19.1. 2035, Mond-Basis Unity
»Und wie schläfst du?«, fragt Jonathan.
»Gut. Meine Träume sind intensiver geworden«, antwortet Kenjiro, »aber ich schlafe durch.«
»Sehr gut. Falls sich das ändert, kann ich dir etwas geben.«
»Alles klar, danke, John.«
Kenjiro nimmt die Beine von der Liege und erhebt sich. Er reicht ihm die Hand, aber Jonathan winkt ab und deutet dabei auf seine Handschuhe.
»Danke, Ken, schickst du mir Yue?«
»Mache ich.«
Kenjiro verlässt die Medizinstation. Jonathan setzt sich selbst auf den Behandlungsstuhl und fährt die Rückenlehne etwas nach unten. Yue hat immer zu tun, also wird es ein bisschen dauern, bis sie erscheint. Die Crew verkraftet die Hungerphase bisher ganz gut. Dass die ARES nun noch drei Tage länger brauchen wird, macht ihm allerdings Sorgen. Jedem stehen pro Tag 1300 Kilokalorien zur Verfügung; Vitamine und Spurenelemente ergänzen sie aus seinen medizinischen Vorräten. Trinkwasser gibt es zum Glück genügend. Sie hatten zunächst überlegt, den Betrag auf den Grundumsatz anzupassen. Aber niemand hatte mehr essen wollen als die anderen. Auch an sich selbst stellt Jonathan die typischen Anzeichen des Nahrungsmangels fest. Er ist schnell erschöpft und hat immer wieder Kopfschmerzen. Auch jetzt fallen ihm die Augen zu. Er gibt dem Impuls nach.
Jemand berührt seinen Oberarm. Jonathan schreckt hoch.
»Ich bin es bloß«, sagt Yue. »Oder soll ich später wiederkommen?«
»Nein, schön, dass du da bist.«
Sie lächelt ihn an. Manchmal hat er das Gefühl, sie würde ihn öfter anlächeln als seine Kollegen. Aber er ist zu schüchtern, um aus dieser Feststellung etwas zu machen. Prompt erwärmen sich seine Wangen. Das muss am Hunger liegen, denkt er.
Jonathan steht auf, geht zu seinem Arztstuhl und nimmt wieder Platz.
»Bitte setz dich«, sagt er und zeigt auf die Liege. »Ich muss dir ein bisschen Blut abzapfen.«
»Verstehe.«
Sie geht an ihm vorbei. Er hält ihre Hand fest, vielleicht ein bisschen zu lange. Sie sieht zu ihm herunter. Er nimmt ihren linken Unterarm und massiert die Ellenbogenbeuge. Die Vene zeichnet sich gut ab.
»Prima«, sagt er. »Zeigst du mir auch den rechten Arm?«
Yue dreht sich um und reicht ihm die andere Hand. Sie duftet nach Flieder. Auch die rechte Ellenbogenbeuge ist zur Blutabnahme geeignet. Yue hat Glück.
Er lässt ihren Arm wieder los.
»Dann wollen wir mal«, sagt sie.
Weil sie ihm auf der Liege die linke Seite zuwendet, wird er ihr dort Blut entnehmen. Er legt den Stauschlauch um den Oberarm und zurrt ihn fest, während er den arteriellen Puls tastet. So ist es gut. Dann tastet er noch einmal die Vene ab. Hier müsste es optimal funktionieren. Er desinfiziert die Stelle.
»Gleich piekst es etwas.«
Er punktiert die Vene mit der Nadel. Yue sagt nichts. Sie hat die Augen geschlossen.
»Sehr schön.«
Er steckt das Abnahmeröhrchen auf das Ende der Nadel und zieht am Stempel. Der Unterdruck hilft dabei, das Blut aus der Vene laufen zu lassen.
»Perfekt«, sagt er.
