2.1. 2035, Mond-Basis Unity
»Hier muss er gewesen sein.«
Jonathan kniet sich auf den Boden.
»Siehst du, an dieser Stelle hat er gekniet, die Spuren passen perfekt.«
»Ja, Sherlock«, sagt Wayne, »jetzt ist er aber nicht mehr hier.«
Der Amerikaner, der noch auf dem Fahrerplatz des Rovers sitzt, dreht sich erst nach links, dann nach rechts.
»Ihm muss das Gleiche passiert sein wie uns«, sagt Jonathan.
»Du meinst, er war auch so blöd wie wir und hat sich im Staub der Rinne festgefahren?«
»Ich habe dich gewarnt, gib es zu. Das Zeug sammelt sich immer wieder hier. Wir sollten uns da eine bessere Lösung überlegen. Eine Brücke oder so.«
»Wer ist denn hier der Ingenieur?«
»Dann mach eben mal deinen Job, Herr Ingenieur«, sagt Jonathan, »dann brauchst du dir auch keine dummen Ideen von einem Arzt anzuhören.«
»Hast ja recht, John. Und nun komm her und hilf mir, den Rover aus dem Dreck zu ziehen.«
Zu zweit brauchen
sie zehn Minuten. Der Lasten-Rover wiegt unbeladen schon fast eine Tonne.
»Und jetzt?«, fragt Wayne.
Jonathan steigt ab und stellt sich direkt vor ihn. So verbirgt sich sein Gesicht nicht mehr unter den Spiegelungen von Sonne und Erde. Wayne sieht traurig aus. So kennt er den Amerikaner gar nicht. Er wird doch nicht aufgegeben haben? Es ist kurz nach Mitternacht. Maxims Sauerstoffvorrat müsste noch wenigstens zwei Stunden reichen. Wenn er bewusstlos ist, dann sogar noch länger. Er ist bestimmt nicht bei Bewusstsein und meldet sich deshalb nicht. Eine anderer Grund kommt für Jonathan nicht in Betracht.
»Erde an John, ich habe dich etwas gefragt.«
Er zuckt zusammen. Natürlich. Wohin mag Maxim von hier gefahren sein? Die Spuren am oberen Rand der Rinne zeigen, dass er den Rover wieder auf seine Räder gestellt haben muss. Jonathan leuchtet sie mit der Taschenlampe an. Dann kniet er sich davor.
»Kommt jetzt ein Gebet?«, fragt Wayne.
Er darf ihn nicht ernst nehmen. Sein Kollege will nur seine Angst überspielen. Jonathan beugt sich nach vorn. Die Spur des Reifens beginnt aus dem Nichts. Auf dem Mond gibt es keinen Wind und keinen Regen, die Spuren verwischen könnten. Hier muss Maxim den Rover aufgerichtet haben. Die Spur verläuft dann ein paar Zentimeter hangaufwärts. Dort folgt ein kleiner Absatz. Ha! Hier ist Maxim aufgestiegen. Die Spur setzt sich zunächst weiter in Richtung Gipfel fort, doch dann endet sie auf blankem Fels.
»Auf dem Gipfel ist er nicht angekommen«, überlegt Jonathan laut.
»Was du nicht sagst.«
Jonathan öffnet seine Werkzeugtasche am Oberschenkel und holt eine plastikbeschichtete Karte der Höhenunterschiede heraus.
»Eine Karte? Warum siehst du nicht auf dein Display?«, fragt Wayne.
»Die Daten hier hat die NASA nicht lizenziert. Sie kommen von einem privaten israelischen Anbieter, wahrscheinlich waren sie zu teuer. Digital hast du nur eine abgespeckte Version.«
Aus dem Augenwinkel sieht er, dass Wayne näher kommt. Er breitet die Karte so aus, dass der Amerikaner ebenfalls hineinsehen kann.
»Siehst du, hier hast du die Südflanke des Mons Malapert, unsere übliche Route. Völlig ungefährlich, keine Steigung über 20 Grad, keine Überraschungen.«
»Darum ist es ja auch die übliche Route.«
Wayne ist aber heute auch schwer von Begriff.
