14.4. 2035, Mond-Basis Unity
»Ein bisschen umständlich ist es
ja schon«, sagt Giordano.
»He, du hast das Triebwerk selbst umgesetzt«, sagt Yue.
»Ich wurde von meiner Kommandantin gezwungen. Das werde ich jedenfalls Mike sagen.«
»Ich wusste ja gar nicht, dass du so ein Feigling bist«, sagt Yue.
Sie ist auf dem Ausflug richtig aufgeblüht. Jonathan ist stolz auf sie. Hoffentlich ist sie auch ein bisschen stolz auf ihn. Er muss gerade mächtig schnaufen, denn vor der Landung müssen sie nun in die Raumanzüge steigen. Die Landekapsel ist jetzt hinten am Orbitalmodul angeflanscht, also jetzt, nachdem sie gebremst haben, vorn. Dort, wo sich vorher das Triebwerk des Orbitalmoduls befand, gibt es keine Schleuse mehr, durch die sie direkt in die Landekapsel steigen könnten, also müssen sie einen Umweg über das All nehmen.
»Nun raus mit euch«, scheucht Judith sie. »Ich freue mich schon auf mein erstes Bad.«
Maxim hat ihnen Fotos des neuen Sanitärtrakts geschickt. Darin gibt es nun erstmals auch eine echte Badewanne, zusätzlich zu den drei Duschen. Die Wanne steht in einem eigenen, kleinen, abschließbaren Raum, sodass ihr Nutzer wirklich in Ruhe träumen kann. Jonathan badet zwar eigentlich gar nicht so gern, aber mit Yue ins warme Wasser zu steigen, das ist keine üble Vorstellung. Er stößt sich von der Außenwand ab, schwebt um eine Abschirmung herum und steuert mit Hilfe der kleinen Düsen an seinem Rücken das Landemodul an. Gerade als er in der Tür landet, gibt ihm jemand von hinten einen Stoß.
»He, pass doch auf!«, sagt er.
»Du bist zu langsam, alter Mann«, antwortet Yue.
Er muss wirklich noch ein bisschen härter trainieren. Am Ende tauscht sie ihn noch gegen einen jüngeren ein. Die Konkurrenz ist groß, schließlich kommen sieben Männer auf drei Frauen, und eine davon spielt das Spiel gar nicht mit. Er kann es nicht fassen, dass ausgerechnet er so ein Glück hatte. Oder war es gar kein Glück, sondern Yue hat ihn ausgesucht? Es ist ja auch egal. Das kompliziertere Verfahren vor dem Landen hat zumindest einen Vorteil: Sie brauchen nach der Landung nicht noch die Anzüge anzulegen und können sofort nach draußen marschieren. Die anderen werden überrascht sein.
»Wollt ihr uns nicht reinlassen?«
Die Schleuse scheint blockiert zu sein. Giordano klopft gegen die äußere Schleusentür. Sie öffnet sich und Wayne und Kenjiro kommen heraus.
»Wir haben euch noch gar nicht erwartet«, sagt Wayne. »Schön, dass ihr wieder da seid. Soll ich euch gleich mal zeigen, wie weit wir gekommen sind?«
Wayne wirkt richtig begeistert.
»Habt ihr irgendwelches Gepäck, das ich schon mal mit in die Zentrale nehmen soll?«, fragt Kenjiro.
Sie geben ihm ihre Taschen, und Ken verschwindet damit in der Schleuse.
»Hier entlang«, sagt Wayne.
Er führt sie zu den Gewächshäusern. Sie sind der Länge nach nebeneinander erbaut und wirken ein bisschen wie überdachte Beete. Die ersten vier sind beleuchtet, obwohl die Sonne scheint. Ihr Boden ist von grünen Pflanzen bedeckt. Was genau sie anbauen, kann Jonathan nicht erkennen, weil das durchsichtige Dach angelaufen ist.
»Die Stromproduktion läuft gut, deshalb können wir den Beeten reihum zusätzliches Licht gönnen«, sagt Wayne. »Hier haben wir zum Beispiel Spinat, Möhren und Tomaten. Den ersten Spinat haben wir schon geerntet. Leute, auch wenn ihr nie Spinat gemocht habt, was Ken daraus zaubert, werdet ihr lieben, ich schwöre es.«
»Ist es nicht anstrengend, unter den niedrigen Dächern zu arbeiten?«, fragt Jonathan.
»Klar, aber du gewöhnst dich daran. Nach einer Stunde bemerkst du den Gestank nicht mehr, nach einer Woche ist deine natürliche Fortbewegungsart auf Knien. Natürlich ist das sau-anstrengend, du wirst dich noch wundern, aber es lohnt sich. Wie lange hatten wir jetzt keine frische Nahrung mehr?«
Es ist toll, was die sechs Menschen geschafft haben. Noch stärker beeindruckt Jonathan aber, wie sehr ein simpler, körperlicher Genuss die Menschen verändert.
