3.1. 2035, Mond-Basis Unity
»Basis an Außenteam,
bitte melden.«
Jonathan öffnet die Augen. Er braucht ein paar Sekunden, um sich zu orientieren. Es ist dunkel. Er greift nach rechts. Dort muss sein Raumanzug liegen. Der Computer am Arm sagt ihm, dass es 4 Uhr Standardzeit ist. Was will die Basis von ihnen? Der Tag gestern war anstrengend genug. Sie brauchen ihren Schlaf.
»Hier Jonathan, was wollt ihr? Wir schlafen noch.«
»Atiya hier. Tut mir leid, aber wir wurden auch gerade geweckt.«
»Lass mich raten, die Erde?«
»Ja, unser Capcom hat eine dringende Bitte der NASA übermittelt.«
»Was hat das mit uns zu tun?«
»Wir sollen mit dem Teleskop im Shackleton-Krater etwas beobachten.«
»Aber es ist doch noch gar nicht offiziell in Betrieb.«
»Wem sagst du das, aber es ist egal. Und ich muss auch zugeben, die Testbelichtungen waren hervorragend.«
»Sag ihnen, dass es nicht funktioniert, weil der Laserlink noch fehlt. Was sie zu verantworten haben.«
»Das war meine erste Entgegnung. Aber sie wollen nur eine Stunde Beobachtungszeit. Die könnt ihr mit einer der Brennstoffzellen-Speicher aus dem Solarkraftwerk überbrücken.«
Die Wayne gestern noch repariert hat. Als hätten sie es geahnt.
»Aber wenn wir sie entnehmen, fehlt hier die Speicherkapazität, und die Arbeiten verzögern sich weiter.«
»Das ist egal. Wenn wir mitmachen, bekommen wir einen Cygnus-Transporter voll frischer Nahrung.«
Frische Nahrung. Das ist der Traum jedes Astronauten auf Langzeitmission. Und es ist Bestechung, aber das ist ihm egal. Ein ganzer Transporter, das sind mehrere Tonnen. Davon können sie ein paar Monate königlich leben.
»Wir sind schon unterwegs«, ruft Wayne. »Worum geht es überhaupt? Ach, ist egal, sag ihnen, wir sind dabei.«
»Moment mal, wir müssen auch Maxim fragen«, sagt Jonathan.
»Computer, 30 Prozent Licht.«
Leuchtflächen am Boden tauchen den Raum in ein warmes Licht. Jonathan steht auf und geht zur Liege. Maxim hat die Augen geschlossen und atmet ganz ruhig. Er tippt ihn auf die linke Schulter.
»Aufwachen, Maxim.«
»Was ist los?«
»Die Erde fragt, ob wir einen Abstecher zum Shackleton-Krater unternehmen würden. Was meinst du?«
Maxim lacht. »Unbedingt!«
Siehst du, Onkel Doktor, du bekommst mich nicht in deine Finger, soll das wohl heißen.
Eine halbe Stunde
später brechen sie auf. Jonathan hätte sich gern mal wieder geduscht, aber in der Hütte gibt es nur ein Waschbecken. Draußen ist es genauso hell wie gestern. In dieser Höhe ist der Tag fast endlos. Maxim liegt in der Wanne des Transporters. Er muss sich den Platz aber mit der Brennstoffzelle teilen, die etwa einen halben Meter breit, fast zwei Meter lang und einen Meter hoch ist. Jonathan hat ihm noch eine Spritze mit Schmerzmittel gegeben, damit er die Fahrt besser übersteht.
Es geht nach Süden. Wayne sitzt am Steuer, er sitzt hinter ihm. Nur am Anfang ist die Steigung so groß, dass Wayne nicht den direkten Weg nehmen kann. Der Blick in die Tiefebene vor ihnen ist beängstigend, aber nicht wegen der Höhe, sondern wegen der Einsamkeit, die über der dunkelgrauen Landschaft liegt wie Moder-Geruch über einem Sumpf.
Jonathan stellt sich vor, sie würden auf der Erde vom Gipfel eines Achttausenders nach unten fahren. Da würden sie schnell in eine Gletscherspalte rutschen. Der Mond macht es ihnen leichter. Seine Berge sind schon vor vielen Milliarden Jahren geformt worden. Seitdem hat sie die Erosion durch Strahlung und Treffer aus dem Weltraum langsam abgeflacht, sodass sie relativ bequem große Höhenunterschiede bewältigen können. Zumindest hier, an der Großen Mauer im Norden sähe es wohl anders aus. Es ist zwar kalt, aber da die Atmosphäre fehlt, geben die Anzüge Wärme nur über Strahlung ab. Damit kann die eingebaute Heizung gut umgehen.
Tatsächlich ist es so, dass ihn der grandiose Blick etwa auf halber Höhe des Berges erschöpft. Vielleicht waren auch die letzten Tage zu hektisch, oder so früh am Morgen ist es einfach noch nicht seine Zeit, jedenfalls schläft er ein.
»Aufwachen, John«
Jemand klopft an seinen Helm. Es ist Wayne.