»Ich will damit sagen, dass Maxim oben angekommen wäre, hätte er die südliche Route genommen«, erklärt er. »Im Umkehrschluss bedeutet das …«
»Er muss es über die nördliche Bergflanke versucht haben«, unterbricht ihn Wayne.
Jonathan stört sich nicht daran. Hauptsache, Wayne hat es endlich kapiert.
»Und nun sieh mal«, sagt er und zeigt auf einen ovalen, hellroten Fleck, »ganz in der Nähe gibt es einen kleinen Krater. Das Gefälle muss da bis auf 90 Grad ansteigen.«
»Aber den Krater hätte er doch ganz einfach umfahren können«, sagt Wayne. »Hier oben liegt die Steigung nur bei 25 Grad, das schafft jeder Rover spielend.«
»Und wenn er von seinem ersten Sturz verletzt war und nicht mehr so sicher steuern konnte?«
»Aber warum ist er nicht einfach nach unten gefahren, zur Basis?«
»Er wollte vielleicht per Funk um Hilfe bitten. Du merkst ja selbst, dass wir hier keinen Kontakt haben.«
»Du bist gut, John«, sagt Wayne. »Wenn wir Maxim in dem Krater finden, bauen wir eine Brücke.«
»Ich bin Arzt, kein Zahnarzt«, sagt Jonathan.
Wayne steigt auf den Rover und lädt ihn ein, hinter ihm Platz zu nehmen.
Der Krater ist tatsächlich nicht weit entfernt.
Sie halten in sicherer Entfernung. Jonathan steigt ab und leuchtet mit seiner Taschenlampe hinein. Der Strahl erreicht den Boden nicht.
»Warte, ich seile dich an, dann kannst du hinabsteigen«, sagt Wayne.
Jonathan mag große Höhen oder Tiefen eigentlich nicht, und die anderen wissen das. Er nickt trotzdem.
»Oder soll ich lieber gehen?«, fragt Wayne.
»Nein. Ich bin Arzt, ich kann ihm besser helfen, wenn er verletzt ist.«
Er sagt den Satz mehr zu sich als zu seinem Kollegen, aber Wayne nickt trotzdem. Hoffentlich braucht Maxim noch Hilfe. Seit seiner Abfahrt von der Basis sind nun schon über sechs Stunden verstrichen. Dass ihm etwas zugestoßen sein muss, ist zuerst Yue aufgefallen. Maxim folgt immer den Regeln, deshalb kam es ihr höchst seltsam vor, als sein stündlicher Kontrollruf ausblieb.
Waynes langer Schatten wandert über den grauen Fels. Es sieht aus wie bei einem Schattenspiel, so exakt fällt die Projektion aus. Wayne holt das Seil aus dem Seitenfach des Rovers und hängt das mit einem Karabiner-Haken versehene Ende in eine Öse am Heck des Rovers. Dann reicht er Jonathan das andere Ende, der es in eine Schnalle an seinem Gürtel hakt.
»Der Rover hält dich sicher«, sagt Wayne. »Aber sei trotzdem vorsichtig.«
»Sind ja nur hundert Meter.«
»Immerhin ein 30-stöckiges Hochhaus.«
»Danke, dass du mich darauf hinweist.«
Wayne lacht kurz. »Mein Angebot steht. Aber es ist wirklich besser, wenn du gehst. Du bist der Arzt. Ich kann ja nicht mal beurteilen, ob er transportfähig ist.«
Transportfähig? Das ist hier nicht die Frage, denkt Jonathan. Wenn sie Maxim nicht hochholen können, hat er sowieso verloren. Er zieht das Seil mit der rechten Hand straff und nimmt die Schlinge mit der restlichen Seillänge in die linke. Dann geht er langsam rückwärts den Abhang hinunter und hält sich dabei am Seil fest. Sein Blick geht nach oben. Er zählt die Schritte, damit er sich nicht umdrehen und in die Tiefe sehen muss. Hier wiegt er nur 15 Kilogramm, dadurch schneidet sich das Seil weniger in seine Handfläche ein, als er befürchtet hat.
