3.1. 2035, Mars-Schiff ARES
»Guten Morgen, François.«
Er spricht den Frankokanadier von der CSA am liebsten mit seinem richtigen Namen an. Frank, sein Spitzname, klingt so platt, und die italienische Variante Franco passt nicht zu ihm.
»Guten Abend, Giordano.«
Er sieht auf die Uhr an seinem Handgelenk. Tatsache, es ist schon 20 Uhr Standardzeit. Der Schichtrhythmus auf dem Schiff bringt ihn ganz durcheinander. In zwei Stunden beginnt sein Arbeitstag. Bis dahin will er noch ein bisschen an den Geräten trainieren. Er hat schon geahnt, dass er François hier treffen würde. Der Geologe ist zwar körperlich der kleinste in der Crew, doch er hat den am besten trainierten Körper. Vermutlich will er damit seinen mangelnden Haarwuchs ausgleichen, obwohl er das nie zugeben würde. Haare wären sowieso unpraktisch, behauptet er immer.
»Und, kannst du mir etwas empfehlen?«, fragt er.
François lässt die Handgriffe des Rudertrainers los, steht auf und begutachtet lächelnd seinen Körper.
»Es tut mir leid«, sagt er dann, »aber du solltest ein komplettes Zirkeltraining absolvieren. Oder zwei. Soll ich dir ein paar Vorschläge machen?«
»Danke, aber ich fürchte, du hast recht. Ich fange am besten mit dem Laufband an.«
»Oh, ich dachte, du wolltest an deiner Körperform arbeiten. Fitness, das ist etwas anderes. Wenn du noch Fragen hast, melde dich ruhig.«
»Versprochen.«
Giordano stellt sich auf das Laufband. In der Schwerelosigkeit funktioniert kein Sportgerät, das mit dem Gewicht des Körpers arbeitet. Deshalb muss er einen speziellen Gürtel anlegen. Der wird von elastischen Bändern nach unten gezogen. Die Kraft, mit der die Bänder an ihm zerren, kann er einstellen. Er wählt zunächst 70 Prozent, doch dann erhöht er auf 100. Er darf seinen Körper nicht vernachlässigen. Ohne ständiges Training verringert sich die Knochendichte so, dass er dann auf dem Mars als alter Mann ankäme. Dann muss Mike seinen Chirurgie-Roboter doch noch benutzen.
Er meldet sich auf dem Band mit seinem Fingerabdruck an. So kann das Gerät seine Vitaldaten aufzeichnen und mit denen von gestern oder aus der Zeit vor dem Start vergleichen. Das Laufband erkennt ihn. Sofort blinkt ein rotes Symbol auf. Oh, das System hat wohl erkannt, dass er nicht genug trainiert hat. Er tippt das Symbol an, und eine Nachricht öffnet sich. Sie kommt nicht vom System, sondern vom Mond. Die Absendeadresse endet auf .luna, eine sehr exklusive Domain-Endung, darf sie doch derzeit nur von sechs Menschen benutzt werden. Atiya Kabira, der Name der Absenderin, sagt ihm allerdings wenig. Als die sechs aktuellen Mondbewohner gestartet sind, steckte er schon mitten in der Ausbildung.
Atiya stellt sich als Kollegin vor, als Astronomin. Sie dankt ihm für die Daten des Himmelskörpers, den er gestern beobachtet hat. Offenbar hat sie über ihren Capcom erhalten, was er an das Minor Planet Center geschickt hat. Und sie hat mit Hilfe des Far-Side-Teleskops nachgesehen, was sich hinter dem Objekt wirklich verbirgt. Ihre Schlussfolgerungen sind atemberaubend.
Giordano schnallt sich wieder ab. Er kann jetzt nicht trainieren. Am liebsten würde er seine drei Mitreisenden wecken. So eine Nachricht müssen sie doch sofort erfahren! Aber ob Mike es wirklich zu schätzen wüsste, wenn er ihn jetzt aus seiner Kabine im Ring holte? Vielleicht widmet er sich doch lieber dem inzwischen offiziell 2I genannten Objekt, das die Astronomin auf dem Mond so beeindruckend dargestellt hat. Immerhin hat er eine gewisse Verantwortung, denn schließlich hat er das Objekt entdeckt und niemand ist 2I derzeit so nahe wie er. Sie fliegen sogar genau in seine Richtung, wenn man das im Weltall überhaupt sagen kann.