»Wir haben den Gipfelgrat erreicht«, sagt er.
Jonathan hat ein schlechtes Gewissen. Wayne muss also über hundert Kilometer am Stück gefahren sein und zumindest am Ende auch über schwieriges Terrain.
»Soll ich dich ablösen?«
»Nein, lass mal, Kleiner, ich fühle mich sicherer, wenn ich selbst am Steuer sitze.«
Kleiner? Wayne ist vielleicht fünf Zentimeter größer als er. Aber es lohnt nicht, darüber zu streiten. Jonathan sieht sich um. Die Sonne erzeugt wieder ein beeindruckendes Schattentheater. Die zackigen Kämme des Kraterrandes werfen Muster in die schüsselähnliche Form vor ihnen, die an kämpfende Dinosaurier erinnern. In der Mitte des Kraters befindet sich ein kaum noch erkennbarer Zentralberg, und darauf steht der ganze Stolz der Menschheit, von dem diese allerdings noch gar keine Notiz genommen hat: das Far-Side-Teleskop oder FST.
Eigentlich sollen in diesem Krater einmal zwei wichtige astronomische Instrumente stehen, doch bisher hat es nur für das auf Beobachtungen im Infrarot und im optischen Bereich spezialisierte FST gereicht. Später soll noch ein Radioteleskop hinzukommen. Es würde besonders davon profitieren, dass all die Radio-Einstreuungen, die auf der Erde unvermeidlich sind, hier wegfallen. Das FST hingegen punktet durch seinen stets perfekten, von keiner Wolke und keiner Atmosphäre getrübten Blick ins All. Seine Auflösung ist gar nicht einmal so riesig; auf der Erde gibt es längst Instrumente mit größerer Öffnung.
»Außenteam an Basis«, sagt Wayne auf der Universalfrequenz, »hört ihr uns?«
Jonathan dreht sich um. Der Gipfel des Mons Malapert ragt hinter ihnen in die Höhe. Er glänzt im Sonnenlicht. Dort oben befindet sich ein Repeater, der ihre Funksprüche an die Basis leitet – anderenfalls wäre kein Kontakt möglich.
»Atiya hier. Ich höre euch prächtig.«
»Könnte sein, dass das bald nicht mehr so ist«, sagt Wayne. »Wir fahren jetzt vom Kraterrand ins Tal, dabei durchqueren wir einen größeren Funkschatten.«
»Danke, dann weiß ich Bescheid.«
»Ich bin nicht sicher, wie es um die Reichweite unserer Helmfunkgeräte steht. Aus dem Krater bis zum Repeater beim Solarkraftwerk sind es bestimmt 130 Kilometer Luftlinie, da reicht womöglich die Leistung nicht.«
»Beim FST gibt es einen weiteren Repeater.«
»Aber der hat noch keinen Strom.«
»Stimmt«, sagt Atiya, »daran habe ich nicht gedacht. Er sollte ja eigentlich über den Laserlink versorgt werden.«
»Sag dem Capcom, sie schulden uns zwei Transporter mit frischer Nahrung«, sagt Wayne.
»Muss ich mir Sorgen machen?«, fragt Atiya. »Soll ich Yue wecken und um Erlaubnis bitten?«
»Das kommt gar nicht in Frage«, sagt Maxim. »Der Commander ist an Bord und hat der Crew befohlen, den Weg zum Teleskop fortzusetzen. Wir können den Repeater dann ja auch mit Strom aus der Brennstoffzelle versorgen.«
»Ja, aber von unterwegs könnt ihr euch nicht melden.«
»Warum sollten wir?«, fragt Maxim.
»Okay, dann bis in etwa zwei Stunden«, sagt Atiya. »Ich bin ja wirklich gespannt auf die Aufnahmen, die ihr mit dem FST anfertigt.«
»Eher drei Stunden. Der Abstieg hat es ganz schön in sich«, sagt Wayne.
Drei Stunden
später haben sie das Teleskop noch immer nicht erreicht. Jonathan ist vor einer Weile abgestiegen. Im Schatten des Kraterkamms ist es so dunkel, dass sie nur noch im Schritttempo vorankommen. Er läuft etwa fünfzig Meter vor dem Rover her und erkundet den Weg. Vorher hatten sie immer wieder umdrehen müssen, weil Felsbrocken die Weiterfahrt versperrt hatten. Auf der Innenseite des Kraters geht es offenbar deutlich chaotischer zu als außerhalb.
Aber er kann die Schattengrenze schon sehen. Sie zieht sich im Zickzack durch die Landschaft. Dahinter scheint ihm alles blendend hell zu sein. Aber das liegt an seinem Sehsinn, der sich an die Dunkelheit angepasst hat. Die niedrige Zentralerhebung, auf der sich das Teleskop befindet, liegt im Licht der Sonne.
»Ich denke, du kannst jetzt wieder aufsteigen«, sagt Wayne per Funk.
