20.3. 2035, Mars-Schiff ARES
Die Kapsel torkelt
wie ein wild gewordener Staubsauge-Roboter durch den erdnahen Raum. Es riecht nach Erbrochenem. Niemand sagt etwas, aber eine Tüte raschelt. Das Geräusch kommt aus Yues Richtung, die schräg hinter ihr sitzt. Judith schaltet die Lüftung eine Stufe höher, um das saure Aroma nicht mehr riechen zu müssen.
Die Landung steuert der Computer, und obwohl er sie kräftig durchschüttelt, ist Judith sehr froh darüber. Denn sich der Oberfläche zu nähern ist ungefähr so einfach, wie auf einem Kettenkarussell, in dem der freche Nachbar die Sitze rotieren lässt, eine Nadel einzufädeln. Wird das Schiff zu langsam, stürzen sie ab. Bei zu hoher Geschwindigkeit prallen sie seitlich auf die Oberfläche. Aber der Algorithmus des Landesystems bekommt das besser hin, als sie es je vermocht hätte. Er testet immer erst eine minimale Veränderung in eine bestimmte Richtung, deshalb das ständige Schwanken. Dann lernt er aus dem Ergebnis und bestätigt oder ändert dann sein Verhalten.
Judith hält sich an der Lehne fest.
»Landung in zehn«, sagt sie.
»Neun.«
»Acht.«
Ein lautes Würgen kommt von rechts hinten.
»Durchhalten!«, ruft sie.
»Eins.«
Das Schiff setzt hart auf der Oberfläche auf. Ihr Magen fühlt sich an wie ein großer Stein, aber sie ist ohne Übelkeit durchgekommen. Kalte Luft trifft ihre rechte Schulter. Sie zieht die Uniformjacke ein Stück nach oben. Die Lüftung arbeitet zuverlässig. Schon macht sich in der Zentrale wieder der gewohnte Geruch nach Maschinenöl und Ozon breit. Sie hört ein dumpfes Klatschen. Es ist Yue, die noch ihre Tüte in der linken Hand hält.
»Das war nicht mein Verdienst, dankt dem Computer«, sagt Judith. »Alle noch einmal tief durchatmen, dann steigen Giordano und ich aus. Hast du ein paar Werte für mich, Giordi?«
Giordano Aufgabe besteht darin, die Außensensoren zu überwachen.
»Der Luftdruck ist minimal«, sagt er. »Du kannst also schon mal mit dem Training beginnen.«
Das war zu erwarten. In 120 Kilometern Höhe ist die Erdatmosphäre schon verdammt dünn.
»Es ist also sinnlos, eine Temperatur anzugeben. Aber für den Boden habe ich etwas. 120 Grad Celsius.«
Auch das ist nicht ganz überraschend. Es muss Reibung geben zwischen der Sphäre und der dünnen Atmosphäre sowie dem Sonnenwind. Das kann die Barriere nicht kalt lassen. Die Stiefel vertragen bis zu 500 Grad, kurzzeitig auch 800.
»Gibt es eine Spektralanalyse?«, fragt sie.
»Reine Reflektion plus ein bisschen Wärmestrahlung. Über das Material, aus dem die Sphäre besteht, erfahren wir so nichts.«
»Pack ein paar Probenbehälter ein. Sonst noch etwas?«
»Die Strahlenbelastung ist nicht ohne. Anscheinend schmiegt sich das Erdmagnetfeld dicht an die Sphäre, und der Sonnenwind folgt ihm. Wir sollten also nicht zu lange draußen bleiben.«
»Kann da etwas Ernstes passieren?«
»Es sind keine unmittelbaren Schäden zu erwarten, aber du erhöhst dein Krebsrisiko, Judith.«
»Damit kann ich leben. Ich fange dann mal mit dem Training an. Yue und Jonathan, ihr könntet derweilen den Reflektor vorbereiten.«
Die Nacht kommt,
noch bevor Judith ihr Training beendet hat. Das ist genau so geplant, damit die Spiegelungen der Sphäre sie nicht blenden. Judith klettert die kurze Leiter nach unten. Sie kommt sich vor wie auf einem Film-Set. Vor ihr und links und rechts von ihr scheint die Oberfläche in die Unendlichkeit zu verlaufen. Der Mond beleuchtet vom Nachthimmel über ihr die Szenerie. Der Horizont scheint weit entfernt. Er bildet eine unnatürlich gerade Linie, die den Eindruck einer künstlichen Szenerie verstärkt. Welcher Film wird hier gedreht?
