12.2. 2036, Mars-Schiff ARES
Muss sie sich Sorgen machen?
Judith schüttelt ihr Kopfkissen aus und legt sich auf die andere Seite. Seit Atiya gestern das SOS entschlüsselt hat, hat niemand mehr Mike gesehen. Er hat sich in eine der vier Kabinen eingeschlossen, sodass sie seine Mitbewohner auf die beiden Zweier-Kabinen verteilen musste. Übertreibt er es nicht ein bisschen? Aber vielleicht müssen sie ihm einfach Zeit geben. Denn es ist völlig klar, dass wohl gerade Mikes Lebenstraum zusammengebrochen ist. Es gab zwar noch keine neue Abstimmung, aber alle waren in Jubel ausgebrochen, als sie die ARES Kurs auf die Sphäre hatte nehmen lassen.
Denn natürlich müssen sie antworten. Die Menschen auf der Erde sind nicht allein. Sie müssen einen Weg finden, wieder Kontakt aufzunehmen. Und wenn sie großes Glück hat, wird sie mit Lisa sprechen können. Ein Schauer fährt über ihren Rücken. Es ist eine großartige Entdeckung, aber sie macht ihr auch Angst. Am meisten Angst hat sie davor, einer Wahrheit ins Auge sehen zu müssen, die sie den wichtigsten Teil ihres Lebens kosten wird, ihre Familie.
Es klopft. Judith sieht auf die Uhr. Sie muss die Kabine noch nicht für den nächsten freigeben. Schnell zieht sie sich ein T-Shirt über.
»Herein«, sagt sie.
Die Tür öffnet sich langsam. Das sagt ihr schon, dass es Yue, Kenjiro oder Jonathan sein müssen. Es ist Ken.
»Guten Morgen, Ken.«
»Guten Morgen, Judith. Es tut mir sehr leid, dass ich dich störe.«
»Das muss es nicht. Du würdest mich nicht wecken, wenn es nicht wichtig wäre. Ich habe aber sowieso wach gelegen.«
»Hast du auch Angst, vor der Erde, meine ich?«
»Ja, Kenjiro, ich habe Angst. Sie saßen über ein Jahr lang im Dunkeln fest. Milliarden müssen gestorben sein.«
»Aber es sind nicht die Milliarden, um die du dich sorgst, richtig? Mir geht es nämlich auch so, und das macht mich ganz fertig. Ist das nicht egoistisch?«
Sie fühlt sich hingezogen zu Ken, freundschaftlich. Der Japaner hat so viel mit ihr gemeinsam, obwohl sie in verschiedenen Kulturen aufgewachsen sind. Lisa ist völlig anders als er.
»Ich glaube nicht, dass es egoistisch ist, zumindest, solange wir uns nicht davon lenken lassen«, sagt Judith. »Ich werde alles versuchen, der Erde zu helfen, auch wenn Lisa nicht mehr lebt. Da bin ich sicher.«
»Aus genau diesem Grund komme ich zu dir. Ich hatte einen verrückten Traum, der zu einer ebenso verrückten Idee kristallisiert ist.«
»Das passiert mir leider nie.«
»Mir sonst auch nicht, aber diesmal ist es anders. Ich war in einem Tunnel unterwegs, der immer enger wurde. Ich habe den Kopf eingezogen, dann bin ich auf Knien gekrochen und schließlich gerobbt. Und dann ist mein Körper steckengeblieben.«
»Kein schöner Traum.«
»Bisher nicht. Ich bin beinahe gestorben. Das fand ich so unfair, dass ich es nicht zulassen wollte. Ich bin einfach aufgestanden. Und da war gar kein Tunnel. Es war bloß leerer, dunkler Raum, der mich niedergedrückt hat.«
»Manche Räume können das wirklich.«
»Dann bin ich aufgewacht. An den Traum konnte ich mich noch sehr gut erinnern. An den Tunnel, der kein Tunnel ist. Ich war einmal in einem sehr langen Tunnel, als Wissenschaftler, im Teilchenbeschleuniger am CERN in der Schweiz. Dort erzeugen sie Antimaterie, indem sie das Schwermetall Iridium mit Protonen beschießen. Die Protonen werden zuvor in einem Ringbeschleuniger auf hohe Geschwindigkeiten gebracht. Auf der Erde ist das gar nicht so einfach, weil die Teilchen unterwegs ungestört sein müssen. Man braucht vakuumisolierte Röhren.«