Jonathan bleibt stehen und lässt den Rover herankommen. Die Lichter der beiden Scheinwerfer springen wild herum. Es sieht aus, als würde sich eine verspielte Katze mit goldgelben Augen nähern. Dazu passt auch, wie lautlos sich alles vollzieht. Dass da ein tonnenschweres Fahrzeug über Gestein und Staub prescht, davon ist nichts zu hören.
Der Untergrund ist auf den letzten fünfhundert Metern unebener geworden. Besonders für Maxim muss das eine Qual sein. Das Schmerzmittel wirkt sicher nicht mehr so gut wie kurz nach dem Start. Aber ihr Kommandant beschwert sich nicht. Hoffentlich lohnt es sich, dass er sich so quält.
Der Rover hält neben ihm. Wayne winkt.
»Soll ich dich jetzt ablösen?«, fragt Jonathan.
»Das lohnt sich doch nun auch nicht mehr. Aber lass mich mal kurz die Beine vertreten.«
Wayne steigt ab, versucht einen Schritt vom Rover weg, dann ächzt er und geht in die Knie.
»Geht es dir gut?«
»Ja, kein Problem, Doc, meine Beine waren bloß eingeschlafen auf dem Bock, und ich habe es nicht mal gemerkt.«
»Am besten, ich fahre.«
»Nein, gib mir nur zwei Minuten, dann geht es wieder.«
Wayne ist genau so ein Dickkopf wie Maxim. Aber sind sie das nicht alle? Sonst hätten sie es nicht in die internationale Mond-Crew geschafft. Damals, als er sich bei der ESA dafür beworben hat, war die Mondbasis noch das Prestige-Projekt der Menschheit gewesen. Wer hätte denn ahnen können, dass der Absturz der Chinesen am Mars alle Prioritäten ändern würde?
»Okay, ich bin so weit«, sagt Wayne.
Er steht langsam wieder auf und geht dann einmal um den Rover herum.
»Vielleicht sollten wir öfter mal eine Pause einlegen«, sagt Jonathan.
»Ich will jetzt endlich ankommen«, sagt Wayne. »Meine Scheiß-Windel ist jetzt schon voll. Ich hätte nicht frühstücken sollen, der Trocken-Fraß hat ja sowieso nicht geschmeckt.«
Beim Teleskop gibt es noch keinen Aufenthaltsraum, in dem sie sich umziehen könnten. Denn die nötige Lebenserhaltung bekommt ja noch keinen Strom, weil der Laserlink nicht ins knappe Budget gepasst hat. Wayne wird sein Problem also erst in der Basis lösen können. Während Wayne aufsteigt und den Motor startet, wirft Jonathan einen Blick in die Lastwanne. Maxim liegt ruhig da und scheint zu schlafen. Überall und immer einschlafen zu können, dürfte die wichtigste Super-Fähigkeit eines Superman-Astronauten sein.
Nach dem Abstieg
von den vier Kilometer hohen Kraterhängen kommt ihm der Zentralberg wie ein Hügel vor. Solche Erhebungen kennt Jonathan aus den Mittelgebirgen seiner Heimat, nur dass sie dort mit grünem Wald bedeckt sind statt mit grauem Staub. Das Teleskop steht in der Mitte des Gipfelplateaus. Aus der Ferne sah es wie ein Pickel aus, der bald aufplatzt: Ein riesiger 3D-Drucker hat den Regolithstaub zu einer spritzfähigen Masse verdichtet und daraus die runde, kuppelartige Basis geformt. In ihrer Mitte erhebt sich wie die weißliche Spitze des Pickels der metallische Dom, der das Teleskop im Ruhezustand vor Staub schützt.
Jetzt stehen sie direkt davor, und der unangenehme Eindruck hat sich verloren. Der Teleskop-Hügel wirkt, als wäre er aus dem Felsplateau unter ihm gewachsen. Er besteht ja auch aus dem gleichen Material. Samt Titan-Kuppel ist er etwa dreißig Meter hoch. Direkt vor ihnen liegt der höhlenartige Eingang, der von einer simplen Stahltür verschlossen ist. Der Innenraum steht nicht unter Druck. Sie müssen also die Anzüge anbehalten, wenn sie Atiyas Auftrag ausführen wollen.
»Außenteam an Basis, hört ihr uns?«, fragt Wayne per Funk.
»Ohne Strom für den Repeater wird das nichts«, sagt Maxim.
»Hätte ja sein können, dass wir die Reichweite des Helmfunks unterschätzt haben«, sagt Wayne.
»Komm, ich schiebe dir die Brennstoffzelle aus der Lastmulde entgegen.«
Wayne geht um das Fahrzeug herum. Die Brennstoffzelle wandert lautlos an den Rand der Mulde. Wayne hebt sie herunter und stellt sie auf den Boden.
»Uff«, sagt er, »schweres Teil. Wo muss sie hin?«
»Der externe Stromanschluss ist in der Kuppel«, sagt Maxim.
»Der externe Anschluss ist intern? Das ergibt Sinn«, sagt Wayne und lacht.
Dann bückt er sich.
»Warte, ich helfe dir«, sagt Jonathan.
