1.1. 2035, Mond-Basis Unity
»Nun fahr endlich los, du störrischer Esel!«
Maxim tritt das Pedal bis zum Boden durch und hält die Lenkstange mit beiden Händen fest umklammert. Auf beiden Seiten des Fahrzeugs steigt eine dichte Staubwolke auf, aber der Rover bewegt sich nicht von der Stelle. Es hilft nichts! Maxim schwingt das linke Bein über das Hinterteil des Fahrzeugs, das wie ein zweisitziges, aber vierrädriges Mofa aussieht, und steigt zur Seite ab. Seine Stiefel versinken ein paar Zentimeter im Mondstaub.
Es ist immer das gleiche. Wie oft ist er in dieser Rinne schon steckengeblieben? Das ständige Strahlungs- und Meteoriten-Bombardement aus dem All hat das Regolith, das Mondgestein, an der Oberfläche in Staub verwandelt. Das gleichförmig graue Material gehorcht der Schwerkraft und rutscht von den Hängen des Mons Malapert, die vor ihm liegen, immer wieder in diese Rinne, die nicht mal einen offiziellen Namen hat, weil sie höchstens zwanzig Meter tief ist und den Astronomen auf der Erde nie aufgefallen ist. Dumm ist nur, dass sie sich genau zwischen der Mond-Basis und dem Solarkraftwerk auf dem Gipfel des Berges befindet.
»Ken, hörst du mich? Maxim hier.«
Im Funkkanal ist nur Rauschen zu hören. Warum hofft er eigentlich immer wieder auf ein Wunder? Er hätte eigentlich gar nicht zu versuchen brauchen, die Basis anzufunken, denn ein Buckel der Bergflanke versperrt die direkte Sicht darauf. Der Mond besitzt keine Ionosphäre, die Funkwellen reflektiert, sodass sie das Ziel auf indirektem Weg erreichen könnten.
Maxim entfernt sich ein paar Schritte vom Rover. Der Boden ist auch hier noch ganz weich. Er seufzt. Das wird wieder eine Menge Arbeit. Seit er seine Dreimonats-Schicht in der Basis übernommen hat, haben sie die Rinne schon dreimal vom Staub befreit. Das Solarkraftwerk auf dem Gipfel versorgt die Station mit lebensnotwendiger Energie. Deshalb müssen sie täglich nachsehen, ob sich dort vielleicht Probleme abzeichnen. Wenn die Erde doch wenigstens das Versprechen wahrgemacht hätte, ihnen hier ein durchgehendes WLAN-Netz bereitzustellen! Aber die nötigen Repeater warten noch in irgendeinem Raumbahnhof auf ihren Start.
Dann muss er Kenjiro eben von weiter oben anrufen. Je eher er den Arbeitsgang anmeldet, desto schneller kann ihn Yue in den Plan aufnehmen. Wie lange wird es diesmal dauern, bis sie dazu kommen? Weil sie chronisch unterbesetzt sind, hängen sie beim Ausbau der Basis um mindestens ein halbes Jahr hinterher. Eigentlich hätte Unity jetzt schon autark sein sollen. Aber davon sind sie noch weit entfernt. Wie lange könnten sie ohne den Nachschub von der Erde überleben? Zwei Wochen?
Maxim klopft auf das Plastik der Lenkstange. Er hört nichts. Keine Atmosphäre, kein Laut. Aber so lebensfeindlich der Mond auch ist, wenigstens unterstützt er sie mit seiner niedrigen Schwerkraft. Maxim stellt sich neben den Rover. Das Gefährt wiegt etwa 200 Kilogramm. Er greift mit der linken Hand unter den hinteren Sattel, mit der rechten hält er die Lenkstange gerade.
»Hau-Ruck!«, sagt er laut, dann hebt er den Rover an.
»Aua!«
Das rechte Vorderrad hat gegen sein Schienbein geschlagen. Maxim beißt die Zähne zusammen. Das gibt bestimmt einen blauen Fleck. Auch mit einem Sechstel seines Erd-Gewichts ist der Rover eben noch keine Feder. In seinem Helm rauscht es. Der Anzug hat automatisch die Kühlung aktiviert. Maxim geht langsam rückwärts, den Rover in seinen Händen. Die Armmuskeln schmerzen. Er hätte doch noch öfter trainieren sollen. Yue, die Verwalterin und Herrin aller Zahlen, hatte ihn ja immer gewarnt.