»Bist du schon fertig?«, fragt François.
»Ich … ich muss etwas klären«, sagt er.
»Na dann kläre das. Wenn du damit fertig bist, liege ich vermutlich schon im Bett. Also bis morgen, Giordano. Und vernachlässige dein Training nicht.«
»Keine Sorge, meine Schicht beginnt erst in zwei Stunden.«
Endlich sitzt er wieder am Teleskop. Seine Finger zittern, als er die neu berechneten Koordinaten eingibt. So muss sich ein Raucher fühlen, der sich nach langer Zeit mal wieder eine Zigarette ansteckt. Und da ist der helle Punkt auch schon. Er hat sich nicht verändert und zieht genau so seine Bahnen, wie es Atiya Kabira ermittelt hat. Vermutlich starren weltweit gerade hunderte Astronomen auf diesen Punkt. Die einen vielleicht wie er durch ein echtes Okular, andere sehen 2I auf einem Bildschirm oder in Form von Intensitätskurven verschiedener Frequenzen.
Und er ist zumindest ein bisschen schuld daran. Hätte er nicht bemerkt, dass das Objekt seine Bewegungsrichtung verändert hat, wäre es bloß ein weiterer Felsbrocken aus dem Raum zwischen den Sternen gewesen. Und hätte er nicht Mike helfen müssen, wäre die Frage, was bei dieser Veränderung genau passiert ist, nun vielleicht schon geklärt. Und wenn 2I sein Verhalten wiederholt? Ausgeschlossen ist das sicher nicht. Er kann mit seinem bescheidenen Teleskop sonst nicht viel zum Erkenntnisgewinn über das Objekt beitragen. Aber wenn es den Kurs ändert, bemerkt er das automatisch einen Moment vor allen anderen Menschen – weil das von 2I reflektierte Licht bis zur Erde etwas länger benötigt als bis zu ihrem Schiff.
Es ist schon verrückt. Er hat sich monatelang auf diesen Flug vorbereitet. Alle Welt hat auf den glorreichen Tag gewartet, wenn ein internationales Team erstmals den Mars betritt. Und nun spielt sich vorher ein womöglich noch viel dramatischeres Ereignis ab. Wenn sie Pech haben, ergeht es ihnen wie der Mondbasis: Die öffentliche Aufmerksamkeit könnte sich ab morgen nur noch für das womöglich außerirdische Raumschiff interessieren und nicht mehr für vier einsame Astronauten auf dem Weg zu einem felsigen, trockenen Planeten.
Giordano starrt auf den hellen Fleck in der Schwärze. So ähnlich hat sein Namenspate vor 500 Jahren vielleicht auch einen Himmelskörper betrachtet. Das Fernrohr mag primitiver gewesen sein, aber das Funktionsprinzip war das gleiche. Der Anblick erfüllt ihn mit Ehrfurcht und lässt ihn ganz ruhig werden. Ab und zu verstellt er die Optik, weil 2I sich weiterbewegt hat. Das fremdartige Objekt, was immer es ist, zieht seine Bahn. Sie gehorcht den Keplerschen Gesetzen, die erst nach der Verbrennung seines Namensvetters ein anderer Astronom aufgestellt hat. Ein Mensch also – und trotzdem hält sich das Objekt daran. Er kann nicht glauben, dass Außerirdische immer feindlich gesinnt sein sollen. Es muss eine gemeinsame Sprache geben, denn sie leben im selben Universum und sind den gleichen Gesetzen unterworfen.
Mit einem Mal verändert sich der helle Fleck. An seiner Unterseite bekommt er eine Art Ausbuchtung. Sie ist heller als der Fleck selbst. Giordano reibt sich die Augen. Hoffentlich ist er nicht der einzige, der das gerade beobachtet. Eine Sekunde vergeht, zwei, drei, dann wird die Ausbuchtung wieder kleiner. Ihre Helligkeit nimmt schnell ab, und nach fünf Sekunden ist nichts mehr davon zu sehen. Was war das? Er weiß es nicht. In Kürze wird das, was er gerade beobachtet hat, auch auf der Erde zu sehen sein. Er ahnt, dass sich dadurch einiges verändern könnte.