Er läuft zu Wayne, um ihm beim Tragen zu helfen. Maxim steigt unterdessen vom Fahrzeug, geht zur Kuppel und hält ihnen mit der linken Hand die Tür auf.
»Ich gehe vor«, sagt Wayne.
Rückwärts schiebt er sich durch den engen Gang. Sie haben Glück, die Brennstoffzelle passt geradeso hindurch. Ohne Zwischenfälle erreichen sie den Innenraum. Jonathan leuchtet mit dem Helmscheinwerfer in die Dunkelheit. Der Raum ist rund und etwa vier Meter hoch.
»Der Anschluss muss gleich links vom Eingang sein«, sagt Maxim.
Sie stellen die Brennstoffzelle ab. In der Wand ist kurz über dem Boden eine unscheinbare Steckdose zu sehen.
»Das ist sie«, sagt Maxim. »Habt ihr das Kabel?«
»Ich nicht«, sagt Wayne.
»Welches Kabel?«, fragt Jonathan.
»Ein Standard-Verbindungskabel, wie es jeder Rover als Ladekabel benutzt. Moment, ich hole es.«
Maxim dreht sich um und verlässt den Raum. Über den Helmfunk hört er ihn eine Melodie pfeifen. Dann herrscht Stille. Nur die Lebenserhaltung seines Anzugs rauscht noch. Die innere Kuppel mit den wissenschaftlichen Instrumenten scheint elektromagnetisch gut isoliert zu sein. Das ist sinnvoll, weil sie Sonneneruptionen sonst ungeschützt ausgesetzt wäre.
Jonathan sieht sich im Licht seines Helmscheinwerfers um. Hier fehlt eindeutig ein bisschen Farbe. Die Innenwände sind genauso grau wie die Wände außen. Selbst die Metallkuppel scheint grau gestrichen. Wie soll sein schlichtes Gemüt da auf positive Gedanken kommen? Er sollte sich beim Betriebsarzt beschweren. Aber das ist er ja selbst.
Dann flammt von der Decke Licht auf. Jonathan erschrickt. Er hat gar nicht bemerkt, dass Maxim schon zurück ist. An der rechten Seitenwand leuchten drei Bildschirme auf. Der Steuercomputer des Teleskops fährt hoch.
»Wir haben 93 Minuten«, sagt Maxim. »Das behauptet jedenfalls die Anzeige an der Brennstoffzelle.«
»Ziehen wir mal lieber noch zehn Minuten ab. Der Motor, der die Kuppel bewegt, frisst ganz schön viel Energie«, sagt Wayne.
»Außenteam an Basis, hört ihr uns?«
Diesmal übernimmt Maxim das Gespräch. Er scheint gut ausgeruht.
»Bestens«, antwortet Atiya. »Der Repeater funktioniert also?«
»Wie du siehst. Du hast 90 Minuten. Schickst du uns die Koordinaten?«
»Nimm es mir nicht übel, aber ich übernehme das lieber in Fernsteuerung.«
»Verstehe. Du bist die Astronomin, Atiya.«
»Also nicht dass ich es euch nicht zutraue, Kommandant, aber so kann ich schneller reagieren.«
»Du musst dich nicht entschuldigen. Keiner von uns dreien hat Ahnung von Astronomie.«
Plötzlich verändert
sich das Licht in der Kuppel. Jonathan sieht unwillkürlich zur Decke. In der Haube aus Titan hat sich ein Spalt gebildet, durch den das Teleskop nun den Himmel betrachten kann. Der schmale, schwarze Streifen, den Jonathan aus der richtigen Position sieht, wirkt kalt und weit entfernt. Er hat das Gefühl, ein kalter Wind würde durch die Kuppel ziehen, aber das muss eine Täuschung sein.
Auf den drei Computer-Bildschirmen öffnen sich wie von Geisterhand Menüs und schließen sich wieder. Jonathan hat zwar keine Ahnung, aber was sie aus der Ferne tut, sieht professionell aus. Dabei hatte sie noch nicht viele Gelegenheiten, mit dem FST zu trainieren. Aber wahrscheinlich sind sich alle Teleskope doch grundlegend ähnlich.
»Kannst du uns nicht mit durch das Fernrohr sehen lassen, Atiya?«, fragt er.
»Die Rohbilder werden euch nicht viel helfen. Ich muss sie erst bearbeiten, damit ihr etwas erkennt. Aber wenn du willst, lasse ich auf dem linken Screen ein Livebild stehen.«
»Wenn es dir nicht zu viele Umstände macht …«
»Überhaupt nicht. Euch muss ja ziemlich langweilig sein, wenn ihr da nur herumstehen dürft, während ich meine Arbeit mache. Nochmal vielen Dank, dass ihr mir das ermöglicht habt.«
»Wenn es hilft …«
»Oh, wenn der Hinweis von der ARES stimmt, könnte das eine Sensation werden.«
»Von der ARES?«, fragt Maxim.
»Die gerade mit unserem Geld und unseren Vorräten auf dem Weg zum Mars sind, um in die Geschichte einzugehen?«, fragt Wayne.
»Die vier Leute an Bord des Mars-Raumschiffs können doch nichts dafür«, sagt Atiya.