Er kommt gut voran.
Im Training auf der Erde haben sie in einem Canyon in Arizona geübt. Es waren die zweitschlimmsten Tage seines Lebens gewesen. Aber hier auf dem Mond könnte ihm Bergsteigen doch glatt Spaß machen – wäre der Zweck seines Abstiegs nicht so dramatisch.
»Du machst das gut«, meldet sich Wayne.
»Wie weit bin ich?«
»Zwanzig Meter, schätze ich.«
»Oh.«
Er hat hundert Schritte gezählt. Anscheinend waren sie kürzer, als er dachte. So kommt er ja nie unten an. Ab sofort bemüht er sich, weiter nach hinten auszuschreiten. Allmählich kommt er ins Schwitzen. Die Lüftung dreht auf. Der Sensor muss bemerkt haben, dass die Innenscheibe des Helms beschlägt.
»Maxim,
hörst du mich? Ich bin es, Jonathan.«
Keine Antwort. Er ist jetzt in 80 Metern Tiefe. Soll er den Rest springen? Er überschlägt, wie schnell er dann nach weiteren 20 Metern sein wird. Etwa 30 km/h, das ist zu viel. Der Wert überrascht ihn. Er hätte die Gravitation des Mondes als harmloser eingeschätzt. Aber was bedeutet das für Maxim? Wenn er von ganz oben gestürzt ist und ihn die Anziehungskraft des Mondes mit 1,6 Metern pro Quadratsekunde beschleunigt hat, ist er mit über 60 km/h aufgeschlagen.
Er sollte wirklich nicht so viel rechnen. Ein Arzt, der im Kopf physikalische Größen berechnen kann, das war seinem Chef im Krankenhaus damals schon unangenehm aufgefallen. Aber er hatte nie verstanden, warum er sich denn auf sein Bauchgefühl verlassen sollte. Jonathan ersetzt Maxim durch einen Sportler, der vom Zehn-Meter-Turm ins Wasser springt. Gut 50 km/h Endgeschwindigkeit. Am Grund des Kraters hat sich ganz gewiss eine dicke Staubschicht angesammelt, die Maxims Sturz abgefedert hat. Und vielleicht ist er ja nicht von ganz oben gestürzt. Er sollte sich lieber auf den Abstieg konzentrieren.
»Wayne, siehst du mich noch?«
»Ja, aber du verschwindest gleich im Schatten.«
»Gut zu wissen.«
Tatsächlich wird es um ihn herum dunkel. Es wirkt, als würde ein gefräßiger Schatten aus der Tiefe emporsteigen, um ihn zu verschlingen. Als die Dunkelheit seine Schultern erreicht, bleibt Jonathan kurz stehen. Es ist ein beängstigendes und doch auch faszinierendes Bild: Nur sein Kopf ragt noch aus einem Schattensee, dessen Oberfläche um ein paar Grad geneigt ist. Der Schatten hat beinahe physische Macht. Jonathan hat das dringende Bedürfnis, tief Luft zu holen, bevor er darin untertaucht.
»Wünsch mir Glück, ich verschwinde jetzt im Schatten«, sagt er ins Funkgerät.
»Du weißt, dass du eine Lampe hast?«
Natürlich. Das hatte er ganz vergessen. Schnell schaltet er die Helmlampe an, und der gespenstische Eindruck verschwindet. Er macht ein paar Schritte nach hinten. Die Lampe schafft es nicht, die Schatten komplett auszumerzen. Er fühlt sich nun eher wie ein Höhlenforscher. Wendet er den Kopf in eine bestimmte Richtung, öffnet sich dort auf magische Weise ein Gang. Jonathan bleibt erneut stehen. Es ist Zeit, der Wahrheit ins Auge zu blicken. Langsam dreht er sich um. Das Seil schlingt sich halb um seinen Körper. Er bewegt seinen Kopf und tastet so mit dem Lichtstrahl der Lampe den Boden ab. Am liebsten wäre ihm, er würde gar nichts finden. Vielleicht ist Maxim längst in der Basis angekommen. Sie haben ja keine Funkverbindung dorthin.