Das Röhrchen füllt sich. Nach nicht einmal einer Minute nimmt er es von der Nadel, knickt den Stempel und bewegt das Röhrchen, damit sich das Blut mit den Gerinnungshemmern im Röhrchen vermischt. Er legt das Röhrchen zur Seite und öffnet den Stauschlauch.
»Gleich ziehe ich die Nadel.«
Er nimmt eine Kompresse und drückt sie auf die Einstichstelle, während er die Nadel herauszieht.
»Das war's schon. Bloß noch ein Pflaster.«
»Muss das sein? Meine Haut reagiert oft allergisch.«
»Ich möchte nicht, dass sich da etwas infiziert. Aber ich habe hier auch niedrigallergene Pflaster.«
Er öffnet das Schubfach des Beistellschranks und holt ein Spezialpflaster heraus.
»Hältst du bitte die Kompresse?«
Yue drückt mit den Fingern der rechten Hand darauf. Er zieht die Schutzstreifen vom Pflaster. Dann hält er kurz inne. Yue hat wunderschöne Finger. Das ist ihm noch nie aufgefallen. Sie sind lang und schmal, wirken aber trotzdem gesund, nicht wie Spinnenfinger, an die er sich bei so langen Fingern oft erinnert fühlt.
»Ist was?«, fragt sie.
»Nein, nichts, entschuldige.«
Er drückt auf die Kompresse und berührt dabei ihre Finger. Ein Stromstoß durchfährt ihn.
»Statische Entladung«, sagt er.
»Wie bitte?«
»Äh, nichts.«
Er nimmt die Kompresse ab und klebt das Pflaster über die Einstichstelle.
»So, das war’s.«
»Das hast du hervorragend gemacht«, sagt Yue.
»Danke.«
Er wird schon wieder rot.
»Brauchst du mich noch?«
»Hat sich irgendetwas verändert, seit wir hungern? Hast du Schmerzen im Unterleib, Schlafprobleme?«
»Bisher nicht.«
»Das ist gut. Wundere dich nicht, wenn die Menstruation ausbleibt, das ist bei Unterernährung möglich.«
»Gut zu wissen. Bin ich dann auch nicht mehr fruchtbar?«
Yue lächelt. Nein, das ist kein Lächeln, sie grinst ihn an.
»Du meinst, äh, beim Sex? Ohne Eisprung kannst du nicht schwanger werden.«
»Das hatte ich auch nicht vor. Aber man weiß ja nie.«
»Nun weißt du es. Wegen der Ergebnisse der Blutabnahme kontaktiere ich dich später.«
»Heute noch?«
»Sicher. Das geht schnell.«
»Heute Abend nach der Schicht?«
Mann, jetzt wird er schon wieder rot.
»Ja, gern«, sagt er.
Yue verlässt den Raum. An der Tür dreht sie sich um, lächelt und winkt. Hat er jetzt ein Date? Jonathan kann es gar nicht fassen. Das muss ihm zuletzt vor zehn Jahren passiert sein.
Eine Mondbasis ist kein romantischer Ort. Und er kann Yue nicht einmal zum Essen einladen. In der Werkstatt stinkt es nach Öl, in der Zentrale sitzt Atiya und analysiert Teleskop-Bilder. Yue in seine Kabine einzuladen, verbietet sich von selbst. So sind sie nach einem kurzen Spaziergang durch die Basis wieder in der Medizinstation gelandet. Yue hat es sich auf der Behandlungsliege gemütlich gemacht, und er sitzt nach vorn gebeugt auf seinem Arztstuhl. Wer zufällig den Raum betritt, sieht einen Arzt, der eine Patientin behandelt. Es fehlt eigentlich nur der weiße Kittel.
»Am meisten fehlen mir eigentlich die harmlosen Gespräche«, sagt Yue. »Weißt du, wo man sich nicht über den Job unterhält, sondern über das Leben, Politik, Filme, das Baby einer englischen Prinzessin.«
Ja, solche Themen scheinen im Moment nicht zu existieren.