»Immerhin haben sie sich für diese Mission hergegeben«, entgegnet Wayne.
»Hättest du abgesagt, wenn man dich gefragt hätte?«
Wayne grummelt etwas Unverständliches. Nein, natürlich hätte niemand von ihnen einen Platz auf der ARES abgelehnt. Aber sie hatten ja schon das Training für die Mondbasis absolviert. Sie wären die letzten gewesen, die man gefragt hätte. Ein bisschen unfair kann man das schon finden, da muss er Wayne recht geben.
»Was haben sie auf der ARES denn gesehen?«, fragt Jonathan.
Der linke Bildschirm wird schwarz. Dann erscheint etwa in der Mitte ein heller Punkt.
»Das da«, sagt Atiya über Funk.
Sie meint offenbar den hellen Punkt. Jonathan beugt sich über den Bildschirm und betrachtet ihn. Es könnte alles sein, ein Stern, eine gerade aufgeflammte Supernova, ein Asteroid, der zehnte Planet …
»Und was ist das?«, fragt er deshalb.
»Das versuche ich gerade herauszufinden.«
»Dann wollen wir dich nicht von deiner Arbeit abhalten.«
Jetzt ist
es bei ihm auch so weit. Jetzt weiß er auch, warum Wayne es sich so breitbeinig auf dem Boden bequem gemacht hat. Aber er kann das Bedürfnis nicht länger ignorieren.
»Wie lange noch, Atiya?«
»Gib mir zehn Minuten.«
Er schlendert zur Brennstoffzelle hinüber. Sie hat noch für eine halbe Stunde Kapazität.
»Alles klar«, sagt er. »Hast du schon etwas herausgefunden?«
»Es ist sehr spannend. Wenn ihr zurück seid, bin ich mit den Berechnungen fertig.«
»Sehr schön, dann habe ich etwas, worauf ich mich freuen kann.«
Noch viel mehr freut er sich allerdings darauf, sich endlich wieder reinigen zu können. Aber das muss er Atiya ja nicht auf die Nase binden.
»Was passiert nachher denn eigentlich mit der Brennstoffzelle?«, fragt er.
»Die müssen wir wieder ins Kraftwerk integrieren«, sagt Maxim.
Jonathan lächelt. Der Kommandant tut wirklich alles, um der Medizinstation in der Basis auszuweichen. Hoffentlich sind die Gefäße durch den Bruch nicht doch geschädigt. Dass Maxim so wenig über Schmerzen klagt, macht ihm eher Sorgen, als es ihn beruhigt. Der Russe ist zwar grundsätzlich ein harter Kerl, aber das Schmerzmittel kann jetzt nicht mehr wirken. Und mit einem so frischen Bruch ist eigentlich nicht zu spaßen.
Er zieht
das Kabel aus der Steckdose, und in der Kuppel wird es wieder dunkel. Scheinwerferstrahlen zucken über den Boden.
»Gib mir das Kabel«, sagt Maxim.
Er hält es ihm hin. Der Kommandant zuckt mit dem rechten Arm. Anscheinend wollte er instinktiv damit zugreifen. Trotz der spiegelnden Helmscheibe erkennt Jonathan den Schmerz in Maxims Gesicht. Das beruhigt ihn. Wenn der Schmerz noch da ist, ist zumindest noch kein Nerv abgestorben. Leider kann er ja nicht nachsehen, wie der Bruch inzwischen aussieht. Und Maxim tut alles, um das so weit wie möglich hinauszuzögern.
»Fasst du wieder bei der Zelle mit an?«, fragt Wayne.
»Aye-aye.«
Er bückt sich und fasst mit den Handschuhen darunter.
»Hau-ruck!«
Er hebt die Zelle an. Dabei entfährt ihm ein Ächzen.
»Schlecht im Training?«, fragt Wayne.
»Geht so.«
»Ich gehe wieder voraus.«
Mit kleinen Schritten geht es durch den Gang nach draußen. Es ist immer noch hell. Jonathan schwitzt, obwohl die Lüftung seines Anzugs auf Hochtouren arbeitet. Maxim wartet schon beim Rover.
»Achtung, eine Stufe, hinter dir, Wayne«, ruft er.
Wayne hält an und orientiert sich. Vorsichtig tastet er mit dem Fuß nach hinten. Jonathans Arme werden länger und länger. Es geht weiter. Er sieht auf den Boden, um nicht über die Stufe zu stolpern. Die Brennstoffzelle ist empfindlich. Sie sollte ihm besser nicht aus den Fingern gleiten.
Sie erreichen den Rover.
»Auf mein Zeichen – jetzt!«, sagt Wayne.
Jonathan versucht mit all seiner Kraft, die Zelle auf die Höhe der Ladewanne zu heben, aber er schafft gerade einmal zehn Zentimeter.
»Vorhin war sie leichter«, sagt er.