Aber dann bleibt der Lichtstrahl an einem Bein hängen. Jonathan hebt den Kopf ein wenig. Die Lampe beleuchtet einen Körper in einem Raumanzug. Das muss Maxim sein. Er liegt zusammengerollt wie ein Baby dort unten. Nur das rechte Bein ist unnatürlich zur Seite gestreckt.
»Ich habe ihn!«
»Und?«
»Gleich.«
Jonathan läuft nach unten. Plötzlich stört es ihn nicht mehr, der Tiefe zugewandt zu sein. Dort unten wartet ein Freund auf Rettung. Hoffentlich!
Jonathan stellt sich über Maxim.
Der Anzug scheint den Sturz überstanden zu haben. Die Helmscheibe zeigt keinen Kratzer. Vorsichtig greift er nach dem Computer am Handgelenk. Die Lebenserhaltung funktioniert. Maxim bewegt sich zwar nicht und hat die Augen geschlossen, aber er hat Sauerstoff verbraucht.
»Er lebt!«
»Ich bin so erleichtert«, sagt Wayne. »Ich habe mir schon vorgestellt, wie wir bei Irina in Galauniform vor der Haustür stehen, um ihr unser Beileid auszudrücken.«
Sie haben seine Frau während der Ausbildung kennengelernt. Jeder Kandidat hatte zweimal Familienbesuch empfangen dürfen. Jonathan erinnert sich an sie als sehr feingliedrige, dünne Frau mit fast ätherischer Ausstrahlung. Sie wird Maxim wiedersehen. Die Daten der Lebenserhaltung zeigen, dass sein Zustand nicht kritisch ist. Allerdings könnte er sich Knochenbrüche und innere Verletzungen zugezogen haben. Jonathan legt Maxims rechten Arm zur Seite. Er will ihn in stabile Seitenlage bringen.
»Mamm, pasch doch bescher auf«, sagt plötzlich eine Stimme in seinem Ohr.
Jonathan zuckt zurück. Maxim ist aufgewacht! Er lässt seinen Arm los, und Maxim stöhnt.
»Der reschte …«, nuschelt er.
»Ich verstehe, der rechte Arm ist gebrochen.«
Jonathan betrachtet Maxims Gesicht hinter der Helmscheibe. Aus dem linken Mundwinkel rinnt ein dünner, schwarzer Faden. Er muss sich beim Sturz verletzt haben. Im besten Fall hat er sich bloß auf die Zunge gebissen. Im schlechtesten … Jonathan verdrängt den Gedanken.
»Wayne und ich, wir werden dich nach Hause bringen«, sagt er in einem möglichst beruhigenden Ton. »Alles wird gut. Spürst du sonst irgendwelche Verletzungen? Ich kann dich hier nicht untersuchen.«
Maxim bewegt den linken Arm und beide Beine, dann schüttelt er den Kopf.
»Gut. Versuch doch mal aufzustehen. Ganz langsam.«
»Mein reschter Arm …«
»Ich weiß, ich helfe dir, so gut ich kann.«
Maxim stützt sich mit dem linken Arm an ihm ab und zieht sich hoch, während Jonathan ihm die Arme um den Bauch legt und so nach oben zieht. Schwankend steht er neben ihm.
»Schmerzen?«
Maxim sieht kurz auf seinen rechten Arm.
»Nicht mehr? Mann, du hast ja so ein Glück gehabt!«
Jonathan fühlt sich, als könnte er ohne Seil die Wand hochrennen.
»Jetzt müssen wir dich bloß noch nach oben bekommen. Am besten, du stellst dich vor mich, dann kann ich dich von hinten stabilisieren.«
»Wayne,
wir kommen jetzt.«
»Ich sitze schon auf dem Rover, dann wird er noch etwas schwerer.«
»Maxim? Ich gebe das Kommando«, sagt Wayne.
Sein Kollege nickt.
