zu.« Sie lehnte sich zurück.
»Tut es nicht«, sagte Rachel. »Ich habe ihn gerade gesehen, und er zeigte keinerlei Anzeichen von Wut. Und er ist der einzige Beteiligte, der durch Edgars Tot schlechter dasteht.« Sie begann an ihren Fingern abzuzählen. »Als Edgar noch lebte, hatte er einen Job, eine behagliche Bleibe und ein geregeltes Einkommen. Wenn Fulke ihn getötet hätte, dann hätte er das alles verloren.« Sie überlegte. »Bei Licht betrachtet hat er es wohl auch verloren, außer David behält ihn.« Dann konzentrierte sie sich wieder. »Und er ist extrem loyal. Während der ganzen Zeit, die ich mit Edgar zusammen war, habe ich nicht erlebt, dass Fulke auch nur den Hauch einer Andeutung über ihn gemacht hätte – nicht mal ansatzweise. Und nach seinem Verhalten zu urteilen, als er mich ins Haus und dann wieder hinausgelassen hat, hat sich daran auch nichts geändert.«
»Edgar könnte vorgehabt haben, ihn zu feuern.«
»Sicher, könnte er, aber nichts deutet darauf hin, dass es so war.«
Magda guckte verstockt. »Vielleicht gab es irgendein entscheidendes Ereignis, von dem wir nichts wissen.«
»Jetzt stützt du eine Spekulation mit einer zweiten Spekulation.« Rachel schüttelte den Kopf. »Okay, es könnte etwas dahinterstecken, wovon wir nichts wissen. Aber solange wir das nicht wissen, würde ich sagen, dass er eigentlich nicht auf unserer Liste zu stehen braucht.«
Magda gab nicht nach. »Aber wir können nicht wissen, was wir nicht wissen. Ich glaube, wir müssen bei ihm noch ein bisschen tiefer graben für den Fall, dass da tatsächlich etwas ist, wovon wir nichts wissen.«
»In welche Richtung graben?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht …« Sie dachte nach. »Du sagtest doch eben, dass er der Einzige war, der durch Edgars Tod etwas zu verlieren hatte. Schön, da muss es doch eine Möglichkeit geben herauszufinden, ob das wirklich stimmt. Herauszufinden, ob er sich jetzt in einer schlechteren Lage befindet als zu Edgars Lebzeiten. Etwa, ob er sich einen neuen Job suchen muss oder ob David vorhat, ihn auf die Straße zu setzen?«
Gleichermaßen unsicher sagte Rachel langsam: »Können wir solche Dinge überhaupt herausfinden?« Sie dachte kurz nach. »Versuchen könnte ich’s wohl. Irgendeine Möglichkeit muss es doch geben.«
»Eben, schau doch nur, wie du das mit dem caviste hinbekommen hast!«
Persönlich verbuchte Rachel das zwar als reinen Glückstreffer, aber sie würde bestimmt kein Kompliment ausschlagen. Sie fragte nur: »Lässt du mir ein paar Tage Zeit?«
»Aber klar!« Magda nickte. »Natürlich wird es Zeit brauchen.«
»Und bis wir etwas finden, was unsere Meinung ändert, kann er bitte ans Ende unserer Liste?«
Magda seufzte. »Na schön. Er kommt ans Ende. Aber auf der Liste steht er.«
»Ganz unten. Unter David.«
»Ja, unter David.« Magda gab sich entnervt, aber Rachel sah ihr an, dass sie sich bestens amüsierte: Sie brauchte nur noch ein gebundenes Notizbüchlein, so wie die Detectives von Law and Order immer eines dabeihatten, und sie wäre in ihrem Element gewesen.
»Jetzt«, sagte Magda und holte tief Luft, »kommen wir zu unseren offensichtlicheren Verdächtigen. Nehmen wir sie uns in der Reihenfolge der Höhe ihres Legats vor. Madame Nadeau?«
»Für siebeneinhalbtausend Euro?« Rachel verzog das Gesicht.
