12.1. 2035, Mars-Schiff ARES
Giordano schreckt auf.
Der Alarm gellt durch das Schiff. Was ist denn nun schon wieder los? Ist die Erde völlig verschwunden? Oder ist sie gar wieder da? Das Signal verrät ihm nur eines: Er sollte so schnell wie möglich in die Zentrale kommen. Giordano setzt sich auf. Das Licht schaltet sich automatisch an. Die Trainingshose liegt neben ihm. Er zieht sie über. Dann hebt er den Arm und schnüffelt unter seine Achsel. Geht noch. Es ist schließlich Alarm, da kann er nicht noch seinen Kleiderschrank durchsuchen.
Er greift nach oben und öffnet die Klappe. Der erste Schritt ist immer der schwerste. Er zieht sich an der untersten Stufe hoch. Seine Kapsel, die an einen überdimensionalen Sarg erinnert, wird mit sechs Umdrehungen pro Minute um die Zentralachse der ARES geschleudert – so wie die anderen drei Kapseln auch. Die Trägheitskraft vermittelt das Gefühl von Gravitation.
Die nächste Stufe. Die ersten fünf muss er nur mit den Armen erklimmen, danach kann er die Beine einsetzen. Bis zum Zentralbereich sind es nur 21 Stufen. Der Gang ist eng, aber er hat sich inzwischen daran gewöhnt. An den ersten Tagen hat er sich immer sehr beeilt, damit seine Klaustrophobie nicht zuschlägt. Der Mensch gewöhnt sich an alles, vermutlich sogar an eine verlorene Erde.
Er erreicht
die Zentrale als letzter. Mike und François sehen ihn an.
»Guten Morgen«, sagt er.
»Einen guten Morgen wünsche ich auch«, sagt Judith.
Sie wirkt nicht mehr so unsicher wie gestern. Es scheint fast, als hätte ihr das, was sie ihnen gleich eröffnen wird, zu neuer Gewissheit verholfen.
»Also, warum hast du mich geweckt?«, fragt Mike.
Seine Stimme klingt etwas höher als sonst. So spricht er immer, wenn er auf Streit aus ist.
»Ich habe auch Giordi geweckt«, sagt sie, »und François hat sein Training abgebrochen. Danke, dass ihr gekommen seid.«
»Na, bei dem Alarm hatten wir ja wohl keine andere Wahl«, sagt Mike.
»Ich hatte gerade eine Diskussion per Funk.«
»Mit der Erde? Antwortet sie wieder?«, fragt François.
Sein Gesicht leuchtet richtig.
»Nein, mit dem Mond«, sagt Judith.
Klar, die Mondbasis! Wie viele Leute sind dort mittlerweile stationiert? Vier oder sogar sechs?
»Haben sie uns etwa um Hilfe gebeten?«, fragt Mike.
»Ja. Sie wollten wissen, wie wir die Erde sehen. Ich habe ihnen erklärt, dass wir eine Art Schale um den Erdball herum gefunden haben.«
»Das hat sie schockiert?«
»Sie waren erstaunlich gefasst. Sie haben das Phänomen erst noch für eine Art Scheibe vor der Erde gehalten. Aber das kam ihnen genauso unwahrscheinlich vor wie uns die Schale.«
»Na dann ist doch alles klar. Deshalb hättest du uns nicht wecken müssen«, sagt Mike.
Da irrt sich der Vize aber. Giordano ahnt, was Judith vorhat. Daher kommt also ihre wiedergewonnene Sicherheit.
»Ich habe beschlossen, dass wir umkehren«, sagt sie.
»Was?« Mike begibt sich in Angriffsposition. »Das kannst du nicht einfach beschließen.«
»Ich bin die Kommandantin. Und ich habe keine andere Wahl.«
»Haben sie dich darum gebeten?«
»Nein, Mike. Ich habe sie nach ihren Vorräten gefragt. Jeder weiß, dass die Mondbasis wegen fehlender Mittel zusammengestrichen wurde. Mittel, die in unsere Expedition geflossen sind. Sie sind weit davon entfernt, sich selbst versorgen zu können. Und wir haben Vorräte für zwei Jahre an Bord!«
»Dauert es denn nicht viel zu lange, wenn wir umkehren?«, fragt Giordano.
