12.1. 2035, Mond-Basis Unity
»Siehst
du das blinkende Licht auf dem Malapert?«, fragt Atiya.
Jonathan nickt.
»Du musst das Fadenkreuz exakt darauf ausrichten.«
»Wie exakt? Das Licht ist kleiner als die Linien im Display.«
»So gut es geht. Keine Sorge, der Link ist selbstjustierend.«
»Verstehe. Hab es.«
»Bitte so halten. Ich ziehe die Schrauben an.«
Jonathan richtet sich auf, hält aber die Metallkonstruktion weiter fest. Er muss gähnen. Es muss schon lange nach Mitternacht sein. Atiya kniet auf dem Boden und zieht an einem drehbaren Gelenk ein paar Schrauben fest. Dann steht sie auf.
»Kannst loslassen.«
Der Laserlink auf dem Kamm des Shackleton-Kraters ist jetzt grob auf sein Gegenstück auf dem Malapert-Gipfel ausgerichtet. Noch betreiben sie ihn über ein Kabel aus dem Rover-Akku, doch bald wird er vom Solarkraftwerk auf dem Mons Malapert mit Energie versorgt werden.
»Ich starte die Feinjustierung«, sagt Atiya und drückt einen Knopf.
Das Gerät, das wie ein großes Fernrohr aussieht, sendet jetzt einen Laserstrahl zu einem Spiegel an seinem Gegenüber. Dann misst das Gerät, wie viel davon reflektiert wird, und richtet den Sende- und Empfangskopf so aus, dass die Reflektion maximal ist. Zu sehen ist davon nichts, weil der Mond keine Atmosphäre hat, die den Laserstrahl streuen könnte.
»Fertig«, sagt Atiya.
Das ging schnell.
»Ich starte jetzt die Übertragung.«
Sie drückt einen anderen Knopf. Ein Steuerimpuls wandert in Lichtgeschwindigkeit zum Mons Malapert, und der Laserlink dort beginnt, Energie aus dem Kraftwerk abzuzweigen und zu ihrem Gerät zu schicken. Hier wird das konzentrierte Licht in Strom umgewandelt und über ein Kabel an das Far-Side-Teleskop im Krater geleitet. Außerdem erhält der in den Laserlink integrierte Funk-Repeater Strom. Endlich können sie die Basis wieder erreichen. Irgendwann in der Zukunft wollen sie die gesamte Mondoberfläche auf diese Weise mit Strom und Kommunikation versorgen.
»Sind wir dann hier fertig? Ich bin hundemüde«, sagt Jonathan.
Sie wollen in der Nothütte auf dem Mons Malapert übernachten.
»Moment, wir müssen noch den Repeater ausprobieren.«
»Klar.«
»Außenteam an Basis, hört ihr uns?«
»Atiya, endlich«, hört er Yues Stimme im Helm. »Wir sitzen hier auf Kohlen.«
»Aber was ist denn los? Schlafen denn die anderen nicht längst?«
»Etwas ist passiert, mit der Erde. Wir können es uns selbst nicht erklären.«
»Aber was denn? Ein neuer Krieg? Ein Hurrikan? Das Artensterben?«, fragt Atiya.
»Vielleicht alles auf einmal. Die Erde ist verstummt, und an ihrer Stelle ist nur noch eine große, weiße Scheibe zu sehen.«
Atiya lacht gekünstelt. »Jetzt ist aber gut, Yue. So weit nach Mitternacht vertrage ich solche Witze nicht.«
»Es tut mir leid. Ich scherze nicht. Du wirst es sehen, wenn ihr auf dem Mons Malapert seid.«
»Dann sprechen wir uns in ein paar Stunden nochmal. Du wirst verstehen, dass wir das mit eigenen Augen sehen wollen.«
Da hat Atiya recht. Yue will ihnen doch einen Bären aufbinden. Atiya sollte sich Maxim in die Leitung holen lassen. Der Kommandant wird ihnen keinen solchen Quatsch erzählen.
»Nein, warte bitte«, sagt Yue. »Wir brauchen eure Hilfe.«
Atiya stöhnt. »Ich kann nicht glauben, was du uns gerade erzählt hast.«
»Maxim hier. Ihr müsst uns vertrauen. Es ist, wie Yue sagt. Und ihr müsst uns helfen.«
Mist. Wenn Maxim das bestätigt, haben sie wirklich ein Problem. Wenn sich die Erde nicht mehr meldet, sind sie in sechs bis acht Wochen verhungert. Sie müssen die Verbindung wieder aufbauen. Und was ist mit seiner Familie? Er hatte sich für übermorgen einen Funktermin reserviert. Bis dahin muss diese angebliche Scheibe wieder verschwunden sein.
»Einverstanden«, sagt Atiya. »Worum geht es?«
»Ihr müsst die ARES kontaktieren. Für uns ist sie erst übermorgen wieder erreichbar.«
»Per Helmfunk? Das Schiff ist doch viel zu weit entfernt.«
»Nein, gleich neben dem FST findet ihr eine Radioschüssel« Yue hat das Mikrofon wieder übernommen. »Das ist der Pilotbau für das große Radioteleskop, das im Shackleton-Krater entstehen soll. Damit könnt ihr nicht nur empfangen, sondern auch senden. Mit dieser Leistung erreicht ihr die ARES sicher.«
»Könnt ihr das nicht per Fernsteuerung übernehmen?«
»Die Schüssel ist nicht ins Netz eingebunden. Jemand muss dort hingehen und sie mit dem Datenport im Anzug koppeln.«
»Das bekommen wir hin. Und was sollen wir ihnen sagen?«
»Sie sollen sich die Erde ansehen und uns sagen, was genau sie da erkennen.«
»Das klingt sehr kryptisch.«
»Sie werden die Frage verstehen.«
»Alles klar, Yue, wir sind unterwegs.«
»Wir sind da.«
Jonathan kippt fast vom Rover, als Atiya aufsteht. Er muss an ihrem Rücken eingeschlafen sein. Zuerst ist er gefahren, doch nach der Hälfte der Strecke haben sie die Plätze getauscht. Der Rover steht vor dem Hügel, der ihn immer noch an einen Pickel erinnert. Die Schüssel des Radioempfängers war ihm gar nicht aufgefallen.