Dann ist da ein Hindernis. Es muss ein Stein sein, der sich unter dem Mondstaub versteckt hat. Sein rechter Stiefel stößt daran. Der Schritt nach hinten, den sein Körper intuitiv geplant hat, wird in der Mitte gestoppt. Maxim müsste mit dem linken Bein reagieren, müsste es schleunigst nachziehen, aber er reagiert nicht schnell genug. Sein Schwerpunkt wandert nach hinten, über seine Standfläche hinaus. Er verliert das Gleichgewicht, knickt im Knie um und stürzt nach hinten.
Alles passiert in Zeitlupe. Die Schwerkraft zieht ihn nicht so stark, wie sie auf der Erde an ihm zerren würde, aber sie ist genauso konsequent. Nur ein Wunder der Physik könnte ihn noch vor dem Sturz bewahren. Als erstes trifft sein Hinterteil den Boden. Er hat Glück, weil der Mondstaub den Sturz abfedert. Instinktiv lässt er den Rover los, um sich mit den Armen nach hinten abstützen zu können, aber er ist nicht schnell genug. Die Arme können ihn nicht mehr halten. Er kippt mit dem ganzen Körper auf den Boden wie ein gefällter Baum, und der Rover, durch seine Bewegung mit Bewegungsenergie ausgestattet, folgt ihm, prallt auf seinen Bauch und drückt ihn mit 35 Kilogramm zusätzlichem Gewicht weiter nach unten. In seinem rechten Arm knackst etwas. Für Maxim hört es sich wie das Brechen eines trockenen Astes an.
Das kann doch wohl nicht wahr sein! Er versucht, den Arm schnell unter seinem Körper vorzuziehen, aber das ist keine gute Idee. Der Schmerz lässt ihn beinahe ohnmächtig werden. Sein Blickfeld verengt sich zu einem Tunnel, und er spürt, wie der Mageninhalt nach oben wandert, doch er klammert sich mit allen Kräften an die Wirklichkeit. Er darf jetzt nicht das Bewusstsein verlieren, wer weiß, was bei dem Sturz mit seinem Anzug geschehen ist. Wenn er ohnmächtig wird, wacht er vielleicht nie wieder auf. Die Angst davor hält ihn wach. Sein Puls schlägt langsamer. Maxim kommt wieder zu Atem. Er liegt auf dem Mond und starrt in einen schwarzen Himmel. Der Anzug gibt keine Warnsignale von sich, also ist er nicht beschädigt. Alles wird gut. Er ruht sich drei Minuten aus, dann wird er aufstehen und seinen Weg zum Gipfel fortsetzen.
Aus den drei Minuten werden fünf, dann sieben. Maxim zählt die Sekunden mit. Die Uhr am Arm ist zu weit entfernt. Ausgerechnet der rechte! Er muss Kräfte sammeln. Sobald er sich bewegt, werden die Schmerzen wiederkommen. Vorsichtig senkt er den Kopf auf die Brust. Da ist sie, die Erde. Die Flanken des Mons Malapert gehören zu den wenigen Orten auf dem Mond, von denen aus sein Heimatplanet stets zu sehen ist. Deshalb hat man die Basis genau hier errichtet. Die Erde ist 385.000 Kilometer entfernt, im Weltall eigentlich nur ein Katzensprung, aber für sie doch unerreichbar weit weg. Irina wartet dort auf ihn. Sie haben erst vor zwei Jahren geheiratet. Er hat versprochen, zu ihrem übernächsten Geburtstag bei ihr zu sein.
Maxim ächzt. Er dreht den Kopf etwas nach links. Dort funkelt die Sonne wie ein weißer Edelstein. An neun von zehn Tagen beleuchtet sie den Berg. Darum befindet sich das Solarkraftwerk auf dem Gipfel, das er eigentlich in wenigen Stunden überprüfen soll.
Gut, das muss reichen. Er schließt kurz die Augen, um sich zu sammeln.
Eins.
Zwei.
Drei.
Er stützt sich mit dem linken Arm ab und richtet sich auf. Der Rover rutscht ein Stück nach unten und landet auf seinem Schoß. Unwillkürlich bewegen sich die Muskeln seines rechten Armes mit. Der Schmerz zuckt von unten nach oben und erreicht seine rechte Schulter. Maxim stöhnt. Wenigstens ist Wayne weit weg und hört ihn nicht. Der Amerikaner würde sich bloß über ihn lustig machen. Blödsinn. Er wäre sogar ziemlich froh, käme Wayne ihm in dieser Sekunde mit einem anderen Rover entgegen, am liebsten mit dem Lasten-Rover, mit dem sie sonst die Rohstoffe für den 3D-Drucker transportieren. Hinten in der Wanne bräuchte er seinen Arm nicht zu bewegen.