»Links.«
Maxim bewegt den linken Fuß. Jonathan schiebt seinen linken Fuß nach.
»Rechts.«
Sie wiederholen die Bewegung mit der rechten Seite. Wie ein Wurm mit nur zwei Beinpaaren schieben sie sich die steile Wand nach oben. Die Schritte mit rechts fallen etwas kürzer aus, weil sie auf den gebrochenen Arm Rücksicht nehmen müssen. Maxim taucht zuerst aus dem Schattensee auf.
»Danke, Schonn. Isch dachte schon, isch würde die Schonne nie wieder schehn.«
»Ist doch selbstverständlich.«
»Und
… los!«
Auf Waynes Zeichen heben sie Maxim über den Rand der Lastwanne. Jonathan hat den gebrochenen Arm an Maxims Gürtel fixiert, aber der Russe stöhnt trotzdem, als sie ihn ablegen. Er hat ihm angeboten, eine Schmerzmittel-Spritze zu setzen, aber dabei wird unweigerlich der Anzug beschädigt, deshalb hat Maxim das abgelehnt.
»Was nun?«, fragt Wayne.
»Jemand muss den Rover sichern«, sagt Maxim. »Hoffentlich ist er noch zu gebrauchen.«
Ah, seiner Zunge scheint es schon besser zu gehen. Ein gutes Zeichen.
»Dazu müssen wir dich erst einmal von der Ladefläche bekommen«, sagt Wayne.
»Wir fahren so schnell wie möglich zur Basis und laden dich dort ab«, schlägt Jonathan vor.
»Wir sollten zur Hütte fahren. Jemand muss doch die Sonnenkollektoren überprüfen«, sagt Maxim.
Das passt zu ihm. Eine Aufgabe ist eine Aufgabe. Wenn heute das Solarkraftwerk zu prüfen ist, dann ist das unabänderlich.
»Ich sollte dich besser zunächst gründlich durchchecken«, sagt Jonathan. »Mit einer Gehirnerschütterung ist nicht zu spaßen.«
»Das geht doch auch in der Hütte.«
Die Hütte ist eine kleine Unterkunft gleich neben dem Solarkraftwerk. Dort gibt es tatsächlich einen Notfallkoffer.
»Die Medizinstation wäre mir lieber«, sagt Jonathan.
»Muss ich denn erst den Kommandanten herauskramen?«
»Ich bin der Arzt und habe in medizinischen Fragen das letzte Wort.«
»Bitte, John, es ist doch nur ein kleiner Ausflug. Auf die paar Stunden kommt es doch jetzt auch nicht mehr an. Danach kann ich dann ruhig schlafen. Ich verspreche, dass ich 24 Stunden Ruhe gebe.«
24 Stunden Erholung nach einem schweren Sturz, das klingt wie ein Witz, aber Maxim glaubt wirklich, dass das ein fairer Deal ist. Wenn der Arm kompliziert gebrochen ist, wird er um eine OP nicht herumkommen.
»Gut, wir fahren zum Gipfel. Aber sobald wir wieder in der Basis ankommen, erkennst du meine Autorität als Arzt komplett an und fügst dich allem, was ich dir vorschreibe.«
Maxim antwortet nicht.
»Einverstanden, Max? Sonst kehren wir gleich um.«
»Na gut, ich füge mich. Sobald wir die Basis erreichen, gehört mein Körper dir.«
Jonathan nickt. Er hat genau gehört, wie Maxim das »sobald« betont hat. Er kennt ihn gut genug, um zu wissen, dass er versuchen wird, diesen Zeitpunkt so weit wie möglich hinauszuzögern.
Der Blick
vom Gipfel ist umwerfend. In diesem Moment ist er Max dankbar, dass er sie zu dem Besuch hier überredet hat. Im Norden und im Westen sieht er unzählige kleinere Krater. Das Gelände dort scheint einem langandauernden Beschuss ausgesetzt gewesen sein. Im Osten hingegen ist der riesige, über 100 Kilometer große Scott-Krater zu erkennen. Weil er schon stark abgetragen ist, sind dahinter die Wände des noch größeren Demonax-Kraters zu erahnen. Im Süden läuft der Mons Malapert in eine fast 2000 Meter über dem mittleren Mond-Niveau liegende Ebene aus.
