22.4. 2036, Mars-Schiff ARES
»Also, was ist nun mit eurer großartigen Idee?«
Mike schon wieder. Jonathan ist genervt. Erst lässt er sich tagelang nicht blicken und blockiert dabei eine ganze Kabine für sich. Dann kommt er, um zu meckern.
»Das wird schon«, sagt Yue.
Sie spricht sanftmütig wie immer, aber auf Mike hat das keine Wirkung.
»Es wird ja offenbar nicht«, widerspricht er. »Wir schießen nun schon seit einer Woche auf die Sphäre, und nichts passiert.«
»Kenjiro hat gesagt …«, versucht Yue es weiter, aber Mike unterbricht sie sofort und äfft sie nach.
»Kenjiro hat gesagt, Kenjiro hat gesagt, ist er denn der Physik-Gott persönlich?«
Jonathan legt sein Besteck ab. Er sollte Yue gegen diesen Blödmann verteidigen. Soll er mit ihm diskutieren oder ihm Prügel androhen?
»Er ist jedenfalls kein Arschloch wie du«, nimmt ihm Wayne die Entscheidung ab. »Und wenn du jetzt nicht deine Schnauze hältst, platzt mir ernsthaft der Kragen.«
»Schnauze, Schnauze«, wiederholt Mike in singendem Ton.
Er weiß wohl wirklich nicht, wann es genug ist. Wayne erhebt sich.
»Okay, ich bin ja schon ruhig«, sagt Mike daraufhin, und zwar leiser als zuvor.
Dann schiebt er seinen Teller nach vorn, wirft das Besteck darauf und verlässt die Zentrale.
Die ARES beschleunigt gerade, um etwas Abstand von der Erde zu gewinnen. Das ist eine reine Vorsichtsmaßnahme, die Giordano vorgeschlagen hat. Es wäre ja doch möglich, dass die Sphäre eine Art von Bewusstsein besitzt und sich zu wehren versucht. Da kann eine gewisse Distanz nicht schaden.
Jonathan sieht auf die Uhr. Noch hat er Freizeit, aber in einer Stunde beginnt seine Schicht. Vorher muss er noch Yue eine gute Nacht wünschen. Für sie ist bald Schlafenszeit. Vielleicht hat sie ja Lust, sich von ihm verführen zu lassen. Er lächelt versonnen.
Dann schallt Krach aus den Wänden. Jonathan springt auf. Stimmen in allen möglichen Sprachen reden auf sie ein, klassische Musik, seltsame Piepstöne, statisches Rauschen vermischen sich zu einer schrecklichen Kakophonie. Was ist da los? Dann kommt Atiya in die Zentrale geschossen. Sie hat ein breites Grinsen auf dem Gesicht. Sie sagt nichts, rennt aber schnell zum Hauptrechner und drückt ein paar Knöpfe.
»Wir sind durch!«, ruft sie.
»Was, wir sind durch?«, fragt er.
Was meint sie bloß damit? Und was hatte der furchtbare Lärm zu bedeuten?
»Wir. Haben. Ein. Loch. In. Die. Sphäre. Gebrannt«, sagt Atiya ganz langsam und jedes Wort betonend.
»Waaaas?«
Das kann nicht wahr sein. Er muss sich verhört haben.
»Ich habe die Funkantenne auf den Pol gerichtet, und damit ich nichts verpasse, habe ich ihren Output auf die Lautsprecher gelegt. Tut mir leid, dass es etwas laut war. Ich hatte die Empfindlichkeit natürlich maximal hochgedreht.«
Jonathan springt auf sie zu. Atiya weicht erschrocken zurück. Er breitet die Arme aus, und sie merkt offenbar, was er vorhat.
»Danke, Atiya, das war eine großartige Idee«, sagt er und umarmt sie.
In den folgenden Stunden passiert so viel gleichzeitig, dass er sich später nur noch bruchstückhaft erinnern können wird. Eine Präsidentin Harris meldet sich. Hatten die Vereinigten Staaten nicht bei ihrem Abflug noch einen Präsidenten gehabt? Sie dankt ihnen für den heldenhaften Einsatz und lädt sie zu einem baldigen Besuch ein. Das ist doch noch etwas früh, denkt Jonathan.
Dann ist die Stimme eines Franzosen zu hören, der sich als EU-Kommissionschef Alain Despert vorstellt und ihnen ebenfalls mit leichtem Akzent für ihre glorreichen Taten dankt. Er berichtet außerdem, dass eine Ariane-7 auf einer schwimmenden Startplattform in der Nähe der Antarktis darauf wartet, sie mit Nachschub zu versorgen.
»Sag mal, François, heißt ›Despert‹ nicht so etwas wie ›hoffnungslos‹, wenn mich mein Schul-Französisch nicht trügt?«, fragt Jonathan.
»Nein, das klingt nur so ähnlich. Aber auf Katalanisch heißt es ›wach‹«, erklärt François.
Sogar die Chinesen rufen an. Yue muss sich mit ihnen unterhalten, weil das Englisch des Chefs der Volksarmee so schlecht ist. Sie zeichnen die gesamte Crew mit der höchsten Auszeichnung des Landes aus – eine Ehre, die noch nie zuvor einem Ausländer zuteil wurde.
Über die Zustände auf der Erde informieren sie sich mit Hilfe der zahlreichen Radiosender. Das Fernsehen scheint seine Bedeutung als das Haupt-Nachrichtenmedium verloren zu haben, vermutlich, weil sein Empfang mindestens fünfmal so viel Energie braucht wie ein Radio. Energie ist dort unten die kostbarste Ressource geworden, gefolgt von Nahrung.
Und von den Menschen selbst. Es fehlen Millionen Arbeitskräfte, weil in der ersten Zeit sechs Siebentel der Erdbevölkerung gestorben sind. Sieben Milliarden Tote. Jonathan kann es nicht fassen. Die Zahl ist so abstrakt! Was ist mit all den Menschen geschehen? Wenn sie innerhalb eines Jahres gestorben sind statt innerhalb einer Generation, dann müssen die Friedhöfe übergequollen sein. Unwillkürlich sieht er Leichenberge vor seinem inneren Auge, oder ganze Stadtviertel aus Verbrennungsöfen, die Wärme und Biogas für die Lebenden produzieren. Er schüttelt den Kopf, wieder und wieder, doch die Bilder verschwinden nicht. Es gibt nur eines, das er dagegen tun kann: Er muss nach konkreten Namen fragen. Was ist aus seinen Eltern und seinen Geschwistern geworden? Aber die Antwort könnte schrecklich sein. Und wäre es nicht egoistisch, als erster Bescheid wissen zu wollen? Also traut er sich nicht, die Frage zu stellen.