Aber da ist kein Wayne. Da ist nur der Rover. Er muss ihn benutzen, und zwar mit beiden Händen. Die Lenkstange flattert zu sehr, wenn er sie nur mit der Linken zu halten versucht. Aber erst muss er das Fahrzeug von seinen Oberschenkeln bekommen. Mit dem linken Arm drückt er es bis über die Knie. Hoffentlich reißt er sich dabei kein Loch in den Anzug. Aber das Gewebe hält. Er ist schon einmal im hohen Bogen vom Rover gestürzt und im Dreck gelandet, auch da hat ihn der Anzug nicht im Stich gelassen. Er zieht die Beine an den Körper. Der Rover schabt an dem luftgefüllten Stoff über seinen Unterschenkeln vorbei, bleibt kurz am Ansatz der harten Stiefel hängen und landet nach einem Stoß mit der linken Hand auf dem Boden.
Zeit zum Aufstehen, Maxim.
Nun stell dich nicht so an.
Wieder nimmt er den linken Arm zu Hilfe. Er versucht, den gebrochenen rechten Arm zu vergessen, aber der sofort einschießende Schmerz vereitelt das. Trotzdem schafft er es, sich hinzuknien.
Uff.
Gleich hast du es geschafft, Maxim.
Er stellt sich vor, wie sein Vater ihn unerbittlich antreibt. Als Kind hat er das gehasst. Aber es hat ihm trotz alledem geholfen, über sich hinauszuwachsen. So ist er bei den Fallschirmjägern gelandet und schließlich als Kosmonaut im All. Der bestbezahlte Job, den man als Armee-Angehöriger bekommen kann. Er ist nicht wegen des Ruhms oder aus Neugier zum Mond geflogen, sondern wegen des Geldes. Er will Irina ein guter Mann sein.
Los, Maxim, denk nicht so lange nach!
Maxim, sei keine Heulsuse!
Steh auf, verdammt noch mal!
Maxim steht auf. Er hilft mit dem linken Arm nach und muss sich kurz am umgekippten Rover abstützen. Doch dann steht er. Er schwankt zwar ein bisschen, aber er steht. Ha! Siehst du, Vater?
Jetzt der Rover. Nein, zuerst ein Plan. Er muss realistisch sein. Mit dem gebrochenen Arm schafft er es nicht nach unten bis zur Basis. Aber wenn er per Funk durchkommt, ist spätestens zwei Stunden später Hilfe da. Er ist nicht allein auf dem Mond, sie sind zu sechst. Er muss entweder den Buckel in der Bergflanke unter ihm überwinden – oder weiter nach oben, bis er wieder einen direkten Blick zur Basis hat. Aber wenn er nach unten will, muss er noch einmal durch die Rinne. Und wenn er dann wieder steckenbleibt? Zwar zieht ihn alles zurück zur Basis, doch vernünftiger ist es, weiter bergan zu fahren.
Wie weit? Er versucht, das Problem im Kopf zu lösen. Die Basis liegt auf einem Plateau in 3000 Metern Höhe. Er befindet sich in etwa 4200 Metern, der Buckel ist … nein, er weiß zu wenig. Sie müssen unbedingt die Funklöcher in der Umgebung vermessen. Er darf nicht vergessen, Yue diese Aufgabe auf den Plan setzen zu lassen.
Der Rover also. Das Fahrzeug liegt noch auf der Seite. Er beißt die Zähne zusammen. Doch auch so gelingt es ihm nicht, den Schmerz zu ignorieren. Mit der linken Hand zerrt er den Rover nach oben, den rechten Fuß stellt er vor das Vorderrad, damit es nicht wegrutscht. Die Sitzfläche ist voller Staub, aber das ist egal. Er muss aufsteigen. Ein Schritt nach dem anderen. Maxim stellt sich neben den Rover, hält mit der linken Hand die Mitte der Lenkstange fest und schwingt dann das linke Bein auf die andere Seite.
Ha, er sitzt wieder im Sattel. Wer ihn so sieht, wird gar nicht glauben, dass er sich den Arm gebrochen hat. Maxim atmet tief durch. Er dreht seinen Körper so, dass die rechte Hand wie zufällig auf der Lenkstange landet. Er braucht nur noch zuzugreifen. Jetzt! Seine Hand öffnet und schließt sich. Der Schmerz ist unglaublich, er ist so stark, dass er nicht einmal spürt, ob er die Lenkstange hält. Er überzeugt sich davon. Ja, so sollte es funktionieren.
