2.5. 2036, Mars-Schiff ARES
»Frau Rosenberg?
Ich bin es, Marcia.«
Judith bekommt fast einen Schlag, als sie die Stimme erkennt. Sie hatte sich eigentlich entschieden, die Vergangenheit nicht anzurühren, doch nun kommt sie offenbar von selbst zu ihr, in Gestalt von Marcia, dem Kindermädchen, das Lisa nach ihrer Abreise mit Peter und Max geholfen hat.
»Ich hoffe, ich rufe nicht ungelegen an«, sagt Marcia in ihrer unbekümmerten Art. »Es ist gar nicht so leicht heutzutage. Es gibt ja nur noch Festnetz, und die Leitungen sind oft belegt. Dann habe ich gedacht, dass Sie ja bestimmt Mittel und Wege haben, sich bei mir zu melden. Aber Sie haben sich nicht gemeldet. Und dann ist mir eingefallen, dass Sie ja vielleicht gar nicht wissen, wo wir sind.«
»Das stimmt, Marcia, das weiß ich nicht. Ich bin übrigens Judith. Nach all der langen Zeit müssen wir ja nicht mehr so förmlich sein.«
Nachdem du so lange auf meine Kinder aufgepasst hast, denkt Judith, gehörst du ja zur Familie. Vermutlich nennen dich Pete und Max längst Mum. Was ist bloß mit Lisa geschehen? Sie hätte die beiden nicht freiwillig alleingelassen.
»Danke, Judith, das freut mich sehr. Also, wir sind sicher, Peter, Max und ich. Die NASA hat uns am JPL in Pasadena untergebracht. Kannst du dir das vorstellen? Wir leben hier unter lauter Wissenschaftlern in einer geschlossenen Siedlung. Wir haben sogar ein eigenes Zimmer nur für uns drei. Max spielt am liebsten mit einem der alten Mars-Rover, die hier auf dem Gelände herumstehen. Whittaker, der alte Fuchs, hat es verstanden, sie gegen das Recyceln zu schützen. Es gibt da Leute, auch in der Regierung, die wollen alles und jeden recyceln.«
»Na, das ist ja vielleicht auch ganz sinnvoll«, sagt Judith.
»Whittaker sagt, das sind perfekte Kopien der beiden Rover, die wirklich auf dem Mars herumgefahren sind. So schnell wird da ja keiner mehr hinkommen. Da sind das echte Sehenswürdigkeiten. Irgendwann wird man Whittaker noch dankbar sein, sagt er. Ihr seid offenbar auch auf halbem Weg umgekehrt.«
»Nicht ganz auf halbem Weg, eher schon. Holst du mir mal«, Judith sagt es so beiläufig wie möglich, doch ihre Stimme stockt, »die Jungs an den Hörer?«
Die Jungs. Max und Peter. Sie müssen jetzt vier und sechs sein. Nein, Peter ist sieben, er hatte am 30. März Geburtstag. Und sie hat es völlig vergessen. Da waren sie irgendwo zwischen L4-Punkt und Erd-Orbit. Sie bekommt trotzdem ein schlechtes Gewissen.
»Na klar«, sagt Marcia. »Sie sind drüben im Zimmer von Whittaker. Der liest ihnen vor dem Schlafengehen immer etwas vor, seit Lisa nicht mehr da ist. Hier ist schon Abend, weißt du. Peter meint, der Whittaker hätte so eine einschläfernde Stimme, da wären die Geschichten fast so gut wie die von seiner Mum. Also einen Moment bitte.«
Lisa ist nicht mehr da. Judith klammert sich an der Stuhllehne fest. Marcia sagt das ganz nebenbei, also muss es schon lange her sein. Natürlich, sie und die Jungs leben schon lange damit. Sie darf ihre Wunden jetzt nicht wieder aufreißen. Aber für sie ist es neu. Was ist mit Lisa passiert?
Judith hört eine Tür quietschen, dann kommen Schritte näher. Jemand rennt.
»Mum, Mum, bist du das?«, ruft Peter ins Telefon. »Ich bin es, Peter.«
»Ich höre dich, mein Schatz. Ich bin es, deine Mummy.«
»Man sagt hier nicht mehr Mummy, das ist uncool«, sagt Peter.
»Nun lass mich doch auch mal ran«, ruft Max, der Kleinere. »Ich will auch mit Mummy sprechen.«
»Es heißt Mum, nicht Mummy, oder willst du uncool sein?«
»Hallo Max, ich bin hier«, ruft sie. »Du kannst ruhig Mummy sagen. Ich mag Mummy gern.«
»Siehst du, Pete, Mummy mag Mummy. Ich wusste es.«
Wahnsinn. Max spricht schon so … erwachsen. Und Peter geht in die Schule. Sonst stünde er nicht so unter dem Einfluss seiner Freunde und fände Mummy nicht uncool.
»Wie ist es denn bei euch so?«, fragt Judith. »Bekommt ihr genug zu essen?«
»Ja, viel zu viel«, sagt Max.
»Dauernd sollen wir Milch trinken«, sagt Peter mürrisch. »Und wenn ich mich bei Marcia darüber beschwere, sagt sie, Lisa-Mum hätte das festgelegt.«
Lisa-Mum. Das Herz wird ihr schwer.
»Wenn Lisa-Mum das gesagt hat, solltet ihr euch dran halten.«
»Aber Mum, auf dem Zettel von Lisa-Mum steht gar nichts von Milch, das habe ich herausgefunden. Ich lerne doch jetzt lesen. Ich glaube, Marcia will uns mit Milch vergiften. Und sie weigert sich, Lisa-Mum mit uns anzurufen, damit ich mich nicht beschweren kann.«
»Gibst du mir mal Marcia, mein Herz, bitte?«
»Sagst du ihr das mit der Milch, oder dass sie mit uns Lisa-Mum anrufen soll?«
»Ich spreche mit ihr darüber.«
»Danke, Mummy.«
Die arme Marcia. Sie wird mit den Kindern über das sprechen müssen, was mit Lisa geschehen ist.
»Ja, Judith?«
»Wegen Lisa-Mum …«, beginnt sie.
»Ja, Peter fordert jeden Tag, dass ich sie anrufe. Aber das geht doch nicht. Sie ist seit vier Wochen im Einsatz, in der Antarktis. Wenn ihr es schafft, ein Loch in die Sphäre zu brennen, soll sie an Bord einer europäischen Ariane-Rakete zu euch fliegen. Hat dir das noch keiner gesagt? Bitte erkläre Peter, dass er damit aufhören soll.«
»Das wusste ich nicht.«
Sie hat aber auch nicht gefragt. Lisa lebt. Sie schließt die Augen und hält sich die Hände vor das Gericht. Es ist so … unglaublich, als wäre ihre Frau von den Toten auferstanden.
»Marcia? Ich danke dir von ganzem Herzen für den Anruf. Das war eine großartige Idee. Bitte gib den beiden Jungs einen Kuss von mir. Ich beeile mich, damit ich bald wieder bei euch sein kann. Aber jetzt muss ich das alles erst einmal in Ruhe verarbeiten.«
Sie beendet die Verbindung. Dann schlägt sie mit den Fäusten auf ihr Kissen ein, bis der Staub stiebt. Sie ist so wütend, auf sich selbst, auf die Sphäre, auf die Erde und auch auf Lisa, und zugleich ist sie unendlich glücklich.