10.5. 2036, Mars-Schiff ARES
»Achtung,
es tut sich etwas bei der Kappe«, meldet sich Atiya über den Rundruf.
Sie hat sich jetzt seit drei Tagen mit Giordano am Teleskop abgewechselt. Der Ring, den die Antiprotonen in die Sphäre gestanzt haben, war schon seit etwa 75 Stunden komplett gewesen, aber es muss so lange noch kleine Stege gegeben haben. Dass diese im Teleskop nicht erkennbaren Brücken das Ablösen der Kappe bisher verhindert haben, spricht eigentlich dafür, dass sie nicht so schwer und gefährlich ist wie befürchtet.
»Die Ausrichtung der Erdachse ist gerade ungünstig«, sagt Kenjiro.
»Für wen?«
»Für den Mond, Kommandantin. Wenn sich die Kappe innerhalb der nächsten 180 Sekunden löst, besteht ein gewisses Risiko, dass sie auf dem Mond einschlägt.«
Das Szenario haben sie schon mehrfach durchgesprochen. Je nach Masse der Kappe könnte der Treffer den halben Mond wegsprengen, einen Krater samt Mondbeben verursachen oder bloß etwas Staub aufwirbeln. Judith beißt sich auf die Unterlippe.
»Gibt es eine aktuelle Prognose zu den Auswirkungen?«, fragt sie.
»Wenn ich mir Atiyas letzte Fotos des Rings ansehe, tippe ich auf einen eher sanften Treffer«, sagt Kenjiro. »Der Mond insgesamt ist sicher nicht gefährdet. Der Krater dürfte höchstens 50 Kilometer groß werden. Wenn das Ding in der Nähe des Südpols aufschlägt, war es das aber mit der Basis.«
Mist. Auf die Flugbahn der Kappe haben sie fast keinen Einfluss. Fast, das ist der Haken. Sie könnten die ARES so steuern, dass sie mit dem Rand der Kappe kollidiert. Der Impuls, wenn er auch klein wäre, könnte die Kappe in Rotation versetzen und ihre Bahn so verändern, dass sie am Mond vorbeifliegt.
Die Besatzung der ARES würde das allerdings kaum überleben.
Deshalb ist es auch nur die allerletzte Option. Ein Verlust der Mondbasis, das hat ihr heute morgen noch einmal die CIA-Direktorin in ihrer charmanten Art zu verstehen gegeben, würde die Menschheit deutlich zurückwerfen. Alison hat es sogar in Menschenleben umgerechnet – und kommt über die nächsten zwanzig Jahre auf eine sechsstellige Zahl, denn der Mond könnte dann weniger Ressourcen liefern. Nach ihrer utilitaristischen Ethik wäre das Opfer der ARES also auf jeden Fall sinnvoll. Die Ariane 7 der ESA könnte dann eine neue Besatzung zum Mond bringen.
Judith stellt sich vor, wie Lisa in der Ariane-Rakete an den ARES-Trümmern vorbeifliegt. Nein, das ist überhaupt keine Option. So kann »Sie sind mir etwas schuldig« nicht gemeint gewesen sein. Oder hat sie dann wirklich all die Menschen auf dem Gewissen, nur weil sie die Zerstörung der Mondbasis nicht verhindert hat? Wird sie sich diese Frage Jahr um Jahr erneut stellen? Sie kratzt sich am Handrücken. Lisa würde ihr jetzt die Aloe-Vera-Creme reichen.
»Gibt es neue Daten, Atiya?«
Die anderen wissen, dass gerade ihr Leben auf dem Spiel steht. Sie haben Judith trotzdem die Entscheidung überlassen. Niemand hatte an ihrer Stelle sein wollen, nicht einmal Mike, obwohl sie den Posten freiwillig geräumt hätte.
»Ja, aber leider uneindeutig.«
»Danke. Bitte melde dich, sobald es klarer wird.«
Die Prognose ist wirklich schwierig, selbst für die erfahrene Astronomin. Die Kappe nimmt ja keine gerade Bahn, das wäre gar nicht möglich. Wegen der doch relativ großen Entfernung zum Mond können geringe Abweichungen jetzt zu sehr großen Unterschieden führen, wenn die Mondbahn erreicht ist.
»Die Erde meldet übrigens große Begeisterung allerseits«, sagt François. »Erstmals ist es wieder über einer größeren Landmasse richtig hell geworden.«
»Dann haben sie ja Pech, dass über der Antarktis bald der Süd-Winter hereinbricht«, sagt Kenjiro.
»Ich glaube, ich habe etwas für euch«, sagt Atiya.
»Das ging ja schnell. Was ist los?«, fragt Judith.
»Die Kappe hat einen alten geostationären Satelliten getroffen. Dabei hat sie sich eine deutliche Beule zugezogen.«
»Kenjiro, kannst du damit etwas anfangen?«
»Moment, Judith.«
So ein Satellit wiegt vielleicht eine Tonne. Wenn das genügt, um die Kappe einzubeulen, dann ist sie zwar zäh, aber in sich nicht sehr stabil.
»Okay, das sieht gut aus«, meldet sich Kenjiro. »Unsere Kappe erinnert nach ihrer Ablösung wohl eher an ein im Wind davonflatterndes Taschentuch als an ein massives Objekt. Unter diesen Umständen dürfte eine Gefährdung der Basis ausgeschlossen sein. Dann wäre es sogar ein Glücksfall, wenn die Kappe auf dem Mond landen würde. So könnten wir das wertvolle Material bergen.«
Judith ist froh, einfach nur froh. Sie wird die Jungs und Lisa wiedersehen. Mehr kann sie sich gar nicht wünschen.