»Es ist wohl schwer, sich gedanklich von dieser ganzen Misere hier zu lösen. Mir knurrt gerade der Magen. Wie soll ich da über van Gogh sprechen?«
»Magst du ihn auch so?«
»Van Gogh?«
»Ja. Es ist anscheinend der erste, der dir einfällt, wenn du an Maler denkst.«
»Du hörst gut zu, Yue.«
»Danke.«
»Es stimmt, ich mag ihn. Er hat so auf Teufel komm raus gemalt. Er war kein Geschäftsmann, der seine Karriere geplant hat.«
»Du magst ihn, weil du auch gern so wärst, aber nicht so sein kannst.«
»Ich … vielleicht. Ich war immer sehr konzentriert.«
»Wir suchen uns immer Vorbilder und Partner, die etwas mitbringen, was uns fehlt. Mein Freund auf der Erde ist Sänger in einer Rockband. Kannst du dir das vorstellen? Er ist laut und wild.«
Er will sich Yues Freund eigentlich nicht vorstellen. Was bedeutet es, dass sie ihn erwähnt?
»Heißt das, dass du selbst laut und wild sein willst?«, fragt er.
Yue lacht. »Nein, das würde gar nicht zu mir passen. Ich kann das einfach nicht. In der Schule hat der Lehrer immer zu mir gesagt: Sprich lauter, Yue, ich verstehe dich nicht. Ich glaube, das war der Satz, den ich mein Leben lang am häufigsten gehört habe. Aber kennst du die Geschichte von den Kugelmenschen, die wir einst waren?«
»Dass wir uns immer das passende Gegenstück suchen, um wieder ganz und rund zu sein?«
Ja, davon hat ihm seine Ex-Frau erzählt, nachdem sie endlich ihr Gegenstück gefunden zu haben glaubte.
»Ich glaube nicht daran«, sagt er.
»Ich auch nicht. Ich denke, wir haben viele passende Gegenstücke. Eines davon ist bei mir laut und wild.«
»Meins ist empfindsam. Es kann die wahre Bedeutung aus dem herauslesen, was gesagt wird. Es versteht alle vier Ebenen auf einmal und greift sich keine heraus. Im Gespräch mit ihr muss man nie aufpassen, was man sagt.«
»Mit ihr?«
Mit dir, könnte er sagen. Aber er wird die Antwort lieber nicht aussprechen. Manche Dinge bleiben besser ungesagt. Yue hat einen Freund auf der Erde.
»Willst du eigentlich deine Blutwerte wissen?«
Sie sieht ihn lange an. Ein bisschen streng, findet er. Was soll das denn jetzt?, soll dieser Blick wohl bedeuten.
»Na klar«, sagt sie schließlich.
»4,4 Millimol pro Liter Blutzucker, das ist etwas wenig. Ammoniak und Harnsäure leicht erhöht, auch das ist erwartungsgemäß. Dein Vitaminstatus ist bestens, du nimmst offenbar die Pillen, die ich euch verordnet habe.«
»Natürlich.«
»So selbstverständlich ist das leider nicht. Wayne dachte, er kommt auch ohne aus.«
»Ich folge ärztlichen Anweisungen immer. Das gehört auch zu mir. Ich bin kein Rebell.«
»Das glaube ich dir nicht. Ich denke, du überlegst dir sehr genau, was sinnvoll ist. Und wenn dir etwas nicht einleuchtet, setzt du es auch nicht um. Du protestierst bloß nicht lautstark wie Wayne.«
»Stimmt, du hast mich durchschaut. Bitte verrate mich nicht dem Kommandanten.«
Plötzlich springt Yue auf. Jonathan erschrickt. Hat er etwas Falsches gesagt? Nein, das kann nicht sein.
»Bleib bitte sitzen«, sagt sie. »War ein netter Abend mit dir, das sollten wir wiederholen. Aber jetzt muss ich noch etwas erledigen. Schlaf gut!«
Sie winkt und verlässt die Krankenstation. Er lehnt sich zurück, schließt die Augen und spürt ihrem Fliederduft nach.