27.4. 2036, Mars-Schiff ARES
Kenjiro rückt
das Foto auf dem Bildschirm zurecht. Es ist eine Aufnahme, die ihnen der amerikanische Wetterdienst, die NOAA, geschickt hat. Sie zeigt den Bereich der Sphäre, der sich in Richtung der verlängerten Erdachse über der Antarktis befindet. Gerade entsteht dort ein neues Sternbild, das den Namen »Die Schlange« bekommen könnte, wenn es dauerhaft wäre. Fünf Sterne sind in einem 120-Grad-Bogen um den Pol angeordnet. Der Bogen liegt 9,6 Grad vom Pol entfernt.
Natürlich sind das keine Sterne. Es sind Löcher in der Sphäre, wie das erste von den Antiprotonen gerissen, die weiter auf den Magnetpol einprasseln, der sich mit der Erdrotation um ihre Achse bewegt. Es ist, als hätte jemand einen Pizzaroller mit wenigen Zähnen angelegt. Die Hand Gottes oder was immer da zugange ist, hält den Pizzaroller bloß fest, die eigentliche Arbeit erledigt die Erde selbst, die sich unter den Zähnen durchbewegt.
Heute sind es fünf Löcher. Sie strahlen so hell und in alle Richtungen, weil sich das Sonnenlicht an ihren Rändern bricht. Morgen werden es vielleicht sieben sein oder schon elf. Eine exakte Prognose ist unmöglich. Wenn sich der Prozess fortsetzt, wird das Sternbild wieder verschwinden. Es wird einem Phänomen Platz machen, das die Menschen noch nie gesehen haben und das sie nie wieder sehen werden – einer stabilen Lichtspur, einem Kreisbogen, der die Welt über der Antarktis erleuchtet. Und irgendwann wird sich der Bogen zu einem vollkommenen Kreis schließen. Das wird ein Anblick sein, wie er nur wenigen vergönnt ist. Denn er wird nur Millisekunden zu sehen sein. Der Teil der Sphäre innerhalb des Kreises hat dann keinen Halt mehr und wird sich entfernen wie ein Regenschirm, den ein Kind auf dem Kettenkarussell loslässt.
Müssen sie sich Sorgen machen? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Er jedenfalls macht sich dauernd Sorgen. Wenn die Sphäre nämlich schwer und stabil sein sollte, könnte es passieren, dass sie alles zerstört, was ihr im Weg ist. Aber sie kennen ihre Eigenschaften nicht. Es ist unmöglich, sie vorab zu messen. Er grübelt und grübelt, doch ihm fällt kein Weg ein. Vielleicht ist die davonfliegende Kappe nicht gefährlicher als eines dieser Spinnennetze, die im Spätsommer über die Wiesen fliegen. Das Material der Kappe, immerhin das wissen sie, ist ja nur wenige Atomlagen dick und damit dünner als ein Netz aus Spinnenseide.
Es könnte genügen, einen langen Stock hinzuhalten, und die Sphäre wickelt sich bereitwillig darum. Das wäre gut, denn so könnten sie einen größeren Vorrat des Materials gewinnen, das immerhin im irdischen Periodensystem gar nicht vorkommt. Die Geheimdienste würden sich alle Finger danach abschlecken. Kenjiro seufzt. Vermutlich widmet er sich der Kappe nur deshalb so intensiv, weil er nicht über die Frage aller Fragen nachdenken will. Was ist aus seiner kleinen Tochter geworden? Wird er sein Versprechen wahrmachen können, zu ihrem ersten Schultag zurück zu sein?