8.2. 2036, Mond-Basis Unity
Jonathan schwitzt.
Er hat sich gerade auf dem Fahrrad auf seinen Ausstieg vorbereitet. Es scheint alles wie immer, als würde er vielleicht bloß zur Kontrolle der Sonnenkollektoren fahren, aber es ist ganz anders. Es ist seine letzte EVA auf dem Mond. Er wird die Schleuse verlassen, mit den anderen zum Landemodul gehen und dann zur ARES fliegen. Er wird nie wieder zurückkehren. Niemand von ihnen wird je wieder einen Fuß auf den Mond setzen, das scheint sicher.
Er prüft den Sitz der Windel und des LCVG, dann steigt er in das Unterteil und setzt sich schließlich den HUT auf. Es fehlt bloß noch der Helm. Neben ihm ziehen sich gerade Wayne und Maxim um. Yue steht vor dem Hauptcomputer der Basis, auch sie ist schon im Raumanzug. Die anderen sind bereits auf der ARES.
»Ich versetze die Station jetzt in den Schlafmodus«, sagt Yue.
Irgendwie klingt es tröstlich. Falls irgendwann jemand vor der Schleuse der Basis steht, wird er Einlass erhalten. Er wird eine atembare Atmosphäre vorfinden, falls es sich um einen Sauerstoff-Atmer handelt, und Nahrung, wenn es eine auf Kohlenstoff basierende Lebensform ist. Dass ein Mensch Einlass begehrt, ist unwahrscheinlich. Aber vielleicht schafft es die Menschheit ja doch zu überleben und sich dereinst aus ihrer Falle zu befreien.
»Das war’s«, sagt Yue. »Wir können gehen.«
Gelassen setzt sie ihren Helm auf. Sie haben Zeit. Die Basis schaltet sich nur langsam ab.
»Ich bin der letzte«, sagt Maxim.
Jonathan kann sich vorstellen, wie es ihm geht. Wenn sie die Basis verlassen, ist er kein Kommandant mehr. Aber das wird nicht Maxims Hauptproblem sein. Er braucht die Macht nicht, so wie Mike. Aber die Basis ist sein Kind, er war für ihren Aufbau verantwortlich, und nun muss er ihre letzten Stunden begleiten. Jonathan folgt Wayne und Yue. Sie gehen an den zahlreichen Sträußen vorbei, die noch lange nicht verblüht sind. Ein künftiger Besucher wird sich vielleicht über die verdorrten Pflanzen wundern. Aber vielleicht ist er auch selbst eine Art Pflanze und sieht einen Massenmord an Artgenossen vor sich. Sie erreichen die Schleuse. Jonathan dreht sich um, aber Maxim fehlt noch. Sie öffnen die Schleuse und stellen sich in die Kammer. Niemand sagt etwas. Jonathan stellt sich so, dass er weder Yue noch Wayne ansehen muss. Er will ihnen nichts vorheulen.
»So, es kann losgehen«, sagt Maxim plötzlich.
Er wirkt verändert, fast befreit, als hätte er eine wichtige Entscheidung getroffen. Vermutlich hat er sich dazu entschieden loszulassen. Manche Menschen können das. Sie entscheiden sich dafür und lassen los. Jonathan bewundert diese Fähigkeit. Yue drückt den Schließknopf. Die Schleuse pumpt die Luft ab.
Der Abschied ist unspektakulär,
weil sie einen der wenigen Tage erwischt haben, an denen die Sonne hinter dem Horizont verborgen bleibt. So liegt die Basis in der Schwärze verborgen. Sie sind schon 50 Kilometer hoch, als fast gleichzeitig Sonne und Erde aufgehen. Jonathan wendet sofort den Blick ab. Seine Heimat als weiß glänzende Scheibe sehen zu müssen, schmerzt ihn noch immer.
Sie erreichen
die ARES nach 40 Minuten. Das Landemodul koppelt so an, dass sein Antrieb das komplette Schiff aus dem Orbit beschleunigen kann. Dadurch müssen sie über das Weltall umsteigen, aber sie tragen ja sowieso noch ihre Anzüge.
Auf der ARES begrüßt sie Judith. Sie wird für den langen Flug zum Mars ihre Kommandantin sein. Feste Kabinen wird es für niemanden geben können, denn im rotierenden Außenring gibt es nur vier Schlafplätze, die sie sich im Schichtsystem teilen müssen, um von der simulierten Schwerkraft dort draußen zu profitieren. Zwei der Kabinen sind dann mit drei Astronauten belegt, die anderen zwei mit zweien. Yue und Jonathan bekommen eine gemeinsame Kabine. Sie sind das einzige Paar an Bord. Jonathan hätte eigentlich Protest von Mike erwartet, der in einer Dreierkabine schlafen muss, aber der Arzt hofft wohl, dass Yue für das erste Kind der neuen Menschheit sorgt. Diesen Gefallen werden sie ihm nicht tun.
Eine Stunde
später treffen sie sich zum ersten Mal zu zehnt in der Zentrale. Es ist sehr eng, aber durch die fehlende Schwerkraft können sie sich im gesamten kugelförmigen Volumen des Moduls verteilen. Judith hält eine kleine Rede, der Jonathan nicht zuhört. Er wird erst aufmerksam, als er Mikes deutlich erregte Stimme hört.
»Wir fliegen nicht direkt zum Mars?«, fragt der Arzt. »War das Ergebnis der Abstimmung nicht klar genug? Ich fordere einen direkten Kurs oder deinen sofortigen Rücktritt als Kommandantin.«
Jetzt lässt er wohl seine Maske fallen. Das ging ja schnell, denkt Jonathan.
Judith bleibt ganz ruhig. »Du hast vergessen, dass unser zweites Triebwerk noch an der LISA-Sonde klemmt. Es hierzulassen und ohne Ersatztriebwerk die lange Reise anzutreten, wäre unverantwortlich und verstößt gegen die NASA-Vorschriften.«
»Warum sagst du das nicht gleich?«, fragt Mike laut.
»Weil es mir selbstverständlich erschien. Es hat sich auch niemand beschwert außer dir.«
»Na gut. Aber wenn wir LISA erreicht haben, toleriere ich keine weitere Verzögerung.«