»Es haben schon Leute für weniger gemordet«, sagte Magda munter.
Rachel hätte gern darauf hingewiesen, dass dies ihrer Behauptung »für manche ist reichlich nicht genug« direkt widersprach, aber sie behielt es für sich. Schließlich hatten schon Leute für weniger gemordet.
In jedem Fall schränkte Magda ihre Bemerkung gleich wieder ein. »Außerdem wusste sie nicht unbedingt, wie viel er ihr zu hinterlassen gedachte. Oder brauchte es nicht zu wissen. Sie könnte einfach durch die Tatsache motiviert gewesen sein, dass er ihr überhaupt etwas hinterließ.« Sie erwärmte sich für ihre eigene Idee. »Ist doch durchaus denkbar. Er sagt: ›Keine Sorge, Liebling! Du wirst versorgt sein, wenn ich nicht mehr da bin.‹ Sie denkt sich, dass ›wenn ich nicht mehr da bin‹ noch eine ganze Weile hin sein könnte und sie die Knete, mit Verlaub, ganz gerne früher hätte. Also bringt sie ihn um.« Sie dachte einen Augenblick nach. »Oder vielleicht kennt sie den Betrag und braucht ihn sofort. Also bringt sie ihn um. Und«, sie knallte das Wort wie einen Trumpf auf den Tisch, »du hast selbst gesagt, sie hätte gegrinst.«
Das hatte Rachel in der Tat. »Okay. Aber warum brauchte sie das Geld? Wenn wir das nicht wissen, denken wir uns das Motiv doch nur aus.«
»Nicht ›wenn‹ – solange wir das nicht wissen!« Magda klang leicht gereizt, als könnte sie nicht glauben, dass sie Rachel über die elementaren Ziele polizeilicher Ermittlung ins Bild setzen musste. »Das müssen wir eben herausfinden.«
Rachel passte der Ton zwar nicht, aber sie musste ihr recht geben. Sie nickte verhalten.
Magda machte munter weiter. »Jetzt Mathilde. Sie-die-ihre-Brauen-nicht-beherrscht.«
»Jaaa …« Rachel konnte eine gewisse Zögerlichkeit nicht unterdrücken. Jetzt, wo sie das Reich der Spekulation verlassen hatten, jetzt, wo sie sich streng an Vernunftgründe und Fakten hielten, war sie sich ihrer früheren Schlüsse nicht mehr ganz so sicher. »Er hat ihr zehntausend Euro hinterlassen, und sie hat sich seltsam verhalten. Aber man kann jemanden nicht wegen eines Zuckens und eines Stirnrunzelns verurteilen. Wenn wir die Dinge logisch betrachten wollen, dürfen wir auch nicht außer Acht lassen, dass sie reichlich eigenes Geld hat. Altes Geld. Da stellen zehntausend schwerlich ein Mordmotiv dar.«
»Aber es ist ja nur eine Hypothese, dass Edgar wegen Geld getötet wurde. Die Leute töten auch aus anderen Gründen. Ich hab mal irgendwo gelesen, dass es vier Hauptmotive für Mord gibt: Eifersucht, Angst, Vergeltung und …«
»Oh, oh, das ist Inspector Alan Grant in Der Mann in der Schlange! Den habe ich auch gelesen.« Rachel kramte in ihrer Erinnerung und skandierte dann: »›Eifersucht, Angst, Vergeltung und Diebstahl.‹«
»Also, Diebstahl können wir, glaube ich, ausschließen.«
Rachel schürzte die Lippen. »Und Angst, denke ich, auch. Mathilde und Edgar kamen gut miteinander aus, als ich ihn kannte.«
»Also schön, Angst also nicht.« Magdas Erinnerung nach war Mathilde auch eher der Typ, der Angst einflößte, als welche zu empfinden. »Wie wär’s mit Vergeltung – Rache? Das wäre doch weitaus eher ihr Stil.«
»Ja, aber Rache wofür? Ich glaube, sie hatte aus demselben Grund nichts, weswegen sie hätte Rachegelüste hegen sollen, wie sie nichts zu befürchten hatte. Schließlich«, kehrte Rachel die Zuwendung vom Negativen ins Positive um, »hat er ihr zehntausend Euro hinterlassen.«
»Es sei denn«, konterte Magda, »er hat sie ihr als Wiedergutmachung irgendeines Unrechts hinterlassen. Wer weiß schon, was er ihr während der letzten zwei Jahrzehnte vielleicht angetan hatte!«
Es fiel Rachel schwer, sich vorzustellen, Edgar könnte irgendetwas getan haben, was jahrelangen Groll nach sich gezogen hätte. Das passte einfach nicht zu dem, was sie von ihm wusste.