Sie scharrt mit dem Fuß. Der Boden ist glatt, aber nicht so wie Eis, sondern eher wie Plastik. Sie entfernt sich ein paar Schritte vom Schiff. Zu hören sind nur ihr Atmen und die Lebenserhaltung. Sie hat sich immer vorgestellt, dass ihre Schritte hier ein hohles, dumpfes Geräusch erzeugen. Unter ihr befindet sich immerhin eine 120 Kilometer dicke Schale aus Luft, an deren Boden Lisa hoffentlich auf ihre Heimkehr wartet. Judith hockt sich erst hin, dann geht sie auf die Knie. Sie will das Ohr auf den Boden legen. Vielleicht kann sie Lisas Stimme hören unter den Milliarden Seelen, die dort unten auf ihre Rettung hoffen.
»Das würde ich lieber lassen«, sagt Giordano per Funk. »Das Material des Helms ist deutlich hitzeempfindlicher als unsere Anzüge.«
Natürlich hat er recht. Sie steht auf. Sie muss vernünftig sein, schließlich haben sie eine Aufgabe zu erfüllen.
»Nimmst du ein paar Proben, Giordi?«
»Bin schon dabei. Ich nehme zwei in der Nähe und ein paar in Richtung Horizont.«
»Das sieht eigentlich alles ganz gleichförmig aus«, sagt sie, »ich glaube nicht, dass es etwas bringt, wenn du es an anderer Stelle wiederholst.«
»Oh, das weiß man immer erst hinterher.«
Giordano ist eindeutig der Wissenschaftler hier. Er kommt ihr immer ein bisschen wie ein guter Handwerker vor, weil er alles verbessern will. Sie öffnet die Werkzeugtasche an ihrem Gürtel und entnimmt ihr einen Handbohrer. Dann hockt sie sich hin und probiert, ein Loch zu bohren. Die Spitze dringt nicht in das Material ein. Es muss eine enorme Härte besitzen. Einmal hat sie kurz das Gefühl, den Widerstand überwunden zu haben, doch als sie den Bohrer hochnimmt, hat er keine Spuren hinterlassen.
»Ich glaube, wir können jetzt den Reflektor aufstellen«, sagt sie.
Giordano antwortet nicht. Er läuft von der Landekapsel weg in Richtung Osten. Dann nimmt er ein Gerät aus seiner Tasche, hockt sich hin und schiebt es auf dem Boden hin und her.
»Was wird das?«, fragt Judith.
»Nur eine kleine Messung.«
Sie hört ihn eine fröhliche Melodie summen. Anscheinend sind die Ergebnisse vielversprechend.
»Und was misst du?«
»Wie die Oberfläche Schall leitet. Lauf ruhig noch ein bisschen herum.«
»Du misst das Geräusch meiner Schritte?«
»Ja, du versetzt die Oberfläche in Schwingungen, und ich zeichne sie auf.«
»Und was sagt dir das?«
»Wie tief der Schall in das Material eindringt. Also wie dick die Sphäre mindestens sein muss.«
»Das ist schlau«, sagt Judith.
»Danke. Du könntest jetzt den Reflektor aus der Schleuse holen.«
»Bin unterwegs.«
Sie stellen
den Reflektor etwa 500 Meter entfernt von der Landekapsel auf, damit sie ihn beim Start nicht aus Versehen dejustieren. Das Gerät ist bemerkenswert simpel. Es sucht den Himmel nach einem Signal vom LISA-Satelliten ab und richtet seinen Spiegel dann stur darauf. Da die Position des Satelliten, der in einem der Lagrange-Punkte schwebt, und des Spiegels bekannt sind, kann man daraus die Entfernung berechnen, die der Laser zurücklegen muss. Wenn nun eine Gravitationswelle diese Distanz verändert, registriert der Satellit das.
»Warte, lass mich die Oberfläche erst mit Panzertape abkleben«, sagt Giordano.
»Klebeband?«
»Ja, Panzertape. Das kann man überall gebrauchen. Es wird verhindern, dass der Reflektor verrutscht.«
»Aber wieso sollte er verrutschen?«
»Kann man doch nie wissen. Besser wir sorgen vor.«
»Na gut.«
Judith beobachtet Giordano dabei, wie er die Fläche sorgfältig mit dem Klebeband abdeckt.
