11.2. 2036, Mars-Schiff ARES
Wie immer nach
dem Aufstehen kümmert sich Atiya als erstes um LISA. In der Zentrale ist es noch leer. Dass sie eine der beiden Dreierkabinen bewohnt, hat auch einen Vorteil: Gemeinsam mit ihr ist nur ein anderes Crewmitglied wach, Kenjiro, und der steckt dann immer in der Werkstatt, wo er irgendetwas repariert.
Sie lässt die LISA-Daten der letzten Nacht auf dem Bildschirm durchlaufen. Es ist wirklich schade, dass es bald damit vorbei sein wird. Ohne das Triebwerk wird der Satellit vom L1-Punkt wegtreiben, und spätestens nach ein paar Wochen sind die Laser dann asynchron. Dabei ist der Gravitationswellendetektor ein Weltwunder. Ein so empfindliches Instrument hat es auf der Erde nie gegeben. Gemeinsam mit dem Far-Side-Teleskop hätte er die Grundlage für bahnbrechende Wissenschaft sein können. Aber es ist unstrittig – nur mit einem Triebwerk zum Mars zu fliegen, wäre Wahnsinn.
Ihre selbstgeschriebene Überwachungssoftware hat in den neuen Daten keine Hinweise auf große kosmische Ereignisse gefunden. Das ist schade; es wäre ein schöner Abschluss gewesen. Um 2 Uhr Standardzeit scheint die Apparatur kurz ausgefallen gewesen zu sein. Dort hat die Messkurve ein paar sekundenlange Löcher. Vielleicht hat ein Asteroidenschwarm den Weg des Lasers durchquert und ihn dabei jeweils kurz abgedeckt.
Atiya betrachtet die Löcher genauer. Seltsam ist, dass sie so regelmäßig aufeinander folgen. Ihre Abstände sind genauso groß wie die Löcher selbst. Sie verändert den Maßstab des Diagramms. Das Ergebnis ist verblüffend: Was sie für Löcher gehalten hat, sind riesige Ausschläge. Die Messwerte liegen so weit außerhalb des für Gravitationswellen zu erwartenden Bereichs, dass sie auf dem Bild nicht mehr zu sehen waren. Aber welches Phänomen kann solche hohen Ausschläge produzieren? Ist irgendwo in der Nähe eine Supernova explodiert? Aber das hätte das Schiff bestimmt gemeldet. Eine derart nahe Sternenexplosion müsste am Himmel klar sichtbar sein.
Sie holt sich die Werte der beiden Beine von LISA separat auf den Schirm. Die Laserstrecke zum L4-Punkt hat keine ungewöhnlichen Daten gemessen, nur die zu dem Reflektor auf der Oberfläche der Sphäre. Ein großer Ausschlag, das bedeutet, dass der Reflektor sich vom LISA-Satelliten entfernt hat und wieder auf ihn zu gekommen ist. Das ist eine typische Wirkung von Gravitationswellen, die den Raum verzerren. Aber ein so starker Ausschlag, das müsste ein wahrer Tsunami gewesen sein. Ein solches Beben hätte die anderen Instrumente des Schiffes stören müssen. Es gibt weder einen neuen hellen Stern am Himmel noch wurde der Raum rund um das Schiff durchgeschüttelt. Also muss die Messung eine andere Ursache haben.
Es hilft nichts, sie braucht die Rohdaten. Es sind allerdings erhebliche Datenmengen, das wird ein bisschen dauern. Atiya startet den Download von LISA. Der Computer wird ihr eine Nachricht schicken, wenn er alle Daten empfangen hat.
»Können
wir nun endlich mit der Demontage beginnen?«, fragt Mike nach dem Frühstück.
Eigentlich hat er noch Freischicht, aber er will sich jetzt wohl selbst um den zügigen Weiterflug kümmern. Er wird nicht glücklich über das sein, was sie gleich sagen wird.
Atiya atmet tief durch. »Es kann noch nicht losgehen. Ich lade gerade Daten von LISA herunter. Erst wenn ich sie analysiert habe, können wir den Satelliten abschalten.«
»Du lädst irgendwelche Daten herunter, und deshalb muss der Mars weiter auf uns warten? Hättest du dir das nicht eher überlegen können?«
»Es sind wichtige Daten.«
»Wir sind auf einer wichtigen Mission«, sagt Mike. »Judith, nun sag doch auch etwas! Haben wir den Flug zum Mars nicht gemeinsam beschlossen? Ich glaube fast, ihr wollt die Mission sabotieren.«
Judith stellt den geschlossenen Kaffeebecher ab, lässt ihr Croissant los und schluckt.
»Wenn Atiya sagt, dass es wichtige Daten sind, vertraue ich ihr. Sie ist die Spezialistin.«
»Danke, Judith«, sagt sie.
Ihr Armband vibriert. Das ist das Signal, auf das sie gewartet hat.
»Ihr müsst mich entschuldigen, die Arbeit ruft.«
»Willst du uns nicht wenigstens erklären, warum die Daten so wichtig sind?«, fragt Mike beinahe weinerlich.
Atiya schwebt aus der Zentrale, ohne auf Mike zu reagieren. Sie will die Daten in Ruhe auswerten. Die Werkstatt ist dafür ideal.
Sie hat Glück.
Kenjiro verbringt seine Freischicht zwar fast immer an seinem Arbeitsplatz, aber ausgerechnet heute nicht. Sie hat das Modul ganz für sich. Atiya loggt sich in den Computer ein, holt die Daten vom Server und startet das Analysetool. Die Arbeit mit den Rohdaten ist immer ein bisschen lästig, weil sie noch nicht von Hintergrundrauschen, systematischen Störungen und sonstigen klar als Artefakte erkennbaren Ausschlägen bereinigt wurden. Aber es muss sein. Da sie die Uhrzeit der Ausschläge kennt, weiß sie wenigstens, wo sie suchen muss.