»Ich glaube …« Sie zögerte. »Ich glaube, er hat ihr das Geld wegen David hinterlassen. Sie hatten schon noch eine gewisse Beziehung als seine Eltern, zumindest damals, als ich ihn kannte. Sie besuchte ihn, und er war immer herzlich zu ihr, wenn sie da war. Ich halte es für wahrscheinlicher, dass das die Gründe für das Geld waren.«
»Trotzdem«, drängte Magda, »wer weiß schon, wie sich die Dinge vielleicht geändert hatten?«
Rachel gab nach. »Also gut. Da sie selbst Geld hat, könnten die zehntausend ebenso gut eine Entschuldigung gewesen sein wie ein Zeichen von Dankbarkeit. Also, vielleicht. Vergeltung oder Rache für etwas, wovon wir nichts wissen?«
Magda nickte. »Und jetzt das beste: Eifersucht.«
»Nein.« Rachel schüttelte entschieden den Kopf. »Als ich sie kannte, hat sie nie eifersüchtig gewirkt. Sie war ein Snob, aber sie hat nie irgendetwas gesagt oder getan, was auf Eifersucht hätte schließen lassen.«
»Wirklich? Ich erinnere mich, wie du mir damals sagtest, sie würde ständig bei Edgar hereinschneien. Und auch, dass du das gar nicht so prickelnd fandest.«
Rachel war verwirrt. »Aber das war doch wegen David! Sie kam zu Besuch, damit sie beide mit David zusammen sein konnten, um ihm ein Gefühl von Stabilität zu geben.«
Magda seufzte angesichts der Blauäugigkeit ihrer Freundin. »Rachel, ich habe dich herzlich gern, aber was Menschen angeht, bist du furchtbar naiv.«
Rachel errötete. »Das hast du schon mal gesagt.«
»Weil es schon mal gestimmt hat! Wenn eine Frau ihren Exmann ständig besucht, und besonders wenn sie das gerade dann tut, wenn die neue junge Freundin ihres Mannes da ist, dann besucht sie ihn nicht wegen ihres Sohnes. Sie besucht ihren Mann, um ihn im Auge zu behalten!«
Rachel schüttelte den Kopf noch entschiedener. »Das glaube ich wirklich nicht. Sie war doch diejenige, die sich von ihm hat scheiden lassen!«
»Was nicht unbedingt etwas besagt.« Magda kniff die Lippen zusammen. »Dass du jemanden verlässt, heißt noch lange nicht, dass er aufhören soll, dich zu lieben. Wie jede weiß, die je einen Ex hatte, der jemand Neues kennengelernt hat, während sie selbst noch alleine war.«
Dagegen konnte Rachel nichts vorbringen. Und überhaupt, hatte sie im Laufe der Jahre nicht genügend romantische Dummheiten erlebt, um zu wissen, dass es hoffnungslos war, das Menschenherz verstehen zu wollen? »Also gut«, sagte sie seufzend. »Eifersucht ist ein mögliches Motiv. Vermutlich.«
»Und wir waren uns einig, dass wir vergangene Kränkungen nicht ausschließen können. Also können wir wohl Eifersucht oder Rache festhalten.«
Rachel nickte.
