Wären Rachel noch letzte Zweifel verblieben, ob sie die Bibliothek lediglich als Ausrede missbrauchte, hätten sich diese in Luft aufgelöst, sobald sie anderntags deren Tür öffnete. So aber verschlug es ihr lediglich die Sprache.

Das Zimmer hatte sichtlich als strukturierter Ort zur Verwahrung und Betrachtung von Büchern seinen Anfang gemacht. An irgendeinem Punkt aber war die Sache aus dem Ruder gelaufen. Es gab durchaus Regalbretter, auf denen Bücher ordentlich in Reih und Glied standen, aber eben auch andere, auf denen die Druckwerke auf der Seite lagen und sich zu Stapeln türmten. Der Fußboden war mit Stößen weiterer, bunt durchmischter Bände übersät. Als wäre des Wirrwarrs damit nicht genug, entdeckte sie, sobald sie sich einen Weg zu den Bücherschränken gebahnt hatte, dass das, was von der anderen Seite des Zimmers aus nach Ordnung ausgesehen hatte, tatsächlich nur geordnetes Chaos war: Lederbezogene, goldgeprägte Einbände schmiegten sich an billige Taschenbücher; viktorianische Autoren rangen mit Shakespeare um Lebensraum. Es gab zwar etwas, was nominell als antiquarische Abteilung hätte durchgehen können, aber selbst da standen Ausgaben aus dem 18. Jahrhundert direkt neben modernen Nachdrucken, welche wiederum waagerecht gestapelt neben gebundenen Zeitschriften aus dem 19. Jahrhundert lagen. Und nichts davon war in irgendeiner Weise geschützt oder konserviert, außer dadurch, dass sie in Regalen lagen und keiner direkten Sonneneinstrahlung ausgesetzt waren.

Die nächsten paar Stunden verbrachte sie damit, die Bücher zu sichten und in eine erste, provisorische Vor-Ordnung zu bringen. Dabei notierte sie sich in Gedanken die Hilfsmittel, die sie benötigte. Block und Bleistift zum Katalogisieren. Etwas, womit sie den Staub angehen konnte. Einen Plan für ihr weiteres Vorgehen. Plötzlich überwältigte sie die Größenordnung der Aufgabe und sie musste sich hinsetzen. Na ja, zumindest brauchte sie sich nicht mehr zu sorgen, dass sie nicht lang genug hier sein würde, um überhaupt ermitteln zu können.

Als sie die Uhr im Salon eins schlagen hörte, entschied sie, dass sie für heute genug hatte. Sie würde nach Hause gehen, duschen, einen Block und ein paar Stifte in ihre Handtasche packen und versuchen, einen Plan zu machen. Wie aufs Stichwort nieste sie. Sie atmete durch die Nase aus, nieste erneut, wischte sich die Hände an der Hose ab und öffnete die Zimmertür.

Fulke musste ein übersinnliches Gehör besitzen, denn als sie die Tür der Bibliothek hinter sich schloss, stand er schon in der Diele und hielt ihren Mantel parat.

»Gesundheit, Madame«, sagte er höflich.

»Danke.« Rachel schlüpfte in die Mantelärmel. »Fulke, meinen Sie, Sie könnten bis morgen einen Staublappen für mich auftreiben?«

»Einen Staublappen?« Sein Ausdruck änderte sich zwar nicht, aber er wirkte leicht befremdet. Vielleicht wegen der , dachte Rachel.

»Ja. Da drinnen ist es sehr staubig, und ich würde gern die Bücher abwischen.«

»Gewiss.« Er verbeugte sich leicht, dann noch einmal, als sie sich bedankte. »Aber hatten Sie, abgesehen vom Staub, einen erfolgreichen Tag?«

»Höchst erfolgreich, danke.« Sie knotete ihren Mantelgürtel zu.

Dieser kurze Wortwechsel erinnerte Rachel an das Versprechen, das sie Magda gegeben hatte. Aber wie stellt man Ermittlungen über einen Butler an? Ihres Wissens hatte Fulke weder Eltern noch Familie, noch ein Leben außerhalb von Edgars vier Wänden – nach allem, was sie wusste, konnte er in einem winzigen Anzug mit Schlips auf die Welt gekommen sein und jeden Tag damit beschließen, dass er in einen Kleidersack stieg und den Reißverschluss zuzog. Danach aussehen tat er allemal. Aber man wird nicht als Butler geboren, sagte sie sich; man wird zu einem. Vermutlich wurde man dazu ausgebildet. Gab es so etwas wie (sie erfand mal wieder ein Wort) Butlerei-Schulen?

Aber auch wenn es solche Institute gab, war Fulke dem seinigen bestimmt schon lange entwachsen. Sie trat an den Rand des Trottoirs und blieb stehen, um sich zu konzentrieren. Also keine Schule. Und wenn keine Schule, was dann? Dann ein … eine … natürlich! Sie schnippte mit den Fingern: eine Arbeitsagentur! Fulke war vermutlich über irgendeine Agentur eingestellt worden, auch wenn das mittlerweile zwanzig Jahre her war. Und wenn er jetzt Edgars Haushalt verlassen und sich eine neue Anstellung suchen musste, dann würde er das vermutlich auf dem gleichen Wege tun: über eine Personalvermittlung. Und sie war sicher, dass Personalvermittler, wie cavistes, online zu finden waren.