Darin erhebt sich der 21 Kilometer durchmessende und bis zu vier Kilometer tiefe Shackleton-Krater, der auch den Südpol des Mondes beherbergt. Auf seinen etwa hundert Kilometer entfernten Hängen hätte sich längst ein Laser-Link zur Datenübertragung befinden sollen, läge der Ausbau der Mondbasis nicht so weit hinter dem Plan zurück. Aber der Mond ist eben nicht mehr sexy, seit die Menschen den Mars im Visier haben. Jonathan beneidet die Vierer-Crew nicht, die dorthin unterwegs ist. Doch wenn Unity nur die Hälfte ihrer Finanzierung hätte, könnten sie längst autark leben.
»Kommst du?«, fragt Wayne.
Der Amerikaner steht mit Maxim im Arm vor der Schleuse, die in die wie ein überdimensionaler Pilz anmutende Hütte führt. Es sieht so aus, als müsse er einen betrunkenen Freund bei seiner Familie abliefern.
»Ihr seid ein schönes Paar«, sagt Jonathan.
»Fick dich«, sagt Wayne.
Er benutzt das F-Wort oft, aber er meint es nicht so. Und er achtet stets darauf, es nicht einzusetzen, wenn Atiya oder Yue in Hörweite sind. Das spricht gegen seine Behauptung, es würde ihm einfach so herausrutschen. Wahrscheinlich macht Wayne das Fluchen einfach Spaß.
»Gab es nicht mal einen berühmten Cowboy, der so hieß wie du?«, fragt Jonathan.
Wayne drückt auf den Knopf, der die Schleuse öffnet. Die Tür schiebt sich zur Seite. Dünne Nebelschwaden kommen ihnen entgegen, der Rest der Atemluft, deren Feuchtigkeit sofort gefriert.
»Er hieß John Wayne, aber das war ein Schauspieler, der Cowboys gespielt hat.«
In der Schleuse ist es eng. Normalerweise kommt er allein hier herauf. Es gefällt ihm hier. Für ein paar Stunden kein anderes Gesicht zu sehen, das kann sehr erholsam sein.
»Zieh dich aus,
Maxim, und leg dich hin«, sagt er und zeigt dabei auf die einzige Liege im Raum. Die Aufenthaltskammer ist angesichts der Abmessungen der Hütte erstaunlich klein. Das liegt an der dicken Isolierung, die die Menschen vor der kosmischen Strahlung schützt. Das Verhältnis von Innen- und Außendurchmesser entspricht etwa dem von Kirschkern und Kirsche.
Wayne hilft Maxim beim Hinsetzen, er nimmt ihm den Helm ab und zieht ihm auch ganz mütterlich den Anzug aus. Mit einem gebrochenen rechten Arm ist das wirklich schwierig. Wayne öffnet alle Reißverschlüsse und Knöpfe. Dann zieht er am linken Handschuh, bis Maxim seinen linken Arm befreien kann.
»Komm mal her, John, und hilf ihm, den rechten Arm hochzuhalten.«
Er folgt der Aufforderung. Wayne zieht am rechten Handschuh. Das Oberteil klappt nach hinten.
»Das Unterteil bekomme ich selbst hin«, sagt Maxim.
»Sicher?«, fragt Wayne.
»Ja, Mama.«
»Ich würde dir gern als allererstes eine Dosis Schmerzmittel verpassen«, sagt Jonathan.
»Dagegen habe ich überhaupt nichts.«
»Ich berichte so lange Yue, was vorgefallen ist«, sagt Wayne, »und danach kümmere ich mich um die Sonnenkollektoren.«
»Eine gute und eine schlechte Nachricht«,
sagt Wayne, nachdem er die Kammer wieder betreten hat.
