27.2. 2035, Mars-Schiff ARES
Er mag den Mond nicht.
Es ist ein trostloser Anblick, grau in grau, oder gleich schwarz und weiß, als wären dem lieben Gott sämtliche Farben ausgegangen. Wenn er hier den Rest seines Lebens verbringen muss, kann er sich auch gleich selbst umbringen. Er muss es unbedingt schaffen, die anderen von der Reise zum Mars zu überzeugen.
Mike schließt die Augen und stellt sich den Roten Planeten vor: seine weiten Ebenen, die polaren Eiskappen, die von urzeitlichen Strömen geformten Täler. Die Bilder kennt er von den unzähligen Sonden, die bereits dort gelandet sind. Zuletzt hat ein ESA-Rover sogar Spuren von Leben gefunden. Es war zwar schon vor ein paar hundert Millionen Jahren gestorben, hat aber ganz klar in einer Zeit überlebt, als der Mars schon so trocken war wie jetzt. Er würde darauf wetten, dass dort irgendwo auch jetzt noch Leben aufzuspüren ist. Aber dazu bedarf es intelligenter Astronauten, nicht dummer Roboter.
Eine neue Kraft drückt ihn in den Sitz.
»Finaler Bremszyklus«, kommentiert Judith.
Die Landung steuert der Computer. Er arbeitet zuverlässiger als jeder Mensch. Mike beobachtet die Kommandantin. Sie sitzt angespannt in ihrem Sessel. Offenbar vertraut sie dem Rechner nicht. Als ob sie es besser könnte, wenn sie eingreifen müsste! Er lächelt. Vermutlich würde er sich nicht anders verhalten, wäre er der Kommandant, wie er es eigentlich für seine Karriere geplant hatte.
»Noch hundert Meter«, sagt Judith.
Die Kapsel schwankt kein bisschen. Mike hat schon über zwanzig Landungen miterlebt. Bei keiner ging es so ruhig zu. Das liegt vermutlich an der fehlenden Atmosphäre. Der Mond ist nicht nur trostlos, er ist auch langweilig. Hier wird er nie Windhosen über die Oberfläche wandern sehen. Es wird keine rosaroten Sonnenaufgänge geben, keinen Kohlendioxidschnee und keine Gewitter wie auf dem Mars. Sie sollten am besten gleich wieder durchstarten. Alles in ihm schreit danach. Sie fliegen in den Orbit, lassen die Kapsel am Rest des Schiffes andocken, wo Giordi und François auf sie warten, und machen sich endlich auf die Reise.
»Landung in zehn«, sagt Judith.
Unwillkürlich hält er sich fest, obwohl sich nichts verändert hat. Ein riesiger Schatten bewegt sich schnell über das Bullauge und hüllt die Landekapsel in undurchdringliche Dunkelheit. Der Computer hat damit kein Problem. Er sieht den Boden über sein Radar. Ganz langsam senkt sich die Kapsel. Drei, zwei, eins – ein kleiner Stoß in seinem Hinterteil, und sie sind angekommen.
»Willst du zuerst?«,
fragt Judith.
Er sieht sie mürrisch an. Das war ja wohl ein schlechter Witz. Er hatte immer der erste Mensch auf dem Mars sein wollen, nicht der 31. auf dem Mond.
»Geh nur, Wohltäterin der Menschheit«, sagt er.
Judith öffnet die Tür. Dahinter liegt Dunkelheit. Der Lichtstrahl ihrer Helmlampe wandert nach unten. Sie sucht wohl die ersten Stufen der Leiter. Dann macht sie den ersten Schritt. Nach dem zweiten erkennt Mike, dass sie erwartet werden. Eine Gestalt in einem Raumanzug steht etwa zehn Meter entfernt und winkt zaghaft. Ein großartiges Empfangskomitee.
»Nimmst du die Tasche mit?«
»Mache ich.«
Er greift nach der großen Plastiktasche und hängt sie sich über die Schulter. In der Tasche sind die Medikamente, um die der Arzt der Mondbasis gebeten hat. Er ist gespannt, seinen Kollegen kennenzulernen. Er hatte ihm per Funk angekündigt, dass eventuell eine Nierentransplantation nötig sein könnte. Das wäre allerdings eine spannende Abwechslung. Und es wäre die erste große Operation außerhalb der Erde. Er könnte damit in die Geschichtsbücher eingehen, wenn überhaupt noch jemand Geschichtsbücher schreibt.
»Kommst du?«, fragt Judith.
Sie ist am Ende der Leiter stehengeblieben und wartet auf ihn. Er klettert ihr hinterher. Der Mondboden ist ungewöhnlich weich. Seine Füße sinken ein paar Millimeter ein. Es ist fast wie am Strand. Mike greift nach der Schleusentür. Er will sie schließen, damit der Wind keinen Sand in die Schleuse weht, merkt aber gleich, dass das im höchsten Grade albern ist.
»Es ist großartig, dass Sie es geschafft haben«, begrüßt sie der Mann im Raumanzug.
Mike sieht das Logo von Roskosmos, der russischen Weltraumagentur, auf seinem Helm.
»Ich bin Maxim Gontscharow, der Kommandant. Entschuldigen Sie, dass ich Sie allein empfange. Aber unser Arzt erlaubt momentan keine Außeneinsätze. Wir sind alle zu schwach. Ich konnte ihn gerade noch überreden, mich nach draußen zu lassen, sonst hätten Sie allein den Weg in die Schleuse finden müssen.«
»Das ehrt uns sehr. Können wir vielleicht die Höflichkeitsform lassen? Ich bin Judith«, sagt die Kommandantin.