»Das wäre also Mathilde.« Magda malte ein Häkchen in die Luft. »Und jetzt, die glücklichste Erbin. Das Mädchen.«
Rachel dachte einen langen Augenblick lang nach, bevor sie sagte: »Ich weiß nicht.« Sie verzog den Mund. »Sie war einfach … sie war so unschuldig. Sie ist kein Vamp. Sie ist keine Verführerin. Streng genommen ist sie das genaue Gegenteil davon. Sie ist keine Frau, der ein Mann Geld zum Dank für ›geleistete Dienste‹«, sie malte Gänsefüßchen in die Luft, »hinterlassen würde. Und vielleicht ist genau das der springende Punkt: Sie ist überhaupt keine Frau! Sie ist nur ein Mädchen.« Sie nippte an ihrer Tasse. »Das war mein Haupteindruck von ihr: dass sie nur ein Mädchen ist.«
»Aber das ist doch genau die Art von Maske, die eine geübte Manipulantin aufsetzen würde! Und es ist außerdem genau die Sorte Frau, die manche Männer tatsächlich begehrenswert finden.« Magda sah sie aufmerksam an. »Zwischen euch beiden war ein Abstand von fünfzehn Jahren.«
»Das ist ein himmelweiter Unterschied. Ein himmelweiter.« Rachel schüttelte kurz und knapp den Kopf. »Er war vierzig – das ist noch immer vergleichsweise jung. Jetzt ist er sechzig. Beziehungsweise war sechzig. Und ein Abstand von fünfzehn Jahren ist mit einem von fünfunddreißig überhaupt nicht zu vergleichen.«
Magda verdrehte die Augen. »Okay, von mir aus. Trotzdem hat sie eine Menge Geld geerbt. Das allein reicht als Motiv.«
»Aber nur, wenn sie wusste, dass sie es erben würde«, konterte Rachel.
Magda lehnte sich zurück. »Sag mal, was ist eigentlich los? Du warst doch die mit dem Verdacht, dass Edgar ermordet wurde! Und jetzt, wo wir möglicherweise konkrete Indizien haben, willst du partout niemanden als verdächtig gelten lassen. Glaubst du überhaupt noch, dass es ein Mord war?«
»Ja.« Und das meinte sie auch so. Aber … »Es ist nur so, dass es mir albern vorkommt, eine dieser Personen als Verdächtige zu betrachten. Keine von ihnen würde so etwas tun. Ich kenne sie.«
»Du kanntest sie.« Magdas Stimme war sanft, aber bestimmt. »Du hast nach der Bestattung selbst gesagt, dass du sie zuletzt vor zwanzig Jahren kanntest. Du hast keine Ahnung, was in der Zwischenzeit passiert ist. Und zwei von ihnen hast du überhaupt nicht gekannt. Du kannst Möglichkeiten abstreiten, und du kannst überhaupt alles beiseiteschieben, aber wenn wir logisch bleiben«, sie betonte das Wort extradeutlich, »dann sind, soweit du weißt, alle diese Leute mögliche Verdächtige. Jede von ihnen könnte die Killerin sein. Oder der Killer.«
Rachel fingen die Augen an zu brennen. Magda hatte recht. Es war idiotisch, sich einzubilden, sie würde Edgar oder seine Familie noch kennen. Und was die anderen zwei betraf – wie konnte sie wissen, warum Catherine Nadeau gegrinst hatte oder wozu Elisabeth des Troyes fähig war?
