22.2. 2035, Mond-Basis Unity
»Hier.«
Jonathan schiebt seine noch halb volle Müslischale auf Yues Seite. Sie sieht ihn verständnislos an.
»Hab keinen Hunger mehr. Iss ruhig.«
Sie mag doch Müsli. Es enthält Nüsse und Trockenfrüchte und schmeckt sogar nach Erd-Maßstäben gut.
»Nein, danke, du brauchst die Kalorien genauso wie ich.«
Er zeigt auf seinen Bauch.
»Siehst du? Immer noch Reserven. Und bei dir?«
Yue schüttelt den Kopf.
»Du bist der Arzt. Du bist hier viel wichtiger als ich.«
»Für mich bist du das Wichtigste hier.«
Sie lächelt. »Das ist nett, aber das zählt nicht.«
Jonathan seufzt. Sie sollte wirklich sein Müsli essen. Wenn er ihr nahekommt, merkt er es schon. Sie hat den typischen Mundgeruch der Verhungernden. Ihr Körper greift jetzt Reserven an, die keine sind, weil er keine andere Wahl hat. Wenn Yue so weitermacht, hat er sie heute Abend in der Krankenstation.
»Aber dann schone dich wenigstens, ja? Viel Schlaf, keine körperliche Arbeit. Dein Grundumsatz ist schon größer als deine Kalorienzufuhr, da ist kein Platz für Aktivität.«
»Maxim braucht heute jemanden, um den Schlamm aus der Lebenserhaltung nach draußen zu bringen.«
Er erinnert sich an die letzte Aktion. Sie hatten mit Eimern voll stinkender Brühe über den Mond rennen müssen.
»Ein Außeneinsatz? Kommt gar nicht in Frage. Das muss ich dir verbieten. Ist Max etwa draußen?«
Ja, das ist er bestimmt. Der Russe hat es sich in den Kopf gesetzt, die Gewächshäuser zum Laufen zu bekommen.
»Er ist nicht allein«, sagt Yue. »Kenjiro hilft ihm.«
»Ken hat gerade Freischicht! Ist er denn wahnsinnig? Er braucht seine Ruhephasen, gerade jetzt.«
Jonathan sieht sich schon im Raumanzug zwei zusammengebrochene Astronauten in die Basis schleppen. Erst Ken, dann Max, oder andersherum. Wenigstens macht ihm der Mond die Arbeit nicht so schwer.
Nein, das darf nicht passieren. Er steht auf und geht zur Funkanlage. Dort schaltet er auf Rundruf.
»Max, Ken, hört ihr mich?«
»Kenjiro hier. Was gibt es denn? Maxim ist gerade beschäftigt.«
»Als euer Arzt muss ich euch befehlen, den Außeneinsatz sofort abzubrechen.«
»Max, hörst du das?«, fragt Kenjiro.
In der Leitung ist schweres Atmen zu hören. Anscheinend hat Maxim sein Mikrofon geöffnet.
»Ich … ich bin der Kommandant. Und ich sage, dass wir die Gewächshäuser fertigstellen müssen.«
»Es tut mir leid, Max, aber du vergisst, dass die Kommandohierarchie sich in einem medizinischen Notfall, der die ganze Basis betrifft, verändert. Dann hat der Arzt die Entscheidungsgewalt. Und dies ist eindeutig ein Notfall. Also kommt ihr jetzt herein, oder ich muss euch vor ein Kriegsgericht stellen.«
Maxim lacht scheppernd. »Und dann kommt das Erschießungskommando? Nun mach dich nicht lächerlich. Wir wollen doch hier nur unsere Arbeit machen.«
»Die Arbeit kann warten. Sie ist eure Gesundheit jedenfalls nicht wert. Wenn ihr nicht reinkommt, drehe ich den Gewächshäusern den Strom ab.«
»Das … das kannst du nicht machen«, sagt Maxim. »Damit vernichtest du alles, was wir bisher geschafft haben.«
»Die Gewächshäuser stürzen davon nicht ein. In ein paar Tagen ist die ARES mit frischem Proviant da. Ich muss dafür sorgen, dass ihr bis dahin überlebt. Das ist es mir wert.«
»Max? Ich traue Jonathan das zu«, sagt Kenjiro.
»Ich auch«, sagt der Kommandant. »Na warte, John, wenn ich dich das nächste Mal sehe, kann ich nicht für mich garantieren.«
»Gut, dann bewaffne ich mich schon mal mit einer Beruhigungsspritze. Schlafend sind mir meine Patienten momentan sowieso am liebsten, da ist der Kalorienverbrauch am geringsten.«