4.4. 2035, Mars-Schiff ARES
»Ich hab ihn.«
Jonathan klinkt das Ende des Kabels in das Gitter am Ausleger des Satelliten. Die LISA-Sonde hatte beim Aussteigen aus der ARES winzig gewirkt. Aber wenn er Yue über ihr schweben sieht, kommt ihm die Sonde plötzlich riesig vor.
»Ich hole jetzt das Kabel ein«, sagt Giordano per Funk.
Jonathan manövriert sich mit den Schubdüsen auf seinem Rücken ein Stück nach oben und lässt sich um 90 Grad nach vorn kippen. Nun ist die Sonde über ihm. Es macht Spaß, mit den Absonderlichkeiten des Weltraums zu spielen.
Langsam bewegt sich der Satellit auf die ARES zu, die mit abgeschalteten Triebwerken im Vakuum steht. In Wirklichkeit bewegen sie sich natürlich schneller als jeder Überschalljet, aber zu bemerken ist davon nichts. Es ist, als wären sie der Mittelpunkt des Universums. Würde er von hier aus die Rotverschiebung der Galaxien messen, würden sich alle von ihm entfernen. Einmal im Mittelpunkt zu stehen, hier kann jeder dieses Gefühl genießen.
Der Satellit hat die ARES bald erreicht.
»Ich bräuchte dann hier mal Hilfe«, sagt Giordano.
Yue ist schneller als er. Sie stellt sich gegen die Außenhülle des Raumschiffs und streckt die Arme aus. Jonathan folgt ihr. Jetzt kommt der Moment. Giordano und Yue müssen gemeinsam den Impuls neutralisieren, den Giordano dem Satelliten vorhin über das Kabel gegeben hat. Die LISA-Sonde berührt Yues ausgestreckte Arme. Sie beugt sie etwas. Für einen Moment sieht sie aus wie Atlas, der die Weltkugel trägt. Dann lässt sie einfach los. Der Satellit schwebt nun direkt neben dem Ausstieg.
Er ist zu groß, um ihn in die Frachtluke zu ziehen. Sie müssen ihn also hier draußen reparieren. Damit Giordano Zugriff auf sein Werkzeug und Ersatzteile hat, haben sie ihm den Satelliten quasi vor die Haustür gestellt. Jonathan schwebt auf die andere Seite. Sein Blick fällt auf die weiße Erde. Sie kommt ihm schon ganz normal vor.
»Du sagst mir, wenn du etwas brauchst, Giordi?«
»Mach ich.«
Giordano klettert in den Satelliten hinein. Er besteht aus zwei annähernd rechtwinklig zueinander angeordneten, gleich langen Armen und einem Zentralmodul im Winkel. Über ein Gitter ist diese Anlage mit einer Plattform verbunden, unter der das Triebwerk zu sehen ist. Giordano versucht offenbar, an das Triebwerk heranzukommen.
»Woher weißt du eigentlich, was zu tun ist?«, fragt Jonathan.
»Ich weiß es nicht. Das Reparaturhandbuch für LISA ist auf der Erde. Aber ich kenne diese Art Triebwerk. Es kommt von einem großen europäischen Hersteller.«
»Du hast so eins schon mal repariert?«
»Nein, ich habe es im Prospekt gesehen.«
»Und daher weißt du schon, wie man es repariert?«
»Natürlich habe ich so ein Ding schon mal instandgesetzt«, sagt Giordano. »Das war zwei Jahre lang mein Beruf. Wir sind im Erdorbit herumgedüst und haben defekte Satelliten ausgeschlachtet. Man glaubt gar nicht, wie viele wertvolle Hardware man dabei bergen kann, und zugleich hilft es dabei, das Problem des Weltraumschrotts zu lösen.«
»Ausschlachten ist aber nicht das gleiche wie reparieren.«
»Fast, John. Im ersten Schritt jedenfalls. Da muss ich ja prüfen, ob es noch brauchbar ist.«
»Ah, so wie wir die Organe Verstorbener beurteilen.«
»Genau. Und dann wird explantiert.«
»Dann hoffen wir mal, dass wir heute nicht explantieren müssen.«
»Ja, das wäre ein gutes Zeichen, das hieße ja, dass das Triebwerk noch brauchbar ist.«
Zwei sehr langweilige
Stunden später sitzt Jonathan neben Yue in der Frachtluke. Ihre Beine hängen nach unten. Da kommt Giordano auf sie zu. Er lässt die Schultern hängen.
»Sieht nicht gut aus«, sagt er. »Das Triebwerk hat einen Treffer abbekommen, vermutlich ein kleiner Meteorit. Der hat eine Treibstoffleitung zerstört. Es ist auch kein Treibstoff mehr da. Hörst du mit, Judith?«
»Ja, ich bin in der Leitung. Nachzutanken wäre kein Problem.«
»Ich bekomme aber die Leitung nicht mehr dicht.«
»Auch nicht mit Panzertape?«
Giordano schwenkt eine Rolle mit Klebeband. »Nein, es ist zu kalt, bei unter minus 180 Grad wird es spröde.«
»Und wenn wir es einfach so, wie es ist, wieder zum L1-Punkt bringen?«, schlägt Jonathan vor.