»Das ist eine gute Frage«, sagt Judith. »Wären wir schon auf unserer Transferbahn, bräuchten wir für die Rückkehr etwa anderthalb Jahre. Aber der finale Schub kommt erst noch. Im Moment befinden wir uns genau genommen auf einem stark elliptischen Erd-Orbit. Wenn wir bremsen, statt zu beschleunigen, können wir den Orbit auch wieder bis auf die Mondbahn verkleinern.«
»Ich bin trotzdem dagegen«, sagt Michael. »Wir gefährden damit die Zukunft der Menschheit. Nur der Mars kann uns eine neue Heimat bieten.«
»Wir haben keine andere Wahl. Das Gesetz zwingt uns, ihnen zu Hilfe zu eilen. Den Menschen auf der Erde können wir ja vermutlich nicht helfen. Aber diese sechs Astronauten auf dem Mond, die können wir retten. Andernfalls kann man uns wegen unterlassener Hilfeleistung verurteilen.«
»So ein Quatsch. Wer sollte uns denn vor Gericht stellen? Es gibt keine Gerichtsbarkeit mehr – und keine Gesetze. Nur unsere Entscheidungen zählen.«
»Du hat recht, Mike«, sagt François.
Wie bitte?
»Du hast recht, Mike«, wiederholt er, »es mag keine Gesetze mehr geben. Aber es gibt immer noch Moral und Anstand. Eine Menschheit, die ihresgleichen ignoriert und sterben lässt, wäre es nicht wert, gerettet zu werden.«
»Ja, richtig«, sagt Giordano.
»Oh, ich wusste, dass wir zu einer Mehrheitsentscheidung kommen«, sagt Judith. »Und als Angebot an dich, Mike: Die Mondbasis ist bereits in der Lage, Raketentreibstoff zu produzieren. Wir könnten zurückfliegen, die sechs Leute und ein paar ihrer Geräte aufnehmen, und dann unsere Reise zum Mars neu beginnen. Drei Frauen und sieben Männer, das ergäbe viel mehr Potenzial für deinen Genpool. Die Mond-Crew ist auch deutlich internationaler zusammengesetzt als unsere Mannschaft.«
»Ich habe das Gefühl, das schlägst du nur vor, um mich ruhigzustellen«, sagt Mike. »Aber ich muss zugeben, dass du die Argumente auf deiner Seite hast. Es wäre tatsächlich vernünftiger, die Menschheit aus zehn Individuen neu erstehen zu lassen als aus vier. Und die ARES sollte kein Problem haben, in einen Mond-Orbit einzuschwenken. Ich habe keine Ahnung, wie wir es dann hinbekommen, sie aufzutanken, aber ich bin ja auch bloß Chirurg.«
»Die Zentrale ist ein eigenständiges Modul mit separatem Triebwerk«, sagt Giordano. »Wir können sie abkoppeln, auf dem Mond landen und dort neu auftanken.«
»Unter diesen Umständen bin ich einverstanden. Ich gehe davon aus, dass wir über unser endgültiges Ziel dann zu zehnt entscheiden, mit einfacher Mehrheit.«
»Das ist jetzt noch nicht so wichtig«, sagt Judith. »Das können wir später besprechen. Bisher weiß die Mond-Crew ja nur, was wir gesehen haben. Ich habe ihnen noch nicht gesagt, dass wir kommen, um sie zu retten.«
»Obwohl du deine Entscheidung schon gefällt hattest?«, fragt Mike.
»Ich gehe nicht davon aus, dass sie etwas dagegen haben, nicht verhungern zu müssen.«