»Ja«, sagte sie mit leisem Stimmchen. »Sie sind alle mögliche Verdächtige.«
Wie zuvor Rachel zeigte sich jetzt Magda generös. »In einem Punkt hast du allerdings recht. Was David und Fulke betrifft, haben wir wirklich nichts Rechtes in der Hand. Aber trotzdem bleiben uns wenigstens zwei, vielleicht sogar drei, denkbare Täterinnen.« Sie sah Rachel an. »Sind wir uns einig, dass wir das Mädchen zu unserer Hauptverdächtigen machen sollten? Schließlich ist sie diejenige, die die unbegreiflich hohe Zuwendung bekommen und die sich als Reaktion darauf am seltsamsten verhalten hat.«
Rachel pflichtete ihr bei. »Aber ich glaube, wir sollten Mathilde nicht zu schnell abschreiben. Für ihre Maßstäbe waren diese minimalen Reaktionen so, als würde jemand anders laut schreiend aufspringen.«
»In Ordnung.« Magda schürzte die Lippen. »Fähig wäre sie allemal dazu.«
Rachel dachte bei sich, dass sie, wenn sie auf sich allein gestellt wäre, Mathilde zu ihrer Hauptverdächtigen machen würde. Vielleicht hatte sie kein klares Motiv, aber sie hatte die geeignete Persönlichkeit. Rachel konnte sie sich durchaus dabei vorstellen, wie sie tötete, um ihre Ziele zu erreichen.
Die Schwierigkeit allerdings war, dass ihre Blutleere es unwahrscheinlich machte, dass sie jemanden aus Wut ermorden würde. Sie war viel zu unterkühlt, um die erforderliche Rage zu erreichen, die einen Mord aus Rache oder Eifersucht erforderte. Oder müsste man gerade besonders kaltblütig sein, fragte sich Rachel, um das durchziehen zu können? Sprach Mathildes Zusammenzucken dafür, dass sie nicht blutleer genug war? Schließlich dürfte es ein veritables Herz aus Eis erfordern, jemanden zu töten, den man einmal geliebt hatte – oder gar, wenn Magda recht hatte, noch immer liebte – und der der Vater des eigenen Kindes war. Mathildes ungewolltes Zucken konnte ein Zeichen dafür gewesen sein, dass es Grund gab, sie zu verdächtigen, aber es konnte auch dafür sprechen, dass sie es nicht fertiggebracht hätte. Nichts war klar.
Als läse sie ihre Gedanken, sagte Magda: »Das Problem wird sein, irgendwen dazu zu bringen, das zu sehen, was wir sehen.«
Selbst nach all dem Eifer, den ihre Freundin an den Tag gelegt hatte, wurde Rachel bei diesem »wir«, diesem ausgesprochenen Beweis, dass sie mit ihrer Überzeugung nicht allein dastand, warm ums Herz. »Du weißt, was das, was du gesehen hast, bedeutet, weil du dabei warst«, fuhr Magda fort. »Und ich weiß es, weil ich dich kenne. Wir wissen, dass es ein Mord war – aber wie überzeugen wir eine Amtsperson davon?« Sie reckte ihr Kinn vor, während sie nachdachte, dann gab sie sich schließlich selbst die Antwort. »Wir brauchen mehr Beweise.«
»Ja.« Rachel machte aus dem Wort einen Seufzer. »Aber wo fangen wir an? Und wie?« Die Fragen waren zwar nahezu rhetorisch, aber sie waren durchaus legitim. Sie hatte es gleich zu Anfang gesagt: Sie besaßen keine besonderen Kenntnisse oder Fertigkeiten und keine offizielle Befugnis. Selbst nach dieser Auflistung von Motiven und möglichen Indizien hatten sie eigentlich nichts, worauf sie hätten aufbauen können, außer verdächtigen Mienen und Zuckungen. Wo konnten sie anfangen?
»Du fängst mit der Bibliothek an.« Magda ließ es ganz selbstverständlich klingen. »Edgar hat dir seine Erlaubnis gegeben, dich dort, im Haus, in seiner Welt aufzuhalten. Du wirst schlicht tun, worum er dich gebeten hat, und die Bibliothek organisieren. Hab einfach ein Auge auf die Leute, denen du dabei begegnest.« Sie lächelte. »Und was mich betrifft …« Während sie nachdachte, trommelte sie mit den Fingern auf dem Tisch. »Ich werde damit den Anfang machen, dass ich ein bisschen mehr über Madame Nadeau herausfinde. Ihr Grinsen macht mich irgendwie neugierig.« Ihre Augen leuchteten. Das Spiel hatte begonnen.