1.3. 2035, Mond-Basis Unity
Es war vielleicht doch nicht so
eine gute Idee, alle anderen von der Pflege Atiyas auszuschließen. Dadurch hat er die Krankenstation in den vergangenen 48 Stunden gerade einmal für 60 Minuten verlassen können. Insgesamt. Er hat sich sogar zweimal in eine Urinflasche erleichtert, weil er Atiya nicht alleinlassen wollte.
Sie hat aber echte Fortschritte gemacht. Ihr Körper hat damit aufgehört, sich selbst zu bekämpfen. Dadurch kann sie endlich von den Nährstoffen profitieren, die im Moment noch direkt in ihre Blutbahn gespült werden. Heute morgen hat sie sogar zum ersten Mal wieder eine leichte Mahlzeit zu sich genommen. Die Blutwerte sind zwar noch nicht wieder normal, aber das könnte auch an den Medikamenten liegen. Wenn Atiya Glück hat, erholen sich ihre Nieren wieder. Sie hat ihm auch berichtet, dass sie als Kind eine länger anhaltende, schwere Infektion hatte, die ohne jegliche Behandlung ausgeheilt ist. Ihre Eltern hatten sich den Arzt einfach nicht leisten können. Wenn, dann wurde der älteste Sohn behandelt, als zweitjüngste Tochter hatte sie einen geringeren Wert gehabt.
Nach diesem Bericht war Atiya schnell eingeschlafen. Im Moment scheint sie sich in einer Traumphase zu befinden, denn ihre Lider bewegen sich. Er reckt und streckt sich. Vielleicht wäre das eine gute Gelegenheit für einen Abstecher in die Zentrale. Vielleicht trifft er Yue dort. Möglichst leise verlässt er den Raum, nicht ohne einen letzten Blick auf die Patientin.
In der Zentrale ist Yue nicht. Dafür schweigen sich dort Michael, der Arzt, und Judith, die ARES-Kommandantin, an. Es ist ein seltsames Paar. Irgendetwas scheint sie zu verbinden. Aber nicht so wie ihn und Yue.
Mike bemerkt ihn. »Wie geht es denn unserer Patientin?«
»Eindeutig besser. Mit den Immunsuppressiva blüht sie richtig auf.«
»Das ist schön zu hören. Es wäre sehr schade gewesen, ihr Genmaterial einzubüßen.«
Ihr Genmaterial, soso. Der Mann hat wirklich ein Problem.
»Hör nicht auf ihn«, sagt Judith. »Er kann nicht anders.«
»Ich will nun mal keine neue Menschheit, die nur aus lauter weißen alten Männern besteht«, sagt Mike. »Was ist denn daran schlecht?«
»Schlecht ist, dass du von uns als einer Art Ressource denkst. Von uns Frauen, meine ich. Du siehst uns nur als Gebärende der zukünftigen Menschheit.«
»Für unser aller Überleben ist es nun einmal notwendig, dass wir uns fortpflanzen. Denkst du, ich wüsste nicht, dass du auf Frauen stehst, Judith? Aber viele lesbische Paare haben Kinder. Du brauchst mit keinem Mann Sex zu haben, du kannst dich selbst inseminieren.«
»Ich weiß gar nicht, welche Art von Diskussion wir hier führen«, sagt Judith. »Wir wissen doch noch gar nicht, was mit der Erde passiert ist. Erst wenn das klar ist, können wir überhaupt darüber nachdenken, wie es weitergeht. Das Universum benötigt uns offenbar nicht, sonst wäre das alles hier nicht passiert.«
»Das sehe ich anders«, sagt Mike. »Es sieht vielleicht nicht so aus, aber wir sind auserwählt. Die Menschheit ist doch rein zufällig groß geworden. Aber erwachsen, das sind wir nicht, du siehst doch, wie wir die Erde behandelt haben. Jetzt haben wir die Chance, auf dem Mars ganz bewusst eine neue, bessere Gesellschaft zu begründen. Ohne die Sphäre hätten wir so einen Neuanfang nie gewagt.«
»Das führt zu nichts. Du kannst ja versuchen, den anderen deine abstrusen Ideen über die Zukunft nahezubringen. Ich beschäftige mich erst einmal mit der Gegenwart.«
Judith steht auf und verlässt die Zentrale. Was soll er dazu sagen? Michael scheint von irgendeiner fixen Idee getrieben zu werden. Vielleicht sieht er sogar wirklich weiter als sie alle, aber zuerst müssen sie doch alle Mittel ausschöpfen, die sie besitzen.
»Ach, Mike?«
»Ja?«
»Was meinst du, wann sollen wir denn die Immunsuppressiva absetzen?«
»Keine Ahnung. Wenn du sie zu früh absetzt, war alles umsonst, gibst du sie ihr zu lange, holt sie sich am Ende doch eine Infektion. Atiya ist deine Patientin, also musst du entscheiden.«