»Wieso hält das eigentlich, obwohl der Boden so glatt ist?«
»Adhäsionskräfte, davor können sich auch Aliens nicht schützen. Die Physik ist für alle gleich.«
Das ist doch sehr beruhigend. Gemeinsam heben sie den Reflektor auf die Klebefläche. Danach rüttelt Giordano daran.
»Siehst du, hält prima.«
Judith bückt sich und schaltet den Reflektor ein. Er besitzt ein Solarpaneel, das tagsüber seinen Akku auflädt. So kann er über Jahre ohne äußeren Eingriff arbeiten. Hoffentlich dauert es nicht wirklich so lange, bis sie Antworten bekommen.
»Dann müssen wir LISA jetzt bloß noch aktivieren«, sagt sie.
»Seht mal«,
ruft Giordano durch die Zentrale des Landemoduls.
Judith dreht sich um. Sie ist schon bei den Startvorbereitungen.
»Kann das nicht warten?«
»Dauert nicht lange. Aber das musst du selbst sehen«, antwortet Giordano.
Jonathan beugt sich gerade über das Mikroskop, das Giordano ausgepackt hat. Judith steht auf und geht zu ihm. Daneben liegt einer der Probenbehälter, die Giordano gefüllt hat. Er besteht aus Glas. Sie hebt ihn hoch und sieht hindurch.
»Ist ja leer«, sagt sie.
»Nicht ganz«, widerspricht Giordano.
»Wahnsinn«, sagt Jonathan und macht ihr Platz.
Die beiden machen es ja spannend! Sie schirmt das linke Auge ab, um besser durch das Okular sehen zu können. Zuerst erkennt sie nur eine leere, weiße Scheibe.
»Du musst in den Ecken suchen, das Ding versucht dauernd zu fliehen«, sagt Giordano.
Das Ding? Sie konzentriert sich auf die Ränder der Scheibe. Und da ist es. Es ist … ein Floh? Nein, es dreht sich und kugelt durch das Bild. Es ist eine winzige Maschine. Seine Form ist ungefähr die einer Kugel, aber es besitzt keine klare Außenhülle. Aus dem Inneren heraus ragen winzige Tentakel nach allen Seiten. Damit scheint es sich fortzubewegen. Aber woher bezieht es seine Energie? Woraus besteht es?
»Das ist ja wirklich verrückt. Hast du so etwas je gesehen?«, fragt sie.
»Ich vermute, es ist eine Nanomaschine. So etwas war auf der Erde in Entwicklung, aber bei weitem nicht so fortgeschritten. Es scheint aus der gleichen Legierung zu bestehen wie die Sphäre. Die Bestandteile der Legierung konnte ich noch nicht herausfinden. Es muss darin mindestens einen Stoff geben, der in unserem Periodensystem nicht vorkommt.«
»Ein überschweres Metall?«
»Angeblich gibt es ja noch Inseln der Stabilität, bis zu denen unsere Physiker noch nicht vorgedrungen sind.«
»Und was tut dieses Ding hier?«
»Ich schätze, dass es die Sphäre repariert, wenn jemand Löcher hineinbohrt. Aber vielleicht besteht auch die ganze Barriere daraus.«
»Aber wo kommen sie her? Das müssen doch Milliarden Tonnen dieser kleinen Maschinen sein.«
»Nicht unbedingt. Ich habe auch meine Schallmessung analysiert. Der Schall dringt nur wenige Nanometer in den Boden ein. Das kann am Material liegen.«
»Oder?«
»Oder es liegt daran, dass die Sphäre nur wenige Atome dick ist. Dann könnten ihre Bestandteile auch unauffällig in einem Kometen in unser System gekommen sein. Da fällt mir 2I ein.«
»2I?«
»Na, der interstellare Besucher, den ich Anfang Januar gefunden habe.«
Stimmt, da war doch etwas. Was ihnen damals als Sensation erschienen war, hatte durch das folgende Drama an Bedeutung verloren. Aber es wäre eine Erklärung.
»Ich kann das immer noch nicht ganz glauben«, sagt Judith.
»Aber du hast es doch gesehen!«
»Kannst du dir vorstellen, dass wir mit einem Raumschiff auf einer nur einige Atome dicken Schicht gelandet sind? Das ist, als würdest du mit einem Traktor über lauter rohe Eier fahren.«
»Wenn die Reifen des Traktors nur breit genug sind, könnte das funktionieren. Soll ich es mal ausrechnen?«
»Brauchst du nicht, Giordi. Du weißt, was ich meine.«