Mike stellt sich neben sie. »Und ich bin Mike«, sagt er, »der Bordarzt. Ich hoffe, gemeinsam mit euerm Arzt bekommen wir euch schnell wieder fit. Die Medikamente habe ich schon dabei. Die Landekapsel ist voller Vorräte.«
»Ich danke euch sehr. Ihr rettet uns wirklich das Leben«, sagt Maxim.
»Das ist doch selbstverständlich«, sagt Mike, »schließlich sind wir die letzten zehn Exemplare unserer Spezies. Wir müssen uns doch gegenseitig helfen!«
»Schön, dass ihr das so seht, obwohl eure Vorräte nicht so lange reichen werden, wenn ihr sie mit uns teilt.«
»Oh, auf dem Mars können wir in kurzer Zeit neue Nahrung erzeugen. Es gibt weniger Strahlung, und das CO2
in der Atmosphäre für die Pflanzen ist fast so gut wie auf der Erde.«
Der Russe antwortet nicht, dreht sich aber um und geht langsam voran.
»Wo ist denn die Basis?«, fragt Mike. »Ich dachte, wir wären in der Nähe gelandet?«
Er sieht nur ein paar niedrige Hügel. In etwa fünfzig Metern Entfernung, kurz hinter der Schattengrenze, steht eine Art verlängertes Klo-Häuschen.
»Ja, es sind nur ein paar Meter«, sagt Maxim. »Ich bringe euch hin.«
»Soll ich abschließen?«, fragt Mike.
»Ha, ha«, sagt Judith.
Sie klingt leicht genervt.
»Kleiner Scherz«, sagt Mike. »Und das Klo-Häuschen da vorn, wozu dient das? Ist das so eine Art Außen-WC?«
»Guter Witz. Deinen Humor mag ich. Das ist die Schleuse«, sagt Maxim. »Dahinter führt ein Gang schräg in die Tiefe. Die Basis liegt unter dem Mondboden.«
Ein Russe, der seinen Humor mag. Das ist ihm auch noch nicht passiert. Vielleicht wird es doch noch etwas mit der russisch-amerikanischen Freundschaft.
Bei Atiyas Anblick
vergehen ihm seine Scherze. Der körperliche Abbau ist weit fortgeschritten. Trotzdem sieht man noch, dass sie mal eine gut trainierte Sportlerin gewesen sein muss. Ihr Körperfettanteil dürfte sehr gering gewesen sein, und so wurden fast sofort die Muskelzellen angegriffen. Aber das Ausmaß ist erschreckend. Ob hier noch etwas anderes im Spiel ist?
»Hast du mal daran gedacht, dass vielleicht das Immunsystem verrücktspielt?«, fragt er.
Jonathan schüttelt den Kopf. »In einer Hungerphase wird es doch eher unterdrückt.«
»Das stimmt, aber was, wenn es hier anders ist?«
»Hast du so etwas schon mal erlebt, Mike?«
»Persönlich nicht. Man müsste in einer der großen Datenbanken nachsehen, aber da fehlt uns ja der Zugriff. Es ist nur so ein Gefühl. Ihr Körper greift die Muskelzellen stärker an als nötig. Normalerweise verringert sich der Eiweiß-Abbau nach ein paar Wochen. Das scheint mir hier nicht der Fall zu sein.«
»Und wenn, was könnten wir tun? Kortikoide sind wohl ein bisschen unspezifisch, aber etwas anderes habe ich nicht.«
»Wir haben sowohl Calcineurinhemmer als auch Zellteilungshemmer an Bord. Wenn wir das mit Steroiden kombinieren …«
»Das heißt, ihr könntet sogar eine Transplantation vornehmen?«
»Die Expedition ist auf zwei Jahre angelegt. Da muss man auf alles vorbereitet sein. Wir haben sogar einen Roboter-Chirurgen an Bord.«
»Das Modell R3001? Das war ursprünglich für die Mond-Basis vorgesehen. Man hat mich sogar noch daran trainieren lassen, und plötzlich hieß es, es wäre auf dem Mond ja nicht so wichtig, man könne uns im Ernstfall binnen zwei Tagen ausfliegen und auf der Erde behandeln.«
»Das ist bitter«, sagt Mike.
Wenn die NASA so etwas mit ihm gemacht hätte, wäre er ihnen aber aufs Dach gestiegen! Aber vermutlich waren sie als Mars-Crew wohl in einer besseren Verhandlungsposition. Nun ja, vermutlich gibt es längst keine NASA mehr.
»Wenn es dich tröstet, die Typen da unten, die euch das angetan haben, leben vermutlich schon gar nicht mehr«, sagt er.
Jonathan sieht ihn mit großen Augen an. »Du hast wirklich einen schrägen Humor. Maxim hat mich schon gewarnt. Nein, komischerweise tröstet mich das überhaupt nicht.«
Schade. Der Deutsche war ihm schon als Bruder im Geiste erschienen. Galten die Deutschen nicht mal als Inbegriff von Zielstrebigkeit und Pragmatismus, hart wie Kruppstahl? Sie sind wohl alle weich geworden. Er sollte doch besser auf seine Worte achten.