1.1. 2035, Mars-Schiff ARES
»Hallo?«
Sie hört die Stimme aus dem Lautsprecher nur leise und verrauscht. Der Bildschirm zeigt streifiges Flimmern. So ein Mist. Judith hatte sich so auf das Gespräch gefreut, und nun ist die Verbindung so schlecht.
»Lisa, bist du das?«
Sie presst die rechte Faust zusammen und sieht aus dem kleinen Bullauge links von ihr. Gerade wandert die schwarze Scheibe des Mondes nach rechts aus dem blauen Antlitz ihres Heimatplaneten. Sie sind so weit entfernt, dass die Kontinente nicht mehr auszumachen sind. Aber die Berechnungen sagen, dass Lisa und die Kinder in diesem Moment am linken Rand der Erdkugel ihre Morgenroutine beginnen.
»Lisa?«, fragt sie noch einmal ins Mikrofon.
Bitte, Lisa, melde dich. Bald wird die Signallaufzeit so groß sein, dass wir nur noch Monologe führen können.
»Frau Rosenberg, hören Sie mich? Ich bin es, Marcia.«
Auf dem Bildschirm ist noch immer nichts zu sehen, aber die Stimme ist klar zu hören. Es ist das Kindermädchen, das Lisa an drei Wochentagen hilft, seit sie sich die Arbeit nicht mehr teilen können.
»Kannst du bitte Lisa holen?«
Eigentlich sind sie verabredet, aber Judith weiß, wie es ist. Drei- und Fünfjährige halten sich nicht an Verabredungen. Bestimmt hat Max sich gerade den Zeh gestoßen, oder Peter hat mal wieder Nasenbluten. Wie gern würde sie ihm jetzt das Tempo an die Nase halten.
»Sie ist gerade bei Max oben. Ich löse sie ab.«
Plötzlich zeigt der Bildschirm ein Kamerabild. Judith sieht Marcias Rücken. Das Kindermädchen geht die Treppe nach oben, dort verschwindet sie aus dem Blickwinkel der Kamera. Judith fühlt sich mit einem Mal wie eine heimliche Beobachterin, die etwas sieht, was sie nichts angeht. Nichts mehr angeht. Es ist auch ihr Haus, sie haben es gemeinsam gekauft. Aber in den kommenden zwei Jahren wird es Lisa und den Kindern allein gehören. Sie kann nichts tun. Und sie hat es so gewollt.
Zwei Beine in Jeans kommen ins Kamerabild. Sie steigen die Treppe herab und werden mit jeder Stufe mehr zu Lisa. Gleich ist sie da. Sie sieht müde aus. Vielleicht hatte Max heute Nacht wieder Bauchschmerzen. Judith muss lächeln, sie kann nicht anders. Sie bemerkt es an dem kleinen Selbstporträt, das der Kommunikator unten rechts auf dem Schirm einblendet. Morgens und abends zwingt sich Judith vor dem Spiegel regelmäßig dazu, den Mund zu einem Grinsen zu verziehen. Es ist Psychohygiene, das hat man ihnen im Training beigebracht. Aber es sieht ganz anders aus als ihr Lächeln in diesem Miniaturbild.
Lisa setzt sich und atmet tief durch. Judith lässt ihr die Zeit. Ihre Liebste hat gerade den schwierigeren Job. Natürlich wünscht sich Judith, dass Max und Peter möglichst oft nach ihr fragen, doch zugleich hofft sie, dass sie Lisa damit nicht zu sehr belasten. Sie haben deshalb vereinbart, dass sie mit den Jungs nur spricht, wenn einer der beiden es sich ausdrücklich wünscht.
»Entschuldige, dass ich nicht gleich dran war«, sagt Lisa.
Judith schüttelt den Kopf.
»Der alltägliche Wahnsinn, das kenne ich doch selbst. Ich habe hier alle Zeit der Welt. Sag mir, wenn wir lieber später reden sollen.«
»Nein, ich habe jetzt Zeit für dich. Marcia kümmert sich um die beiden. Ich bin froh, dass sie da ist. Das war eine gute Idee. Max hat sich heute kurz nach Mitternacht übergeben.«
»Ein Infekt? Hoffentlich steckt Peter sich nicht auch noch an.«
»Das glaube ich nicht. Er war gestern eine halbe Stunde bei der alten Reynolds.«
»Hat sie ihn wieder mit Popcorn gefüttert?«
»Das Erbrochene sah ganz danach aus. Ich muss heute nochmal ein ernstes Wort mit ihr reden.«
»Das wirst du wohl müssen. Die alte Dame meint es ja nur gut, aber wenn sie sich nicht an Verabredungen hält, kann Max eben nicht mehr zu ihr.«
»Er wollte gestern Abend partout nicht in seinen Kindersitz, als ich zum Supermarkt fahren wollte. Und da hat die Reynolds sich angeboten, so lange auf ihn aufzupassen. In dem Moment war ich ihr einfach nur dankbar. Heute Nacht nicht mehr.«
»Verstehe. Das tut mir sehr leid.«
»Aber ich will nicht jammern. Marcia ist wirklich eine große Hilfe. Die Jungs werden ja von Tag zu Tag älter und vernünftiger. Und, was gibt es bei euch Neues?«
Lisa hat recht. Max und Peter lernen täglich dazu. Sie wird sie nicht wiedererkennen, wenn sie in zwei Jahren zurückkehrt. Judith beißt die Zähne zusammen. Sie darf auf keinen Fall vor der Kamera herumheulen. Sie hat es ja so gewollt.
Judith schluckt. »Bei uns passiert nicht viel. Mike hat mal wieder seine Tage, Frank stählt seine Muskeln und Giordi baut das Schiff um.«
»Was ist denn diesmal Mikes Problem?«
Judith sieht sich um, aber sie ist allein in der Zentrale. Mike schläft wohl gerade in seinem Kokon. Es ist seine Freischicht.
»Die New York Times hat ein längeres Feature über uns gebracht. Darin fühlt er sich nicht genügend gewürdigt.«
»Ich habe den Text gestern vor dem Einschlafen gelesen und fand ihn sehr ausgewogen.«
»Er meint, ich hätte mich in den Vordergrund gespielt. Seitdem spricht er nur noch das Nötigste mit mir.«
»Du?« Lisa lacht. »Da kennt er dich aber wirklich schlecht.«
»Ich glaube, es ist egal, wie ich mich verhalte. Er kann sich einfach nicht damit abfinden, dass nicht er die Mission leitet.«
»Vermutlich. Ich hoffe, du nimmst dir das nicht so zu Herzen.«
»Ich versuche es. Und ich lege die Schichtpläne so, dass wir uns möglichst wenig sehen.«
»Das ist gut, Liebste.«
»Ich darf es nur nicht übertreiben, sonst fällt es auf, und er hat wieder einen Grund, sauer auf mich zu sein.«
Aus dem Lautsprecher kommt ein hohes Kreischen. Lisa dreht sich von der Kamera weg. Von oben ruft Marcia anscheinend etwas.
»Oh, jetzt schreit auch noch Peter. Marcia meint, er sei auf einen Legostein getreten.«
»Dann musst du hoch, Lisa.«
»Ich weiß. Sprechen wir uns morgen früh? Ich habe nachher einen Termin am JPL und weiß noch nicht, wie lange ich brauche.«
»Bei Whittaker? Grüß ihn von mir.«
»Mache ich.«
Lisa dreht sich um. »Ich komme gleich, Marcia!«
Dann sieht sie wieder in die Kamera. »Ich liebe dich.«
»Ich dich auch.«
Judith tippt auf den Bildschirm und beendet die Verbindung.