Schließlich hat sie die entscheidenden Zeilen auf dem Schirm. Gravitationswellen haben eine bestimmte Form. Sie schwellen an und wieder ab, sie sind nicht plötzlich da und wieder weg. Anhand dieser Form kann man sogar ihre Herkunft identifizieren. Aber in diesem Fall sind die Steigungen keiner natürlichen Quelle zuzuordnen. Vor allem aber scheint sich der Reflektor nur in einer Richtung bewegt zu haben. Sie hat entweder eine zweidimensionale, also flache, Gravitationswelle entdeckt, was die Physik umwälzen würde. Oder es gab überhaupt keine Schwingung in der Raumzeit, sondern der Reflektor hat sich physisch bewegt. Da er jedoch fest auf der Sphäre verankert ist, muss es die Schale um die Erde selbst gewesen sein, die sich um weniger als einen Millimeter bewegt hat. Was ist hier passiert? Diese Frage kann sie nicht allein beantworten. Sie kennt sich mit fernen Himmelsobjekten aus, aber nicht mit dieser Schale.
»Dann hoffe ich doch sehr,
dass du unsere Zeit mit gutem Grund beanspruchst«, sagt Mike.
Dass er schimpfen würde, war Atiya klar gewesen. Aber die anderen sehen sie an; ihre Blicke kleben fast an ihr. Sie haben eindeutig Interesse, denn sie hat schon verraten, dass sie Neuigkeiten von der Sphäre hat. Atiya holt die Messreihe als Diagramm auf den großen Schirm.
»Das ist das Signal«, erklärt sie. »Es ist ganz klar regelmäßig.«
»Es sieht aus, als würde die Sphäre mit uns Kontakt aufnehmen wollen, indem sie eine Gravitationswelle simuliert«, meint Kenjiro, »vielleicht haben sie erkannt, dass wir mit LISA lauschen?«
»Ich habe mir die Rohdaten angesehen«, sagt Atiya. »Der Reflektor bewegt sich nur in der x-Achse. Eine Gravitationswelle fällt also als Ursache aus.«
»Vielleicht dehnt sich die Sphäre gerade aus«, sagt François. »Sie hat genug von der Erde und will nun auch den Mond einschließen.«
»Und darum zittert sie vorher ein paarmal? Das ist mir zu weit hergeholt«, sagt Kenjiro.
»Ich habe eine Idee«, meldet sich Giordano. »Als wir den Reflektor aufgestellt haben, habe ich gemessen, wie die Sphäre den Schall leitet. Dabei habe ich festgestellt, dass sie sehr dünn ist und Schall sehr gut transportiert.«
»Schall?«, fragt Mike. »Was soll das denn jetzt? Oberhalb der Sphäre herrscht doch sowieso Vakuum, da kann man nichts hören.«
»Schall, das sind Schwingungen. Sie breiten sich nicht nur in Luft aus, sondern auch in Wasser oder in festen Stoffen«, erklärt Giordano.
»Wie auf der Sphäre«, ergänzt Kenjiro.
»Die Schwingungen erfolgen radial nach außen. Wenn direkt unter dem Reflektor eine solche Schwingung angeregt würde, wäre das Ergebnis, dass er sich in einer Achse hin und her bewegt. So, wie es Atiya gemessen hat.«
»Und wie ließen sich solche Schwingungen anregen?«, fragt Yue.
»Mal angenommen, du stehst vor einer Tür und willst hinein«, sagt Giordano.
»Dann reiße ich die Tür auf und gehe hinein«, sagt Wayne lachend.
»Mal angenommen, du wärst höflich.«
»Dann klopfe ich.«
»Damit versetzt du die Tür in Schwingungen«, sagt Giordano, »und die Tür wiederum versetzt die Luft dahinter in Schwingungen, die sich als Schallwellen durch das Zimmer ausbreiten. Hier gibt es keine Luft, aber es gibt den Reflektor, der sich im Takt der Schwingungen bewegt.«
»Du meinst, jemand hat von unten geklopft?«, fragt Wayne.
»Ja, für mich sieht das nach einer bewussten Anregung aus«, sagt Giordano.
»Und was haben sie uns mitgeteilt?«, fragt Wayne.
Atiyas Wangen erhitzen sich. Wenn Giordano recht hat – sie will es sich gar nicht ausmalen. Es ist viel zu früh!
Sie holt die Werte wieder auf den Bildschirm und spielt mit der Zeitskala, bis sie die komplette Abfolge der Ausschläge erkennen kann. Darin steckt definitiv ein Rhythmus.
»Kurz – kurz – kurz«, liest sie vor.
»Lang – lang – lang«, stimmen Wayne und Judith ein.
»Kurz – kurz – kurz«, sagen neun Menschen an Bord des Marsraumschiffs ARES am 11. Februar 2036 im Chor.
Dieses Datum wird sicher in die Geschichte der Menschheit eingehen. Atiya stößt sich ab. Sie will all ihre Kollegen umarmen, ihre Freunde. In der kugelförmigen Zentrale bricht das Chaos aus. Niemanden hält es mehr an seinem Platz. Sie kugeln in der Schwerelosigkeit herum, sie umarmen sich, sie lachen und weinen, sie schreien, kreischen und flüstern, und Atiya merkt seit langem wieder einmal, wie sich Freude anfühlt.