16.6. 2036, Mond-Basis Unity
»Nun ras doch nicht so«,
sagt Maxim.
»Lass mir doch auch ein bisschen Spaß«, antwortet Wayne. »Wenn wir die Kappe heute noch finden, bist du umso schneller zurück bei deiner Irina.«
Maxim lächelt versonnen. Vielleicht haben sie in den letzten Tagen ein bisschen zu viel geturtelt. Sie haben das Mare Imbrium, das Regenbogenmeer, schon fast durchquert. Im Norden sind schon die Hänge der Montes Alpes zu erkennen, der Mond-Alpen. Die Kappe, das Material, das noch vor sechs Wochen den Südpol der Erde abgeschirmt hat, soll hier irgendwo gelandet sein, kurz vor der Regenbogenbucht, der Sinus Iridum.
Maxim sieht nach hinten. Die Spur des Rovers ist sehr gut zu erkennen. Die Sonne beleuchtet die von den Reifen des Rovers aufgeworfene Staubwolke, die hartnäckig über der Spur schwebt. Sie wird noch nach Tagen sichtbar sein.
Langsam wird es heller. Die Erde geht gerade auf. Sie strahlt noch immer so hell wie eine zweite Sonne, denn über dem größten Teil ihrer Oberfläche reflektiert die Sphäre weiterhin das Sonnenlicht. Gerade geht der Bogen über Antarktika am Horizont auf. Dort ist ein brauner Fleck zu sehen. Das ist alles, was von den ehemaligen Eismassen geblieben ist. Schade eigentlich, dass sie nicht den Nordpol freigeräumt haben, dann könnten sie jetzt wieder ein bisschen blaues Wasser sehen. Aber für die Erdbewohner ist es natürlich besser so. Angeblich gibt es schon Streit um die Aufteilung des antarktischen Kontinents.
»Hast du eigentlich eine Ahnung,
wie die Kappe aussieht?«, fragt Wayne nach einer weiteren Stunde.
»Ehrlich gesagt nicht.«
»Wir werden also keinen neuen Berg hier aufragen sehen oder so etwas?«
»Eher nicht. Das Material muss relativ flexibel sein.«
»Also eher ein großes Knäuel, das hier irgendwo herumliegt?«
»Tja, oder ein kleines. Keine Ahnung. Wir müssen nach allem Ausschau halten, das nicht hierher gehört. Die Oberfläche reflektiert stark, das ist alles, was wir wissen.«
»Das hilft uns bloß nicht, wenn wir gerade im Schatten unterwegs sind.«
Das hat Wayne gut beobachtet. Die Sonne steht so tief, dass die Alpen sehr lange Schatten werfen. Die Scheinwerfer leuchten den Weg vor ihnen aus.
»Vielleicht sollten wir eine Pause einlegen.«
»Mensch, Maxim, auf eine weitere Nacht Camping mit dir habe ich wenig Lust.«
»He, ist es nicht schön, mit mir zu kuscheln? Jetzt bin ich aber beleidigt.«
»Bleib mir bloß vom Leibe«, sagt Wayne und lacht.
Zwei, drei Nächte werden sie wohl noch in dem engen, aber luftdichten Zelt verbringen müssen. Selbst wenn einer schläft, während der andere fährt, haben ihre Körper doch Bedürfnisse, für die sie wenigstens alle 24 Stunden aus dem Anzug steigen müssen.
Maxim sieht wieder nach hinten. Jetzt, im Schatten, verschluckt die Dunkelheit die Mondlandschaft schon nach wenigen Metern. Er beleuchtet mit der Helmlampe die Spur. Irgendetwas stimmt nicht. Er holt sich das Bild von vorhin ins Gedächtnis. Über der doppelten Spur der Räder hatte eine Staubwolke gehangen. Und jetzt fehlt sie. Er dreht die Helmlampe hin und her. Sie wirbeln keinen Staub mehr auf.
»Halt doch mal an«, sagt er.
»Was ist los? Musst du mal austreten?«
»Witzbold. Ich habe etwas entdeckt.«
Wayne stoppt den Rover und leuchtet mit seiner Helmlampe nach vorn und zu den Seiten.
»Hier ist doch nichts«, sagt er.
»Ja, für das, was nicht hier ist, interessiere ich mich gerade.«
»Hä?«
Maxim springt ab. Seine Füße sinken ein bisschen in den Mondstaub ein. Alles ist wie immer – bis auf die Tatsache, dass überhaupt kein Staub aufwirbelt.
»Probier mal«, sagt er.
Wayne springt ebenfalls ab.
»Alles wie immer.«
Maxim leuchtet auf Waynes Stiefel.
»Du solltest dir mal den Staub abwischen.«
Wayne bückt sich und wischt an den Stiefeln herum.
»Da ist überhaupt keiner.«
»Siehst du! Unser Rover zieht keine Staubfahne hinter sich her, und obwohl wir mitten im Staub stehen, bleiben unsere Stiefel sauber.«
»Das Mare Imbrium? Vielleicht ist der Staub hier irgendwie speziell?«, fragt Wayne.
Maxim hat eine Idee.
»Gib mir doch mal eine Handvoll.«
Wayne bückt sich erneut, um mit der Hand in den Staub zu greifen. Aber er schafft es nicht. Etwas hält seine Hand davon ab, den Boden zu berühren. Dann richtet er sich auf.
»Das ist verrückt«, sagt er. »Wir suchen und suchen, aber in Wirklichkeit stehen wir längst darauf. Und nun?«
Jetzt fahren wir langsam zurück, bis wir an den Anfang der Fläche kommen, und dann rollen wir einfach ein, was von der Kappe übriggeblieben ist. Die Forscher auf der Erde werden uns auf Knien danken.«
»Und wie merken wir, dass wir am Rand angekommen sind?«
»Sobald der Rover wieder Staub aufwirbelt, haben wir das Ziel erreicht.«
»Hau-ruck!«
Auf Waynes Kommando ziehen sie mit aller Kraft. Aber es passiert nichts. Sie probieren es noch ein paarmal.