»Hast du eine Idee, wo sie ist?«, fragt Atiya.
»Warte mal.«
Er geht um das FST herum. Hier steht kein Radioteleskop, nicht mal ein ganz kleines. Das hätte ihm doch auch beim letzten Besuch auffallen müssen. Vielleicht hat man es mit größerem Abstand aufgestellt? Er zieht einen größeren Kreis. Dann stößt er auf einen kleinen Krater. Er leuchtet hinein. Darin liegt eine nach oben gewölbte Metallschüssel.
»Ich habe es«, ruft er, steigt in den Krater und zieht die Schüssel heraus. Sie muss mindestens 150 Kilogramm wiegen. Gut, dass der Mond ihm den Transport erleichtert.
Atiya erscheint.
»Wie ein Radioteleskop sieht das aber nicht aus«, sagt sie.
»Nein. Da hat irgendwer vom Aufbauteam geschlampt«, sagt Jonathan zähneknirschend.
»Das muss vor unserer Zeit gewesen sein.«
»Vermutlich, als die große Variante des Teleskops auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben wurde.«
»Sie hätten es ja wenigstens im Plan vermerken können.«
»Hätte, hätte, Fahrradkette.«
»Und nun?«
»Müssen wir improvisieren. Also du. Ich bin hier bloß der Arzt.«
»Vielen Dank auch.«
Atiya geht einmal um die Schüssel herum.
»Außenteam an Basis, ich schicke euch ein Foto. Könnt ihr damit etwas anfangen?«
»Moment«, sagt Yue.
»Kenjiro hier. Sieht aus, als hätte da jemand mittendrin aufgehört und alles hingeworfen. Kannst du die Kamera noch einmal auf die Mitte der Schüssel halten?«
»Okay.«
»Ich sehe es jetzt. Die Anlage ist im Grunde komplett vormontiert. Es fehlt nur die Basis.«
»Gibt es hier etwas, das wie eine Basis für die Schüssel aussieht, John?«
Jonathan sieht sich um.
»Nein, nichts.«
»Vielleicht ist sie nie geliefert worden«, sagt Atiya.
»Das würde zu dem Chaos passen, das bei der Organisation der Mondbasis geherrscht hat«, sagt Kenjiro.
»Und nun, Ken? Kann John die Basis spielen?«
»Nein. Er müsste die Schüssel genau auf das Ziel ausrichten und sie dann während eurer Unterhaltung festhalten. Dafür ist sie aber zu schwer.«
»Was brauchen wir denn als Basis?«, fragt er.
»Irgendein stabiles Kugelkopfgelenk«, erklärt Kenjiro.
»Du hast doch vorhin an einem solchen Gelenk Schrauben festgedreht. Beim Laser-Link.«
»Stimmt«, sagt Atiya. »Kommt das Gelenk des Laser-Links in Frage?«
»Ja, die Dinger sind standardisiert. Man wollte ja nicht, dass wir zu viele Ersatzteile mitschleppen müssen.«
»Dann schleppen wir die Schüssel jetzt auf den Kraterkamm?«, fragt Jonathan.
»Das wäre nett«, sagt Kenjiro. »Gut, dass ihr den Last-Rover genommen habt. Der Kamm liegt für euch ja sowieso auf dem Heimweg.«
»32,8 Grad«,
sagt Jonathan.
»Das ist perfekt. Dann ziehe ich die Mutter jetzt an«, sagt Atiya.
Yue hat ihnen die aktuelle Position der ARES so umgerechnet, dass sie die Schüssel perfekt ausrichten können. Es war trotzdem ein gehöriges Stück Arbeit gewesen.
»Hast du das Verbindungskabel?«, fragt er.
»Ja. Ich schließe es an. Passt.«
»Achtung, was du ab sofort sagst, hört das ganze Universum mit.«
»Du übertreibst, John. Die Funksendung ist auf die ARES gerichtet, sonst würde die bescheidene Leistung unseres Rover-Motors nie genügen.«
»Verstehe. Wie gesagt, ich bin ja auch nur der Arzt. Wobei mir Kugelkopf-Gelenke sehr geläufig sind.«
Er macht Scherze, und das, nachdem ihnen Yue vorhin eröffnet hat, dass die Erde verstummt ist. Doch er spürt den Verlust gerade überhaupt nicht. Es muss an seiner Müdigkeit liegen, oder daran, dass seine Kollegen ihn von Job zu Job scheuchen.
»Ich kontaktiere jetzt die ARES«, sagt Atiya.
»Wundere dich nicht, dass sie nicht gleich antwortet«, warnt Yue.
»Ich weiß, die Signallaufzeit.«
»Nun fang schon an«, sagt Jonathan, »ich will endlich ins Bett.«
»Hier Mondstation Unity, wir rufen ARES. Bitte kommen.«