»Reiß dich zusammen, John, wir schaffen das«, sagt Wayne. »Und los!«
Er versucht es wieder. Seine Muskeln schmerzen, und nach zwanzig Zentimetern versagen sie ihren Dienst. Mist. Müsste die Zelle nicht leichter sein, wenn sie ihren Wasserstoff- und Sauerstoff-Vorrat zu Wasser verbrannt hat? Auf der Erde schon, korrigiert er sich. Aber das hier ist eine selbst-recycelnde Zelle. Sie speichert das Wasser für den nächsten Schritt.
»Warte, ich helfe dir«, sagt Maxim.
Das fehlte noch. Maxim will ihm mit seinem gebrochenen Arm helfen!
»Lass mal«, sagt Jonathan.
Es war die falsche Antwort. Das merkt er beim nächsten Versuch. Er bekommt die Zelle nicht einmal auf halbe Höhe. Aber plötzlich wird sie ganz leicht. Er sieht nach rechts. Maxim hat mit der linken Hand daruntergegriffen und hilft ihm. Zu dritt schaffen sie es.
Jonathan atmet schwer. Morgen hat er garantiert Muskelkater.
»Danke, Maxim«, sagt er.
»Ist doch nicht der Rede wert. Ihr schleppt mich die ganze Zeit so durch.«
Jonathan nimmt sich vor, nach ihrer Rückkehr in die Basis mehr zu trainieren.
»Außenteam an Basis.«
»Ja, Wayne?«
Yue ist am Funkgerät. Atiya wertet wohl noch die Aufnahmen aus.
»Wir sind jetzt beim Kraftwerk. Wir laden schnell die Zelle ab und schließen sie wieder an, dann kommen wir heim.«
»Ok. Braucht ihr keine Pause?«
»Wir wollen so schnell wie möglich zurück«, sagt Wayne.
In der Hütte hier oben gibt es keine Dusche, deshalb haben sie sich darauf geeinigt.
»Seid vorsichtig. Wir freuen uns.«
»Ich soll Ken von Maxim ausrichten, dass er sich Sushi wünscht.«
»Ich sage es ihm. Ken ist gerade auf der Baustelle für das Gewächshaus, aber er müsste vor euch zurück sein.«
Die Sushi, die Kenjiro mit den beschränkten Mitteln der Station kreiert, sind kaum von denen auf der Erde zu unterscheiden. Ken schafft es, das frische Gemüse so durch Tofu und rehydrierten Fisch zu ersetzen, dass die Rollen unglaublich frisch schmecken.
»Und Atiya?«
»Von der habe ich seit zwei Stunden nichts gesehen und gehört. Scheint sehr spannend zu sein, was sie da gefunden hat.«
Er erkennt
die Basis an ihren Positionslichtern. Jonathan kann sich nicht erinnern, schon mal in der Nacht heimgekommen zu sein. Aber heute ist wohl einer der wenigen Tage, an denen die Basis im Mondschatten liegt. Ohne die vier roten Lichter, die ein Quadrat um die Gebäude zeichnen, hätte er ihr gemeinsames Zuhause allerdings nicht entdeckt. Der größte Teil der Wohnräume befindet sich unter dem Mondboden.
Hier haben Bohrroboter im ersten Schritt Kammern und Gänge gegraben, in denen sie noch immer wohnen. Der 3D-Druckroboter, der gerade das Gewächshaus errichtet, kam erst später hinzu. Der Ausblick hat ihm bisher nicht gefehlt. Die Mondlandschaft ist wirklich nicht besonders abwechslungsreich. Und es ist ein gutes Gefühl, ein paar Meter verdichteten Regolith zwischen sich und dem Weltall zu wissen, aus dem dauernd kosmische Strahlung und immer wieder kleine Meteoriten auf sie herunterprasseln.
Sie halten vor einem etwa zwei Meter hohen und drei Meter breiten Hügel, in dessen Vorderfront sich eine Metalltür befindet. Das ist die Hauptschleuse. Die Tür gleitet wie bei einem Fahrstuhl zur Seite. Innen leuchtet eine rote Lampe. Wayne übernimmt die Steuerung. Die Tür schließt sich wieder. Nebel schwappt von der Decke herein. Der Wasserdampf in der einfließenden Atemluft kondensiert in der Kälte. Sechzig Sekunden später löst sich der Nebel schon wieder auf. Die Lampe an der Decke leuchtet nun grün. Jonathan kontrolliert trotzdem Druck und Temperatur an dem Instrument am Ärmel seines Anzugs. Es ist alles in Ordnung.
»Fertig?«, fragt Wayne.
»Ja«, sagt Maxim.
»Bitte«, sagt Jonathan.
Wayne drückt den Öffnungsknopf. Die Tür auf der anderen Seite öffnet sich. Dahinter geht es steil nach unten. Der Gang führt in den Empfangsraum, wo Yue und Kenjiro auf sie warten.