Wieder zu Hause, hatte sie nach einer Stunde im Internet

Als sie die vierte Nummer wählte, hatte sie ihren Text schon perfekt drauf. »Bonjour«, sagte sie zu der jungen weiblichen Stimme, die sich gemeldet hatte, und bemühte sich, ihrem eigenen Organ ein rundes, reifes Timbre zu verleihen, randvoll mit Geld und den dazugehörigen Ansprüchen. »Ich hoffe, Sie können mir helfen. Mein Mann und ich tragen uns mit dem Gedanken, einen Butler ins Haus zu holen, und durch das Ableben eines lieben Freundes ist dessen maître d’hôtel, wie wir vermuten, derzeit ohne Anstellung.« Die Stimme machte ein ermutigendes Geräusch. »Aber natürlich kann man nicht einfach fragen, besonders so kurz nach dem traurigen Ereignis.« Die Stimme machte ein mitfühlendes Geräusch. »Also rufe ich die besten Agenturen an in der Hoffnung, diejenige zu finden, die ihn vertritt, um erste Erkundigungen einzuziehen.«

Die Stimme machte ein verständnisinniges Geräusch. Dann fragte sie: »Wie lautet der Name?«

»Der Name des maître d’hôtel?« Rachel wurde siedend heiß bewusst, dass sie Fulkes vollständigen Namen gar nicht kannte.

»Nein, nein«, die Stimme produzierte ein kleines Lachen, »der Name des Arbeitgebers. Die Akte wäre unter dem Namen des Arbeitgebers abgelegt.«

Rachel quittierte das mit einem betuchten Schmunzeln ob der eigenen Gedankenlosigkeit. »Natürlich. Der Name des Arbeitgebers war Bowen. Edgar Bowen.«

»Pardon?« Die Formeln der Diskretion waren verwirrend. »Heißt das, dass der Butler seinen Job nicht aufgibt?«

»Nach unseren Unterlagen, nein.«

»Er arbeitet noch immer für Monsieur Bowen?«

Aber während sie sich darauf konzentrierte, die Codephrasen der Stimme zu entschlüsseln, hatte Rachel vergessen, sich selbst im Zaum zu halten: Ihre Stimme war zu ihrem normalen Tonfall zurückgekehrt. Die andere Stimme sagte einen langen Augenblick lang nichts, und als sie wieder sprach, war sie argwöhnisch und knapp. »Wer spricht da bitte?«

Rachel und Magda waren sich vor langer Zeit darin einig geworden, dass jeder Mensch ein Pseudonym für den Notfall parat haben sollte. »Susan Vandervelt«, sagte Rachel.

»Madame Vandervelt, dürfte ich Ihre Kontaktdaten aufnehmen, damit wir Sie für die Fortsetzung dieses Gesprächs zurückrufen können?«

Rachel und Magda hatten sich über die Wichtigkeit vorgefertigter Kontaktdaten allerdings nie Gedanken gemacht. Rachel spürte, wie das Schweigen sich vor ihr in die Länge zu ziehen und ihr Herz in Panik immer schneller zu pochen begann. Bleib ruhig, befahl sie sich. Denk wie ein Detective. Benimm dich wie ein Detective. Tu, was ein Detective tun würde.

Sie legte auf.

Zwei Minuten später hatte sie Magda an der Strippe und wiederholte ihr die Worte der Stimme.

»Was soll das heißen?«, bellte Magda. »Dass er keine neue Anstellung sucht oder nicht den Dienst quittiert?«

»Da hatte ich auch Schwierigkeiten mitzukommen. Aber

»Also gut. Aber na und?«

Rachel erklärte die Zusammenhänge. »Wenn er nicht versucht wegzugehen, so bedeutet dies, dass er keinen Grund sieht zu gehen. Er macht sich keine Sorgen, dass, wenn er bleibt, jemand etwas herausfinden oder sich zurechtlegen könnte.«

Es folgte Schweigen. Dann sagte Magda: »Oder es könnte bedeuten, dass er glaubt, in Sicherheit zu sein. Oder dass er nichts unternimmt, bis er sicher ist, nicht in Sicherheit zu sein.«

»Nein«, sagte Rachel entschieden. »Das kauf ich dir nicht ab. Und wenn du dich auf den Kopf stellst: Jeder, der gerade einen Mord verübt hat, würde so schnell wie möglich aus der Reichweite jedes Verdachts verschwinden wollen. Besonders wenn es um einen Mord wie diesen geht, bei dem eine Sauerei entsteht, die man selbst oder seine Umgebung abbekommen könnte, und wodurch man nur Aufmerksamkeit auf sich zieht.«

»Vielleicht ist er ja ein routinierter Mörder«, sagte Magda. »Vielleicht ist er so geübt, dass er die Nerven behalten und auf Zeit spielen kann.«

»Er war mehr als zwanzig Jahre lang Edgars Butler.« Rachel verlor so langsam die Geduld. »Wann während dieser Zeitspanne, meinst du, hätte er Erfahrung im Morden sammeln sollen? Oder erwarb er besagte Routine, bevor er bei Edgar in Stellung ging? Vom professionellen Killer zum Butler in einem Hops?«

Wieder verstummte Magda. Als sie endlich sprach, war ihr Ton trotzig: »Na schön«, sagte sie. »Ans Ende der Liste!«