31.12. 2035, Mond-Basis Unity
»Es war ein denkwürdiges Jahr«, sagt Maxim. »Das von einer Tragödie überschattet wurde, deren Ausgang wir noch nicht kennen. Darum lasst uns darauf anstoßen, dass 2036 endlich Klarheit bringt – eine Klarheit, mit der wir alle weiterleben können.«
Das war eine gute Rede. Jonathan betrachtet Yue, die neben ihm sitzt. Wer hätte gedacht, dass er sie in diesem schwierigen Jahr so gut kennenlernen würde? Der Kommandant legt das Mikrofon zur Seite, steht auf, erhebt sein Glas und prostet allen Anwesenden nacheinander zu. Jonathan greift nach seinem eigenen Sektglas. Als er an der Reihe ist, führt er die typische Bewegung aus, berechnet jedoch die niedrige Schwerkraft nicht ein. Der Sekt schwappt in hohem Bogen aus dem Glas und trifft Maxim in Brusthöhe. Der Kommandant lacht.
»Eine Sektdusche, wie nett!«, ruft er. »Wer will noch?«
Jonathan wird rot. Er hätte das Anstoßen üben sollen. Yue legt ihm die Hand auf die Schulter. Vorsichtig stößt er mit ihr an.
»Auf ein gutes Jahr«, sagt sie.
»Danke, Yue«, sagt er. »Das wünsche ich dir auch – und uns beiden.«
Im Lautsprecher ist ein Räuspern zu hören. Mike steht jetzt vorn und hält das Mikrofon. Der Amerikaner hat sich in den letzten Monaten durch sein umsichtiges Handeln die Achtung der Crew erarbeitet. Die Ausfälle der Anfangszeit scheint er überwunden zu haben. Jonathan ist immer noch skeptisch, doch er fühlt sich verpflichtet, dem Mann wie jedem anderen Menschen zuzugestehen, aus seinen Fehlern lernen zu können.
»Danke, Maxim«, beginnt Michael. »Das war eine hervorragende Zusammenfassung des vergangenen Jahres.«
Das ist es, was Jonathan skeptisch macht. Der Arzt der ARES ist plötzlich von allem begeistert, auf eine übertriebene Art.
»Ich möchte den Blick auf die Zukunft richten«, setzt Mike fort. »Die Zukunft, von der du uns Klarheit erbeten hast, Maxim. Klarheit, das ist gut. Wir alle wünschen uns mehr davon. Vor vier Jahren hat sie mir gefehlt. Damals stand ich vor der Frage, entweder als Arzt der ARES ins All zu fliegen oder mich mit meiner damaligen Frau in Michigan als Hausarzt niederzulassen, mit ihr Kinder zu bekommen und ein glückliches Leben zu führen. Ich wollte beides, aber das war nicht möglich, denn meine Frau wollte nicht zwei Jahre auf mich warten. Niemand konnte mir eine klare Antwort geben, was mich am Ende glücklicher machen würde. Das wusste ich zwar, denn niemand kann die Zukunft vorhersagen, aber ich habe trotzdem jede und jeden gefragt. Ihr werdet nicht überrascht sein zu hören, dass ich keine eindeutigen Antworten bekommen habe. Dann habe ich den Vertrag mit der NASA unterschrieben. Es gab kein Zurück mehr. Und plötzlich war sie da, die Klarheit. Mir wurde klar, dass ich ohne diesen Flug zum Mars für immer etwas vermisst hätte. Aber ohne meine vorherige Entscheidung hätte sich die Klarheit darüber nie eingestellt.«
Im Raum wird es lauter. Die meisten wollen feiern und keine Rede hören, denkt Jonathan.
»Ich bin gleich fertig, keine Sorge«, sagt Mike. »Warum erzähle ich euch das? Ich möchte euch bitten, nicht auf die Klarheit zu warten. Sie wird sich nicht von selbst einstellen. Wir alle müssen in diesem Jahr eine Entscheidung treffen, die die Zukunft der Menschheit bestimmen wird. Wollen wir hier auf dem Mond bleiben, wo Meteoriteneinschläge dauernd unsere Existenz bedrohen? Oder suchen wir uns einen sicheren Hafen, in dem wir das Erbe der Menschheit bewahren können? Für die da unten, von denen längst ein großer Teil gestorben sein wird, können wir nichts mehr tun. Aber an uns liegt es, ihr Erbe und ihr Wissen zu bewahren. Die acht Milliarden bürden uns eine enorme Verantwortung auf. Die Klarheit darüber gewinnen wir, das kann ich euch versprechen, wenn wir uns für ein Datum entscheiden, an dem wir die Reise zum Mars antreten. Ich wünsche euch ein schönes Neues Jahr.«
Mike verneigt sich leicht, dann legt er das Mikrofon wieder weg. Wayne, François und Atiya klatschen. Auch Yue schlägt zaghaft die Hände aneinander. Er sieht sie verwundert an.
»Eine vernünftige Rede«, sagt sie. »Fandest du das nicht? Ich kann mir auch kaum noch vorstellen, dass wir Antwort von unten erhalten. Es tut mir wirklich leid für deine Familie, das musst du mir glauben, aber wir sind hier nicht sicher. Sie hätten nicht gewollt, dass du dich ständiger Gefahr aussetzt.«
Jonathan seufzt. Seine gute Laune ist dahin. Es ist nicht so einfach mit der Klarheit. Denn er will sich nicht eingestehen, dass seine Familie längst gestorben ist. Beinahe beneidet er Yue um diese Sicherheit, doch dann tut sie ihm gleich wieder leid, denn sie hatte nie jemanden, der sie bedingungslos geliebt hat.
Es sind schon drei Stunden des neuen Jahres vergangen, als Judith das Mikrofon ergreift. Jonathan ist leicht betrunken, doch die Stimme der ARES-Kommandantin holt ihn in die Wirklichkeit zurück. Sie macht keinen glücklichen Eindruck.
»Liebe Mitreisende«, beginnt sie, »wir befinden uns alle gemeinsam auf der Reise unseres Lebens. Eigentlich wollte ich heute gar nichts sagen, doch einige Gespräche mit euch haben mir gezeigt, dass es ein grundlegendes Problem gibt. Es heißt Unsicherheit. Es ist ein Problem, das sich lösen lässt, und zwar, wie Michael heute, also nein, gestern, so anschaulich erklärt hat, durch eine Entscheidung. Wir haben das Glück und das Unglück, alle zusammen in einem Boot zu sitzen. Deshalb möchte ich euch einladen, diese Entscheidung gemeinsam zu treffen, und zwar in zehn Tagen, am 10. Januar. Wollen wir auf dem Mond bleiben oder zum Mars reisen? Wir werden eine Mehrheitsentscheidung treffen. Bitte überlegt euch bis dahin, was für euch Klarheit bedeutet. Ich selbst glaube, dass wir der Menschheit Geduld schulden. Die Vorstellung, dass sie sich bei uns melden, wir aber nicht mehr helfen können, ist schrecklich für mich. Aber ihr müsst sie nicht teilen. Die Abstimmung ist auch mit Maxim abgesprochen.«
Judith legt das Mikrofon ab. Jonathan hat den Eindruck, als glänzte etwas feucht auf ihrer Wange. Atiya geht auf sie zu, doch sie wehrt ab. Stattdessen geht sie zum Ausgang und verlässt die Party.