Jonathan setzt sich sofort auf die Bank an der Seite und streckt Arme und Beine von sich. Yue und Ken helfen Maxim, aus dem Anzug zu steigen. Jonathan öffnet seinen eigenen Anzug. Eine Duftwolke zieht durch den Raum, eine herbe Mischung aus Schweiß, Urin und Fäkalien. Niemand kommentiert das. Es ist normal. Wer länger als zehn Stunden in seinem Raumanzug unterwegs ist, hat gar keine andere Wahl, als nach der Rückkehr erbärmlich zu stinken. Die Lüftung an der Decke arbeitet auf Hochtouren, um den Geruch abzusaugen.
»Ich bringe Maxim zur Dusche«, sagt Kenjiro.
»Willst du unter die andere?«, fragt ihn Wayne.
Jonathan schüttelt den Kopf. »Geh nur, ich brauche ein paar Minuten Ruhe.«
Er ist so erledigt, dass ihm sogar sein eigener Körpergeruch egal ist. Alle anderen verlassen den Raum. Yue dreht sich noch einmal zu ihm um.
»Kann ich dir irgendwie helfen?«, fragt sie.
Jonathan winkt ab. »Danke, das ist nett, aber ich warte jetzt einfach hier, bis Wayne fertig ist.«
Yue winkt ihm zu und verschwindet im Gang. Er schließt die Augen.
Sie haben
sich alle in der Zentrale versammelt. Nur Atiya fehlt noch. Maxim trägt seinen rechten Arm in einer Schlinge. Jonathan hat ihn noch einmal gründlich untersucht, aber der Bruch scheint wirklich keine schwerwiegenden Folgen zu haben. Der Kommandant ist ein echtes Glückskind. Maxim und Wayne haben von ihrem abenteuerlichen Ausflug berichtet. Aber nun ist ihnen der Stoff ausgegangen.
Als hätte sie darauf gewartet, betritt Atiya den Raum. Alle Blicke kleben an ihr. Sie muss sich wie ein Star fühlen. Atiya bleibt stehen und zieht die Brauen hoch.
»Ist etwas mit meinen Haaren, oder warum starrt ihr mich so an?«
Sie fährt sich durch ihre schwarze Mähne.
»Nun rück schon raus mit deiner Entdeckung«, sagt Wayne.
Atiya nimmt einen Stuhl, der an der Seite des Raumes steht, und stellt ihn in die Mitte. Dann setzt sie sich und schlägt die Beine übereinander. Es fällt Jonathan sonst immer schwer, an ihrem dunklen Gesicht etwas abzulesen, aber diesmal scheint es ihm eindeutig, dass sie eine großartige Neuigkeit zu verkünden hat.
»Genau genommen ist es ja nicht meine Entdeckung«, sagt sie. »Die ersten Beobachtungen kamen vom ELT der Europäischen Südsternwarte, und dann hat Giordano von der ARES entscheidende Hinweise geliefert.«
»Aber worauf denn?«, fragt Maxim.
Atiya hebt den Finger. Dann steht sie auf und holt ein Tablet von einem der Schreibtische in der Ecke. Sie tippt darauf herum und zeigt ihnen dann ein Bild. Jonathan sieht einen zigarrenförmigen Körper, rötlich-grau gefärbt, der mehrere Einschnürungen besitzt. Irgendwo hat er so etwas schon einmal gesehen.
»Das ist unser Besucher. Er hat noch keinen Namen und ist etwa 400 Meter lang und durchmisst vielleicht 100 Meter«, sagt sie. »Was ihr da seht, könnte ein Asteroid vom D-Typ sein, aber auch ein Komet. Die Form ist ein bisschen ungewöhnlich, aber auch nicht so sehr. Es wäre auch möglich, dass es sich nicht um ein einzelnes Objekt handelt, sondern um mehrere, die eng aneinander gedrückt ihre Bahn ziehen. Fällt euch etwas auf?«
»Die Einschnürungen?«, schlägt Jonathan vor.
»Nein. Ich habe nicht ›die um die Sonne kreisen‹ gesagt. Das ist eine echte Besonderheit. Der Himmelskörper kommt ganz klar von außerhalb des Sonnensystems.«
Jetzt fällt ihm wieder ein, woher er das Bild kennt. Vor etwa zwanzig Jahren hat ein ähnliches Objekt das Sonnensystem besucht und wieder verlassen. Omama hieß es, oder so ähnlich. Er war damals noch Schüler gewesen und hatte sich über den Namen amüsiert.
»Ist das so etwas wie dieser Omama-Komet vor ein paar Jahren?«
»Ein guter Hinweis«, sagt Atiya. »2017 hatte das Sonnensystem schon einmal einen Besucher, den seine Entdecker ʻOumuamua genannt haben, oder wissenschaftlich 1I für das erstgefundene interstellare Objekt.«
»Könnte es sein, dass 1I zurückgekommen ist?«, fragt Kenjiro.
»Nein, er hat sich damals in Richtung des Sternbilds Pegasus entfernt. 1I werden wir nie wiedersehen. Bei 2I hingegen bin ich mir nicht so sicher.«
»Wie meinst du das?«, fragt Jonathan.
Atiya tippt erneut auf das Tablet. Die rote Zigarre verschwindet, dafür erscheint ein heller Punkt. Der Punkt bewegt sich mit gleichförmiger Geschwindigkeit aus dem Zentrum des Bildes heraus. Aber plötzlich springt er und bewegt sich in die entgegengesetzte Richtung.