»Ohne Treibstoff kann es sich nicht halten und ist einen Tag später schon wieder zu weit weg. Der Reflektor auf der Sphäre kann sich ja darauf einstellen, aber der im L4-Punkt nicht.«
»Wir könnten hierbleiben und den Satelliten stabil halten«, sagt Yue.
»Die ARES ist eine Störquelle«, sagt Giordano. »Außerdem müssten wir dann monatelang im L1-Punkt ausharren. Wir können ja nicht wissen, wann wir etwas messen.«
»Und ihr habt kein Ersatztriebwerk an Bord? Sonst sind doch auch alle Systeme redundant angelegt?«, fragt Jonathan.
»Die Redundanz hat man anders gelöst«, erklärt Judith. »Es gibt zwei gleich starke Triebwerke, eines an der Landekapsel und eines am Orbitalmodul. Die hätte man tauschen können. Also selbst wenn eines defekt gewesen wäre, hätten wir mit dem anderen zurückfliegen können.«
»Also sind beide funktionsfähig? Dann können wir doch eine Lebendspende versuchen«, sagt Jonathan. »Wie bei der Niere.«
»Das wird Mike zur Weißglut treiben. Das Triebwerk könnte uns dann auf dem Weg zum Mars fehlen.«
»Aber eines genügt doch«, sagt Yue, »oder habe ich das mit der Redundanz falsch verstanden?«
»Hast du nicht«, sagt Giordano. »Aber wenn die ARES zum Mars fliegt und dabei ein Triebwerk einbüßt, ist sie damit gestrandet. Je nachdem, wann es versagt, fliegen wir am Mars vorbei, stürzen ab oder sind auf dem Boden gefangen. Ich kann schon verstehen, dass Mike diese Aussicht nicht begeistern wird.«
»Wir machen es trotzdem. Wir setzen LISA auf das Triebwerk des Orbitalmoduls«, sagt Judith. »Ich bin die Chefin und entscheide. Mike ist ja nicht einmal mitgekommen.«
»Und der Flug zum Mars?«, fragt Giordano. »Nicht dass ich es besonders eilig hätte, aber ist das nicht mehr unser großes Ziel?«
»Der muss dann eben warten. Wenn wir nach einem Jahr nichts gehört haben, holen wir uns das Triebwerk wieder zurück. Dann stehen uns alle Optionen offen.«
»Ich bin ja froh, dass Mike nicht dabei ist, sonst hättest du ihn jetzt vermutlich an der Gurgel«, sagt Giordano.
»Keine Sorge, ich weiß mich schon zu wehren. Lass uns die Reparatur schnell hinter uns bringen.«
»Ich fange sofort an. So angenehm ist es in dem Anzug sowieso nicht, auch wenn unsere Turteltäubchen das anders zu sehen scheinen. Yue und John, ich brauche euch jetzt gleich für’s Grobe.«
»Auf eins«,
sagt Giordano. »Drei – zwei – eins.«
Gemeinsam geben sie dem LISA-Satelliten einen Stoß. Er hat sich äußerlich deutlich verändert. Das Triebwerk des Orbitalmoduls ist eigentlich überdimensioniert, aber es wird seinen Zweck erfüllen. So wirkt die Sonde nun, als hätte man einen Kleinwagen auf das Fahrgestell eines Schwerlasters montiert. Langsam driftet die Sonde in die Dunkelheit. Ihr neues Triebwerk hat Giordano mit dem in der Sonde vorhandenen Steuercomputer verbunden. Wenn ein Mindestabstand von 200 Metern erreicht ist, wird der neue Antrieb der Sonde zum ersten Mal feuern, und LISA wird nach einer Weile ihren korrekten Standort wieder erreichen.
»Mach’s gut, LISA«, sagt Yue.
Jonathan winkt ihr ebenfalls. Dann erscheint unter ihr ein bläuliches Licht. Der Computer steuert sehr sparsam und gibt nur so viel Gas wie unbedingt nötig. Der dünne Lichtschein wirkt wie die Flamme eines alten Feuerzeugs. Hoffentlich bläst sie der Sonnenwind nicht aus.
»Alle Statusanzeigen auf Grün«, sagt Judith. »Die Sonde funktioniert wieder. In ein paar Tagen sollte sie L1 erreichen. Dann können wir die ersten Signale empfangen.«
Hoffentlich hat Judith recht. Eine Nachricht aus dem Inneren der Sphäre würde alles verändern. Jonathan greift nach Yues Hand.
»Und nun kommt ihr am besten mal rein. Dann treten wir den Rückflug an.«
»Oh, ich freue mich schon darauf, Mike wieder zu treffen«, sagt Giordano. »Hast du ihm eigentlich gesagt, was mit dem Triebwerk geschehen ist?«
»Nein«, antwortet Judith. »Ich habe ihn gefragt, ob er etwas von der Reparatur hören will, aber er hat abgelehnt.«
»Danke, das war klug von dir. Dann haben wir wenigstens bis zur Landung auf dem Mond unsere Ruhe.«