5.1. 2036, Mond-Basis Unity
»Hört mich jemand?
Hallo, Basis?«
Das ist doch Yues Stimme! Jonathan bleibt der Bissen im Hals stecken. Er legt den Löffel ab und schiebt schnell die Schale zur Seite. Die Suppe schwappt auf die Tischdecke, aber das ist ihm egal. Niemand anders ist in der Zentrale. Er springt zum Funkgerät.
»Was ist passiert? Wo bist du?«, fragt er.
»Ah, Jonathan, ein Glück. Ich bin in Gewächshaus 5.«
»Geht es dir gut?«
»So weit ja. Ich bin mit meiner Schicht fertig. Aber die Schleuse lässt mich nicht raus.«
»Bist du allein? Wer ist mit dir eingeteilt?«
»Mike ist schon vor einer halben Stunde los. Er hat etwas mit dem Magen.«
»Er hätte dich nicht alleinlassen dürfen!«
»Mike hat keine Schuld. Er wollte ja, dass ich mitkomme, aber ich habe darauf bestanden, das Beet noch fertigzumachen.«
»Trotzdem, dann hätte er … aber egal, was ist mit der Schleuse?«
»Sie öffnet sich einfach nicht. Die rote Lampe leuchtet.«
Mist. Im Eingangsraum befindet sich Yues Raumanzug. Ohne ihn kann sie nicht zurück in die Basis.
»Das ist der Drucksensor.«
Er gibt die Schleuse nur frei, wenn er auf der anderen Seite einen normalen Luftdruck misst. Entweder ist er defekt, oder da ist tatsächlich Vakuum auf der anderen Seite. Dann darf Yue die Tür nicht öffnen, sonst stirbt sie.
»Ich weiß«, sagt Yue. »Aber vielleicht spinnt er ja bloß. Ich könnte den Mechanismus manuell freigeben.«
»Auf keinen Fall! Wenn es in der Kammer nun einen Meteoriteneinschlag gab? So lange die Tür geschlossen bleibt, bist du sicher.«
»Na toll. Und wie komme ich hier je wieder raus?«
»Bleib ganz ruhig. Ich kläre das. Du darfst auf keinen Fall die Tür öffnen, das musst du mir versprechen.«
»Versprochen, Jonathan.«
Er springt auf. Er muss sofort die ganze Basis wecken. Sie müssen Yue dort rausholen, egal wie.
»Yue?«,
fragt er in das Mikrofon.
»Ja, ich bin da. Ich kann ja hier nicht weg.«
»Gut, wir sind jetzt alle in der Zentrale versammelt. Gemeinsam werden wir eine Lösung finden.«
»Ich habe mich schon wieder beruhigt. Es ist zwar ein bisschen unbequem, aber es ist warm, über die Maske kann ich atmen, es gibt Wasser und frischen Salat, also halte ich es eine Weile aus.«
»Prima. Die Haltung gefällt mir.«
»Also,
wer hat eine Idee?«, fragt Maxim.
Der Kommandant ist im Trainingsanzug, Jonathan hat ihn aus dem Bett geholt.
»Wir reparieren die Schleuse«, sagt Kenjiro.
Niemand antwortet. Der Vorschlag scheint so trivial, aber warum ist dann vorher niemand darauf gekommen?
»Okay«, sagt Maxim. »Das war einfach. Kannst du dich gleich darum kümmern?«
Kenjiro nickt.
»Ich komme mit«, sagt Atiya. »Nicht dass dir noch etwas passiert.«
»Yue, hörst du uns?«, fragt Maxim.
»Klar und deutlich.«
»Ken und Atiya reparieren die Schleuse. Sie sind in einer halben Stunde bei dir.«
»Ich habe
eine gute und eine schlechte Nachricht«, meldet sich Kenjiro über den Helmfunk.
»Zuerst die gute«, sagt Maxim.
»Die gute ist auch die schlechte. Der Sensor hat recht. Die Kammer, in der sich Yue umziehen müsste, ist luftleer. Wir haben ihren Anzug geborgen. Atiya bringt ihn gerade in die Basis.«
»Was ist passiert?«
»Es sieht nach einem erneuten Meteoriteneinschlag aus«, sagt Kenjiro.
Es sieht danach aus, hat er gesagt, nicht: es war ein neuer Einschlag. Ken wählt seine Worte immer bewusst. Was will er damit sagen? Jonathan nimmt sich vor, ihn darauf anzusprechen. Aber erst, wenn Yue gerettet ist.
»Kannst du das flicken?«, fragt Maxim.
»Das Loch im Dach ja, kein Problem.«
»Aber?«
»Die Lebenserhaltung hat es auch erwischt. Selbst wenn die Kammer wieder dicht ist, können wir sie nicht mehr mit Sauerstoff füllen.«
»Lässt sie sich nicht reparieren?«
»Nein, sie wurde ganz schön zerfetzt. Sie befindet sich nur wenige Zentimeter unter dem Loch.«
»Und wenn wir sie auswechseln?«, fragt Maxim.
»Es gibt kein Ersatzgerät«, sagt Yue. »Ich kenne die Lagerbestände sehr genau.«
»Wir könnten ein Gerät aus einem anderen Gewächshaus ausbauen«, meint Maxim.
»Das funktioniert nicht. Die Rohrleitungen liegen hier so, dass wir die Sauerstoff- und CO2
-Versorgung des Gewächshauses dazu kappen müssten. Yue müsste also für etwa eine Viertelstunde die Luft anhalten.«
»Danke, darauf verzichte ich«, sagt Yue.