Jonathan legt den Finger vor die Lippen und zeigt dann auf Maxim. Sein Patient schläft schon seit einer halben Stunde, und er wäre beim Warten auch beinahe eingeschlafen.
Wayne setzt seinen Helm wieder auf. Das ist eine gute Idee, denkt Jonathan, und sucht seinen eigenen Helm. Über Funk können sie miteinander sprechen, ohne Maxim allzu sehr zu stören.
»Aber jetzt sag erstmal, wie es ihm geht«, sagt Wayne und zeigt auf den Verletzten.
»Der Humerus scheint am Collum chirurgicum einfach gebrochen zu sein, so weit ich das beurteilen kann. Er hatte wirklich Glück, denn sonst hat er nur ein paar Prellungen, die noch ein, zwei Wochen schmerzen werden.«
»Collum wie?«
»Das ist eine mechanische Schwachstelle kurz vor dem Schaft, also knapp unterhalb der Schulter. Ich muss mir aber unten noch die Gefäße ansehen. Es gibt ein kleines Risiko, dass sie Probleme bereiten, aber eigentlich müsste man das sehen.«
»Und wie lange wird das dauern?«
»Wenn das Röntgenbild nichts anderes zeigt, wird er den Arm für drei bis sechs Wochen in einer Schlinge tragen müssen.«
»Er ist Rechtshänder«, sagt Wayne.
»Ja, er wird sich umgewöhnen müssen. Aber nach fast hundert Metern ungebremstem Sturz ist das alles noch ein Riesenglück. Zumal er sich den Bruch ja schon vorher zugezogen hat. Unser Maxim ist ein Sonntagskind.«
»Yue wird sich freuen. Das wird die Arbeiten noch weiter verzögern. Wir wollten doch bis zum Eintreffen des nächsten Transporters das Gewächshaus fertig haben.«
»Ich habe schon mit ihr gesprochen. Sie meint, es wäre nun auch egal. Dann muss die Erde uns eben weiter versorgen. Sie sind ja selbst schuld, dass sie uns kaum Ressourcen geben. Aber du hattest doch zwei Nachrichten für uns?«
»Ja, ich habe festgestellt, dass die Solarzellen doch deutlich langsamer degradieren als im Standard-Szenario vorgesehen. Allerdings hat einer der Brennstoffzellen-Speicher ein Leck. Das heißt, wir ernten nicht so viel Energie, wie wir könnten.«
»Aber es ist doch immer noch mehr, als wir brauchen?«
»Das stimmt schon. Aber der Handwerker in mir ist damit nicht zufrieden. Ich habe mit Ken gesprochen, er hatte eine Idee, wie ich das mit Material aus der Hütte reparieren kann.«
»Ich würde Maxim gern erst einmal in die Basis bringen. So lange hat es doch noch Zeit?«
»Bis wir dann wieder hier sind, dauert es bestimmt zwei Tage.«
»Aber Maxim …«
»Was flüstert ihr denn da über mich? Ich habe gesehen, dass du meinen Namen genannt hast.«
Mist, sein Patient ist aufgewacht. Dabei braucht er seinen Schlaf.
»Ich habe John berichtet, dass eine der Brennstoffzellen ein Leck hat, aber er will dich erst einmal zur Basis bringen.«
Danke, Wayne. Jonathan ahnt schon, was Maxim jetzt sagen wird.
»Das geht natürlich vor«, sagt der Verletzte denn auch tatsächlich. Ich halte es hier noch eine Weile aus. Die Liege ist sehr bequem. Nur ihr müsstet auf dem Boden schlafen. Hier gibt es doch sicher auch Notvorräte?«
»Na klar«, sagt Wayne.
»Ich mache mir Sorgen um die Gefäße in deinem Oberarm«, sagt Jonathan.
»Vergiss unseren Deal nicht. Ich gehöre dir, sobald wir die Basis erreicht haben.«
Jonathan knurrt. Er hat gewusst, dass Maxim darauf herumreiten würde. Vermutlich sieht er die Basis nun für mehrere Wochen nicht mehr wieder, nur damit Max nicht in die Krankenstation muss.