Vorsichtig tritt er auf das Beschleunigungspedal. Lautlos rollt der Rover los. Nur die Vibration des Motors, die er unter sich fühlt, beweist, dass es nicht Magie ist, die das Fahrzeug bewegt. Er fährt schneller. Wie weit muss er den Berg hinauf? Ob 500 Meter genügen? Er wählt zunächst die direkte Route. Der Rover ist für 30 Grad Steigung ausgelegt. Die Deutschen hatten darauf bestanden. Weder der amerikanische noch der russische Rover-Prototyp hatten mehr als 20 Grad hinbekommen. Damals hatte es ihn genervt, weil es das ganze Projekt verzögert hatte. So waren im Grunde die Deutschen schuld gewesen, dass dann die Mars-Kolonie dazwischenkam. Dorthin war dann fast alles Geld geflossen, und für die ehemals großartige Mondbasis waren nur noch Brosamen übrig geblieben.
Und jetzt sitzt er in dem Rover, der unglaubliche 30 Grad schafft – ein Produkt der legendären deutschen Automobilindustrie. Jeder in Russland will ein deutsches Auto fahren, und nun fährt er selbst eines.
Aber der Rover wird langsamer, obwohl er nicht weniger Gas gibt. Die Reifen, grobe Stollen, haben auf dem glatten Fels nicht mehr genug Halt. Das Display an der Lenkstange zeigt 25 Grad Steigung. Er darf es nicht übertreiben. Maxim dreht die Lenkstange etwas nach links. Er kann den Berg ja auch in Serpentinen erklimmen.
Dann fällt ihm sein Fehler auf. Ein grober Fehler. Er hätte nach rechts lenken müssen. Die Basis liegt westlich des Gipfels. Im Norden, den er jetzt ansteuert, sind die Hänge deutlich über 27 Grad steil, teilweise über 32 Grad. Im Süden wäre er mit höchstens 22 Grad durchgekommen. Mist. Er muss zurück. Maxim dreht das Lenkrad nach rechts, so weit es geht.
Der Rover rutscht ein Stück, dann greifen die Räder wieder. Das Heck schwingt herum. Es ist schwerer als die Front; seine Trägheit dreht die ganze Maschine so, dass er schräg nach unten fährt. Maxim bremst, aber die Reifen rutschen wieder durch. Er lenkt nach links. Der Schmerz ist unerträglich. Der Rover bricht aus. Wo ist die deutsche Technik, wenn man sie braucht? Hat das dumme Ding kein ABS, kein ESP? Er schafft es nicht, den Rover zu stabilisieren. Er schleudert hin und her, und dann erreicht er einen Abhang, der vielleicht hundert Meter steil in die Tiefe führt.
Es ist nur ein kleiner Krater. Auf Satellitenbildern ist er vermutlich gar nicht zu sehen. Aber hundert Meter zu fallen, das kann nicht gut ausgehen. Vielleicht ist die Spalte auch tiefer. Maxim kann es nicht erkennen, denn der Boden liegt in ewiger Dunkelheit. Minus 155 Grad kalt kann es darin werden, maximal, das haben sie über solche Krater hier am Südpol gelernt, als sie auf der Suche nach Wasser waren. Atiya hatte ihnen alles eingebläut, was es dazu zu wissen gab.
Er fällt schon, bevor er es realisiert. Maxim ist erstaunt, wie viele Gedanken in einen so kurzen Zeitraum passen. Er gibt Gas und bremst gleichzeitig. Das muss die Todesangst sein, die Panik, die ihn überkommt. Nicht mit mir, Angst. So leicht mache ich es dir nicht.
»Hilfe«, ruft er.
Vielleicht ist ja bereits jemand auf der Suche nach ihm.
»Hilfe! Ich stürze in einen Krater nordnordwestlich den Gipfels. Tiefe unklar. Ewige Dunkelheit am Boden.«
Das war’s. Irina wird ihn nicht wiedersehen. Der Rover rutscht mit jeder Sekunde schneller in die Tiefe. Maxim schafft es trotzdem noch, einen klaren Gedanken zu fassen. Wenn er überleben will, darf der Rover nicht auf ihn fallen. Er muss abspringen, um Platz zwischen sich und das Fahrzeug zu bringen. Es ist verrückt. Er stürzt gerade in einen Krater!
Tu es, Maxim, spring!, ruft sein Vater. Jetzt!
Er springt.
Dann fällt er.
Und schließlich schlägt er auf dem Boden auf. Der Schmerz ist dumpf diesmal. Maxim verliert das Bewusstsein.