12.3. 2035, Mars-Schiff ARES
Die ARES ist riesig. Das mächtigste Raumschiff, mit dem Yue bisher unterwegs war, war nicht größer als die Landekapsel des Marsschiffes gewesen. Die Raumstation, die ihr Heimatland als Quasi-Nachfolger der ISS aufgebaut hatte, war vor vier Jahren bereits wieder eingemottet gewesen, als sie zum ersten Mal ins All startete. So hatte sie zwar Testflüge in den Tianhe-Modulen, einer Dragon und einem Orion absolviert, aber nie ein interplanetares Raumschiff zu sehen bekommen.
Judith führt sie herum. Die Amerikanerin kommt ihr längst wie eine gute ältere Freundin vor. Sie ist im Grunde das, was Yue gern wäre: sanft, aber resolut. Sie sagt, was sie denkt, ohne die Menschen zu verletzen. Yue hingegen fürchtet manchmal, allein durch das Äußern ihrer Wünsche andere gegen sich aufzubringen. Eigentlich ist es ein Wunder, dass ihre Arbeit als Verwalterin der Mondbasis so reibungslos funktioniert hat. Vielleicht liegt es daran, dass die Crew so gut zueinander passt. Mit diesem Michael, dem ARES-Arzt, wäre sie sicher nur schwer ausgekommen. Umso besser, dass er lieber auf dem Mond bleibt und Jonathan sie dadurch begleiten kann.
Sie durchqueren Labor und Werkstatt und erreichen eine Reihe von Lagerräumen.
»Das sind nur die Lager, die unter Druck stehen und geheizt sind«, erklärt Judith. »90 Prozent der Vorräte sind draußen in Containern gelagert.«
»Das Schiff ist ja wirklich gigantisch, so etwas habe ich noch nie gesehen.«
»Warst du denn nie auf dem chinesischen Marsschiff?«, fragt Judith.
»Das war mein großes Ziel, aber dafür war ich nicht gut genug. Ich hatte meinen ersten Start erst, als es schon abgeflogen war.«
»Bloß gut«, sagt Judith, »sonst hätten wir uns nie kennengelernt.«
»Manchmal sage ich mir, dass vielleicht bloß der Kontakt abgebrochen ist und die vier auf dem Mars auf Rettung warten.«
»Die Bilder der ExoMars-Sonde zeigen die Trümmer sehr deutlich.«
»Ich weiß«, sagt Yue. »Aber es ist eine Hoffnung. So wie ich auch hoffe, dass deine Frau noch am Leben ist, und Jonathans Familie.«
»Das ist lieb von dir. Wir sollten jetzt in die Zentrale zurückkehren. Giordano und Jonathan warten sicher schon.«
Es zieht in einer Ecke ihres Magens, als der Mond auf dem Bildschirm immer kleiner wird. Der Himmelskörper wirkt immer noch grau und lebensfeindlich, aber er ist zu ihrer Heimat geworden. Sie hat selbst dazu beigetragen, ihn so weit umzugestalten, dass dort Menschen leben können. Und das gibt dem Mond eine ziemlich exklusive Stellung. Denn die Erde, die gerade zur Hälfte von der Sonne angestrahlt wird, eignet sich dazu offenbar nicht mehr, und der Mars, den die ARES ansteuern wollte, noch nicht.
Aber sie werden ja zurückkehren. Sie brauchen bloß auf der rotierenden Sphäre zu landen, und den Gravitationswellendetektor im All zu komplettieren. Alles ganz einfach. Die Europäer haben es in mehr als 15 Jahren nicht geschafft, aber sie werden bestimmt in wenigen Wochen Erfolg haben. Yue lächelt. Sie glaubt wirklich, was sie sich da einflüstert, so unwahrscheinlich es klingen mag. Die Kraft des Haupttriebwerks drückt sie tiefer in ihren Sitz. Jonathan reicht ihr vom Nebensessel die Hand. Sie greift nach seinen Fingern, die warm und trocken sind.