Maxim richtet sich auf und drückt das Kreuz durch.
»Der Plan war einfach, aber erfolglos«, sagt er.
»Kenjiro hat es dir ja vorhergesagt.«
»Ja, er hat wie immer recht behalten. Das Ding ist dann doch zu schwer für uns beide.«
»3 Millionen Quadratkilometer, fast ein Zehntel der gesamten Mondoberfläche, Ken hat es dir doch vorgerechnet. Selbst wenn der Stoff nur wenige Atomlagen dick ist, ergibt das mehr, als wir zwei über die Grenze der Haftreibung hinaus bewegen können.«
»Probieren geht über studieren. Wir kennen die Haftreibung des Materials ja nicht. Vielleicht ist sie ganz niedrig.«
»Also dass ich dir das mal vorwerfen darf, Max – du denkst nicht mit. Wenn die Haftreibung so niedrig wäre, könnten wir darauf gar nicht laufen, es würde uns dauernd auf die Schnauze werfen.«
»Jahaaa. Ich darf ja wohl auch mal einen Fehler machen.«
»Deine Frau lenkt dich wohl zu sehr ab.«
»Außenteam an Basis,
bitte kommen.«
»Irina hier, was gibt es, Maxim?«
»Wir haben die Kappe ausfindig gemacht, können sie aber nicht selbst bewegen.«
»Kenjiro hat mir schon angekündigt, dass du das sagen würdest. Er entwirft gerade eine Maschine, die diese Arbeit übernehmen kann.«
»Wie lange braucht ihr, um uns die Maschine herzubringen?«
»Etwa zwei, drei Monate.«
»Dann bittet das Außenteam hiermit um Erlaubnis, so lange in die Basis zurückkehren zu dürfen.«
»Erlaubnis erteilt. Ausnahmsweise.«
»Dann los,
steig auf, Maxim!«
»Jetzt warte doch mal.«
»Ich würde ungern noch ein weiteres Mal in den Anzug scheißen müssen.«
»Wir haben über ein Jahr lang mit der Sphäre gekämpft. Willst du sie nicht mal aus der Nähe betrachten?«
Wayne stöhnt. »Eigentlich nicht. Aber ich will nicht so sein. Du hast fünfzehn Minuten, Genosse Kommandant.«
»Und wenn ich länger brauche?«
»Dann beschwere ich mich bei deiner Frau, dass du mich unsittlich berührt hast.«
»He, du wolltest es doch, ich habe es genau gehört.«
»Genug gescherzt. Sieh dir die verdammten Reste der Sphäre an, und dann fahren wir endlich zurück.«
Maxim setzt
sich in den Staub. In den richtigen Staub, dort, wo er aufwirbelt, wenn man Kraft auf ihn ausübt. Dann tastet er so lange auf dem Boden herum, bis seine Finger die Staubschicht nicht mehr berühren. Er hat also den Rand der Kappe erreicht. Maxim dreht den Kopf und leuchtet den Stoff aus verschiedenen Richtungen an. So sieht er hellweiß aus, genau wie das Licht der Helmlampe. Das Zeug reflektiert besser als jeder andere Stoff.
Er fährt von der Seite mit den Fingern unter den Rand. Dann hebt er die Hand. Er zieht, so stark er kann, aber er kann den Stoff nur um zwei, drei Zentimeter anheben. Er befühlt ihn zwischen Daumen und Zeigefinger. Es ist ein Hauch von einem Nichts. Die Staubkrümel an seinen Fingern sind hundert Mal so dick. Er legt sich auf den Bauch und platziert die Helmlampe neben seinem Kopf, so dass sie wie seine Augen genau auf den Rand des Stoffes zeigt. Es ist absolut nichts zu sehen. Aber sie ist da, dünner als jede Folie. Er nimmt etwas Mondstaub in die rechte Hand und lässt ihn von oben auf den Stoff rieseln. Der Staub scheint einfach in der Luft liegen zu bleiben, so dünn ist das Material. Das ist wirklich faszinierend.
»Maxim?«
»Ja, gleich, Wayne.«
Er rückt noch etwas näher heran und lässt noch einmal Staub rieseln. Die winzigen Krümel bewegen sich nach unten, von der Gravitation des Mondes angezogen. Aber kurz, bevor sie auftreffen, werden sie mit einen Mal langsamer. Sie bleiben nicht einfach liegen, sie bremsen ab. Das ist cool! Ein solches Verhalten hat Maxim noch nie gesehen. Ist die Folie vielleicht statisch geladen und stößt den Staub deshalb ab? Er erdet sie mit Hilfe des Funkgeräts, das eine Metallhülle besitzt. Dann wiederholt er den Versuch. Erneut bremsen die Staubkörner, bevor sie ganz zur Ruhe kommen. Die Sphäre wird immer rätselhafter. Er muss unbedingt Kenjiro davon berichten. Hat der Beschuss vielleicht deshalb so lange gedauert? Ist es eine Art Abwehr-Einrichtung? Aber dafür ist der Effekt zu gering. Die Staubkörner landen dann ja doch auf dem Material. Sie bremsen nur vorher. Entweder, die Folie besitzt eine Art Anti-Gravitation, oder sie kann den Zeitverlauf für die Staubkörner bremsen. Unmöglich ist beides. Soll doch Kenjiro dieses Problem lösen, wenn er kann.
»Wayne? Wir können abfahren«, sagt Maxim.