»Dein Tunnel aus dem Traum.«
»Gewissermaßen. Wenn wir das Geschehen nun in den Weltraum verlagern würden, wo sowieso Vakuum herrscht, könnten wir auf die Tunnel verzichten. Wir könnten sogar auf den Ring verzichten. Den benutzt man ja, weil man nicht so eine lange Beschleunigungsstrecke aufbauen kann. Aber es sind viele Millionen Kilometer von den Lagrange-Punkten, wo wir LISA stationieren, bis zur Erde. Wir bräuchten die Protonen bloß entsprechend zu beschleunigen und in Erdnähe auf Iridium prallen zu lassen. Dabei erzeugen sie Antiprotonen, die negativ geladen sind. Sie gliedern sich in den Sonnenwind ein, der sich entlang der Magnetfeldlinien der Erde bewegt. An den Polen treten die Feldlinien in die Erdkugel ein. Was immer sich mit ihnen bewegt, trifft dort zwangsläufig auf die Barriere.«
»Und was passiert mit den Anti-Protonen?«
Judith hat zwar schon eine Ahnung, aber sie will Kenjiro helfen, seinen Gedankengang zu schärfen.
»Ein paar gehen unterwegs verloren, weil sie auf andere Teilchen treffen. Aber manche müssten auf die Barriere stoßen. Sie besteht zwar aus einem exotischen Material, doch auch das besteht im Kern aus Protonen. Antiprotonen werden wegen ihrer negativen Ladung von den positiv geladenen Protonen angezogen. Treffen sie aufeinander, zerstören sie sich gegenseitig rückstandslos. Oder besser gesagt: sie wandeln sich komplett in Energie um. Das kann die Barriere nicht ewig aushalten.«
»Wo wird das passieren?«
»Das können wir steuern. Die Feldlinien treten an beiden Polen in die Erde ein. Aber wenn wir das Iridium in einem geostationären Orbit über dem Südpol platzieren, dürften die meisten Antiprotonen auch am Südpol eintreffen.«
»Und dann entsteht dort ein immer weiter wachsendes Loch?«
»Eher nicht. Am geographischen Südpol befindet sich der magnetische Nordpol. Allerdings nicht genau dort, sondern etwa 9,6 Grad südlich. Die Antiprotonen zielen immer auf den magnetischen Nordpol. Doch der rotiert ja im Tagesverlauf einmal um den geografischen Südpol. Also müsste sich mit der Zeit ein Ring bilden. Und wenn dieser Ring geschlossen ist, hat der Bestandteil der Sphäre innerhalb des Rings keinen Halt mehr und fliegt davon. Es ist, als würden wir ein Ei köpfen. Die Erde wird am Südpol wieder Licht bekommen. Wenn meine Theorie stimmt, müssten wir mit den Antiprotonen eine Fläche mit einem Durchmesser von etwa 2100 Kilometern aus der Sphäre schneiden können. Deshalb würde ich auch den geografischen Südpol wählen, denn nur dort gibt es eine große Landmasse. In Zukunft könnte der Südpol das neue Zentrum der Menschheit werden.«
»Wir könnten mit riesigen Spiegeln das Licht über den gesamten Planeten verteilen«, sagt Judith. »Da die Sphäre so gut reflektiert, könnte man sie dabei sogar einbeziehen.«
»Vieles wäre möglich«, sagt Kenjiro. »Aber alles nur, wenn das nicht nur ein Traum war, sondern eine brauchbare Idee.«
»Danke, Ken, das hoffe ich doch sehr.«
»Ich danke dir, dass du mir zugehört hast. Ich werde die Idee noch ein bisschen durchrechnen und sie dann morgen der Crew vorstellen.«