»Wieso sprichst du eigentlich von Gestank?«, fragt Giordano. »Muss man da drin keine Maske tragen?«
»Du brauchst eine Atemmaske, aber keinen Druckanzug«, erklärt Wayne. »Die Luft da drin enthält vorwiegend Kohlendioxid, das ist gut für die Pflanzen. Aber wenn du deinen Sauerstoff über eine Teilmaske atmest, entkommst du dem Geruch nicht, so dicht ist die Maske nicht.«
»Hast du schon mal versucht, im Raumanzug zu gärtnern?«
»Aber sicher, Giordi, am Anfang standen die Beete noch nicht unter Druck, da mussten wir im Anzug arbeiten. Es war eine noch viel größere Quälerei.«
»Verstehe. Na mal sehen, ob mich ein Leben als Gärtner reizt.«
»Wir brauchen dringend auch einen Klempner. Die Versorgungsleitungen müssen ja von Haus zu Haus und innerhalb der Gewächshäuser verlegt werden. Strom, Wasser, Gas, fast wie auf der Erde.«
»Da fehlt noch die Scheiße«, sagt Giordano.
»Bisher betreiben wir ja nur Pflanzenzucht«, sagt Wayne. »Aber ganz ohne geht es auch da nicht. Am Anfang müssen wir den Boden damit impfen und später ab und zu düngen.«
»Produzieren wir denn überhaupt genug organische Abfälle?«, fragt Giordano.
»Ohne euch vier ist unser Scheiße-Vorrat schon zur Neige gegangen. Vor allem deshalb haben wir dringend auf euch gewartet. Okay, kleiner Scherz.«
Giordano lacht. »Ich wollte schon fragen, wie ihr es dann überstehen werdet, wenn wir doch noch zum Mars reisen. Kommt dann der Notdurft-Notstand?«
»Werdet ihr denn?«, fragt Wayne.
»Werden wir, Judith?«, fragt Giordano.
»Das klären wir später«, sagt die Kommandantin.
»Wo nun wieder alle
anwesend sind, möchte ich gern eine wichtige Frage klären«, sagt Michael.
Dabei läuft er in der Zentrale auf und ab, die Arme wie ein Professor hinter dem Rücken verschränkt. Jonathan seufzt. Er ist noch nicht einmal unter der Dusche gewesen, und Mike beginnt schon mit seiner Grundlagendiskussion. Jeder in der Zentrale weiß wohl, was er unbedingt klären will, und deshalb fragt auch niemand nach.
Mike bleibt stehen und lässt seinen Blick durch die Runde schweifen. Er wirkt dabei nicht sehr souverän und scheint vor Hochmut zu strotzen. So macht man sich keine Freunde.
»Also, wenn niemand fragt, es geht um den Mars. Es gibt viele Gründe, möglichst bald dorthin zu fliegen. Je länger wir warten, desto problematischer wird der Aufbau einer neuen Zivilisation, weil wir hier auf dem Mond, wo es doch eh nichts bringt, zu viele Ressourcen vergeuden.«
Damit hat Mike wohl gerade die Unity-Crew vergrätzt. Selbst Wayne, der auf große Worte steht, war vorhin so begeistert von den neuen Gewächshäusern gewesen, dass er sich nun bestimmt persönlich angegriffen fühlt.
»Bevor wir irgendetwas entscheiden, sollten wir doch erst einmal auf die Ergebnisse von LISA warten«, sagt Yue.
Sie spricht leise, aber mit fester Stimme.
»Der Satellit kann uns die Ergebnisse auch auf den Mars schicken. Ihr erwartet doch nicht wirklich, dass da unten noch jemand lebt?«
»Und wenn doch, und sie brauchen unsere Hilfe?«
»Im Moment sind wir es, die Hilfe brauchen. Wenn wir eine stabile Mars-Kolonie aufbauen, können wir unserer alten Heimat vielleicht in Zukunft helfen, in ein paar Generationen.«
»Wir können momentan nicht zum Mars fliegen«, sagt Judith, »das wäre viel zu gefährlich. Wir haben kein Ersatztriebwerk.«
Mike bleibt ruckartig stehen. Die Farbe weicht aus seinem Gesicht.
»Ist das Haupttriebwerk defekt?«, fragt er. »Warum sitzt noch niemand daran und repariert es? Ihr wollt euch erst einmal ausruhen, das verstehe ich. Aber morgen sollte unbedingt jemand …«
»Nein, wir haben es zur Reparatur der LISA-Sonde benötigt«, unterbricht ihn Judith. »Es wartet im Lagrange-Punkt L1 auf uns. Wenn wir die Ergebnisse haben, holen wir es zurück.«
»Ihr habt was? Das ist Landesverrat!« Mikes Stimme überschlägt sich. »Du hast deine Kompetenzen weit überschritten, Judith. Du hast den Auftrag des Präsidenten, die amerikanische Flagge auf den Mars zu bringen. Wir müssen dich absetzen! Du bist eine Verbrecherin!«
Mike bricht seine Tirade ab. Niemand sagt etwas. Fast alle haben die Arme verschränkt. Anscheinend erkennt Mike gerade, dass er allein ist. Um seine Lippen spielt ein eingefrorenes Lächeln.
»Das wird dir noch leid tun, Judith«, sagt er.
Dann verlässt er die Zentrale. Kurz darauf hören sie laute klassische Musik. Das ist nicht gut, denkt Jonathan. Wenn Mike sich in die Enge getrieben fühlt, greift er vielleicht zu Mitteln, die sich niemand wünschen kann. Aber er bringt es auch nicht fertig, ihn jetzt zu besuchen.