»Das kommt nicht in Frage«, sagt Jonathan.
»Keine Sorge, das haben wir nicht vor«, sagt Maxim.
»Wenn ich etwas sagen darf«, meldet sich Mike, »es tut mir sehr leid, dass ich Yue da draußen alleingelassen habe.«
»Das bringt uns nicht weiter«, sagt Jonathan ärgerlich.
»Ich habe auch einen Vorschlag zur Sache«, sagt Mike. »In der Landekapsel der ARES gibt es einen Rettungsschlauch, eine Art aufblasbare Schleuse, an beiden Seiten verschließbar. Damit kann man von einem Raumfahrzeug ohne Schleuse in ein anderes umsteigen. Der Schlauch schmiegt sich an das Ziel an, sodass keine Luft entweichen kann. Dann kann man einfach umsteigen, indem man ein Loch in die Wand schneidet. Das bräuchten wir ja nicht einmal. Wir können den Schlauch auf die Tür setzen, die sich nicht öffnen will, öffnen sie mit Gewalt und Yue steigt gefahrlos in den Schlauch.«
»Wie lang ist denn der Schlauch?«, fragt Maxim.
»Zehn Meter.«
»Bis zum Eingang von Gewächshaus 5 sind es etwa 150 Meter. Habt ihr eventuell 15 solche Schläuche, Mike?«
»Das nicht. Aber der Schlauch ist flexibel und nicht allzu schwer. Wir könnten ihn an der Schleuse der Basis aufblasen und Yues Raumanzug hineinlegen. Dann schließen wir seine innere Luke, transportieren ihn hinüber zum Gewächshaus und verbinden ihn dort mit dem Ausgang. Yue betritt ihn durch die Luke. Dabei geht vielleicht etwas Atmosphäre verloren, aber sicher nicht mehr als ein Drittel. Sie zieht ihren Raumanzug an und ist gerettet.«
»Das könnte funktionieren«, sagt Judith.
»Danke für die Idee, Mike«, sagt Maxim. »Hast du alles mitgehört, Yue?«
»Ja, ihr holt mich mit dem Schlauch ab, prima.«
Jonathan lässt
es sich nicht nehmen, bei Yues Rettung zu helfen. Der Rettungsschlauch der ARES durchmisst etwa 1,20 Meter und ist knapp neun Meter lang, also etwas kürzer, als Mike behauptet hatte. Aufrecht stehen kann man darin nicht. Er ist eigentlich für Rettungsmanöver in der Schwerelosigkeit gedacht, bei denen man wie ein Schwimmer durch den Schlauch schweben würde. In der engen Höhle wird Yue es nicht leicht haben, ihren Raumanzug anzuziehen, deshalb ist Judith mit in den Schlauch gestiegen, sodass sie ihr helfen kann.
»Du kannst die Luke jetzt schließen«, sagt Maxim.
»Verstanden, schließe Luke«, antwortet Judith.
»Ich kopple jetzt den Schlauch ab«, kündigt Maxim an.
Er löst die Klammern, die das Plastik-Ungetüm mit der Schleuse der Basis verbinden. Jonathan beobachtet alles. Der Schlauch erinnert an einen riesigen Wurm, zumal er etwa alle achtzig Zentimeter eine Einschnürung besitzt, wie sie auch Regenwürmer haben. Allerdings ist der Schlauch durch seine Gasfüllung ziemlich stabil. Er kann sich also nicht wie ein Wurm zum Ziel schlängeln. Stattdessen tragen sie ihn. Maxim hebt hinten an, Jonathan in der Mitte, Wayne vorn.
Der Plastikwurm wandert über das eingeebnete Gelände. Wenn nun ausgerechnet jetzt ein Meteorit hier einschlagen würde? Oder in dem Moment, in dem Yue sich in dem Schlauch umziehen wird? Das wird nicht passieren. Jonathan sieht auf den Boden, um nicht ins Stolpern zu kommen. Es ist allerdings seltsam, wie oft die Basis in letzter Zeit zum Ziel verirrter Meteoriten wird. Anderthalb Jahre lang ist überhaupt nichts passiert, und seit Oktober häufen sich plötzlich die Unfälle. Statistisch ist es vermutlich noch nicht signifikant. Sie wissen ja nichts von den Einschlägen, die es vorher vielleicht in unmittelbarer Nähe gegeben hat. Aber seltsam ist es trotzdem.
Der Wurm erreicht sein Ziel.
Maxim klammert die Öffnung an die Innentür des Gewächshauses.
»Auf eins öffnet Judith die Innenluke des Schlauchs, und Yue öffnet die Schleusentür und bewegt sich schnellstmöglich in den Schlauch«, befiehlt Maxim.
Beide bestätigen die Anweisung. Jonathans Herz schlägt schnell.
»Drei – zwei – eins.«
Es geht los. Jonathan hört nichts, aber das ist normal.
»Bin drin«, meldet sich Yue. »Lege jetzt mit Judiths Hilfe den Raumanzug an.«
Er entspannt sich wieder. Jetzt kann nichts mehr schiefgehen.
»Ich bin so weit«, sagt Yue.
Sie ziehen den Schlauch ein Stück nach vorn. Zwei Gestalten im Raumanzug klettern mit dem Kopf voraus aus der engen Röhre. Yue sieht ihn und fällt ihm um den Hals.