»Diese Simulation beruht auf Daten, die Giordano Bruno an Bord der ARES aufgezeichnet hat. Was ihr da seht, ist bei einem natürlichen Himmelskörper völlig unmöglich.«
»Aber könnte das Objekt nicht von etwas anderem getroffen worden sein, das wir bloß nicht gesehen haben?«, fragt Kenjiro.
»Seine Helligkeit und seine absolute Geschwindigkeit haben sich nur wenig geändert. Es müsste sich um einen elastischen Stoß an einem Objekt mit riesiger Masse gehandelt haben. Zugleich müsste dieses unbekannte Objekt vollkommen dunkel sein. Ich kenne kein Phänomen, das dafür in Frage kommt.«
»Zumindest grundsätzlich muss es ja nur im optischen Bereich dunkel sein. Oder hat die ARES es auch in anderen Wellenlängen untersucht?«
»Das stimmt, Ken. Es gibt noch eine Menge Wenns und Abers. Wie ich es sehe, hat 2I seine Bewegung selbst verändert. Das dürfte plausibler sein als die Existenz eines riesigen, unsichtbaren Objekts, an dem 2I fast perfekt elastisch abgeprallt sein könnte, noch dazu, ohne dabei zerstört zu werden.«
Jonathan muss Atiya recht geben. Ihr Szenario ist das wahrscheinlichere.
»Da muss ich dir widersprechen«, sagt Kenjiro. »Auf den ersten Blick hast du recht. Aber diese Bewegungsänderung, die Bruno auf der ARES gemessen hat, weißt du, was das bedeutet? Wenn die Größe korrekt ist, und davon gehe ich aus, dann wiegt 2I etwa 10 Millionen Tonnen. Und so ein Objekt soll plötzlich den Betrag seiner Geschwindigkeit um mehr als 30 Kilometer pro Sekunde ändern? Hat denn die ARES irgendeinen Energieausstoß bemerkt?«
»Dummerweise war das Objekt für einige Zeit unbeobachtet. Wir wissen also nicht, wie lange es zum Bremsen und Beschleunigen gebraucht hat und ob es dabei zu einer Energieentwicklung gekommen ist.«
So ein Pech. Jetzt haben sie die Wahl zwischen zwei Szenarien, die beide völlig phantastisch klingen. Und das Faszinierendste daran ist: Eines von beiden muss richtig sein! Oder haben sie irgendetwas übersehen?
»Könnte es sein, dass es sich in Wirklichkeit um zwei sehr ähnliche Objekte handelt?«, fragt Yue.
Das ist es. Das wäre die naheliegendste Erklärung für das scheinbare Wunder.
»Ich gebe zu, das wäre möglich«, sagt Atiya. »Natürlich habe ich nach einem zweiten Objekt gesucht, allerdings nichts gefunden, aber das muss nichts heißen. Das Objekt könnte ja eine helle und eine dunkle Seite besitzen und sehr langsam rotieren. Die Wahrscheinlichkeit, dass zwei interstellare Objekte sich an einem Ort mitten im Sonnensystem begegnen, ist allerdings sehr, sehr gering. Von beiden Objekten wissen wir, dass sie von außerhalb kommen müssten.«
Jonathan brummt der Schädel. Es gibt also drei unmögliche Szenarien. Welches wäre ihm am liebsten? Die zufällige Begegnung zweier interstellarer Besucher würde den Status Quo am wenigsten verändern. Es wäre eine Kuriosität, keine Sensation. Die Menschen würden kurz aufhorchen, Atiya dürfte das Phänomen in den TV-Nachrichten erklären, fertig. Die anderen beiden Versionen der Geschichte haben hingegen das Potenzial, die Menschheit ins Chaos zu stürzen. Ein riesiges außerirdisches Raumschiff durchquert das Sonnensystem. Oder, wenn es nach Ken geht, schwebt eine gigantische Sphäre durch das System, für deren Eigenschaften sie noch nicht einmal physikalische Begriffe besitzen.
Vielleicht sollte er weniger Angst vor Veränderungen haben. Ein Raumschiff, na und? Wenn sie Kontakt aufbauen können, bringt das die Menschheit vielleicht wissenschaftlich weit voran. Und die Sphäre: Was könnten sie von ihr lernen? Die Physiker könnten vielleicht endlich ihren Streit um die Vereinigung von Relativitätstheorie und Quantenphysik beenden. Lauter Chancen!
Aber im Grunde ist doch irrelevant, wie er über die drei Möglichkeiten denkt. Er kann den Gang der Zeit nicht verändern. Die Geschichte ist längst entschieden, auch wenn er noch nichts über die Zukunft weiß. Sie müssen einfach bloß abwarten, dann hat sie gar keine andere Wahl, als sich zu offenbaren.
»Leute«, sagt er, »nehmt es mir nicht übel, es ist ja auch wirklich sehr spannend, aber ich muss jetzt erst einmal ins Bett. Wir sehen uns morgen.«