Leseprobe: The Wall – Ewige Nacht
Prolog: 2. Januar 2034, USS Jeremy Brandt, nördliche Celebessee
»Sir, wir haben hier eine Nachricht von der NASA.«
Captain John Dillinger rollte mit den Augen und erhob sich von seinem Sitz auf der Brücke, um dem Specialist an der Kommunikationskonsole über die Schulter zu blicken.
»Was wollen die Eierköpfe denn schon wieder von uns?«
»Sie haben im LEO ein Objekt aufgezeichnet, das sich mit hoher Geschwindigkeit unserem Operationsradius nähert«, meldete Specialist Cooper und deutete auf die Telemetriedaten, die unter dem Siegel der NASA eingeblendet wurden. »Acht Meter lang, einen Meter breit. Nach der von der NASA berechneten Trajektorie müsste das Objekt in wenigen Minuten auf dem AMDR auftauchen.«
»Das ist doch wieder einer ihrer kleinen Meteoriten«, schimpfte Dillinger und rupfte sich seine Baseball Cap mit der Aufschrift Navy vom Kopf. »Die hätten wenigstens bis zur Nacht warten können, dann hätten wir immerhin eine Sternschnuppe zu sehen bekommen.«
»Negativ, Sir«, widersprach der Specialist vor ihm und schüttelte den Kopf. Er wirbelte mit den Fingern über seine Touch-Konsole und die Anzeige wechselte auf einen unüberschaubaren Wust an Datensätzen, die als Diagramme, Listen und Vektoren interpretiert wurden. »Das Objekt besitzt eine elektronische Signatur – schwach nur, aber für die Weltraumheinis messbar.«
Dillinger horchte auf, genau wie der Rest der Brückenbesatzung, die schlagartig in ihren vereinzelten gedämpften Nebengesprächen innehielt.
»Wieder ein Raketentest der Nordkoreaner?«, fragte er alarmiert, doch zu seiner Erleichterung schüttelte der Specialist auch hier den Kopf.
»Ich weiß es nicht, Sir.«
»Burke, haben Sie was auf dem Schirm?«, fragte Dillinger und sah zu der jungen Kadettin an der Luftüberwachung herüber.
»Aye, Sir! Die ersten Daten des Air and Missile Defense Radar kommen herein. Die Radarabstrahlung entspricht in etwa den Daten der NASA.«
»Und?«
»Keine ICBM, Sir«, meldete sie und ein Raunen der Erleichterung ging durch die Brücke. Eine weitere Testrakete aus Nordkorea hätte ihn in eine schwierige Lage gebracht, so kurz vor seiner Pensionierung.
»Sind Sie sicher, Kadett?«
»Aye, Sir. Das Objekt wird langsamer.«
»Es bremst?«
»Aye. Sie müssten es mit dem Feldstecher bereits sehen können, vier Strich Nordost.«
Dillinger schritt zwischen den Soldaten an ihren Konsolen vor den Frontscheiben der Brücke und seinen Offizieren auf den Sitzen dahinter hindurch und schnappte sich vor der Tür zum äußeren Treppenabgang einen Feldstecher von der Wandhalterung. Als er die Tür öffnete, schlug ihm sofort die schwüle Tropenluft des Äquators entgegen. Sie war so dick, dass er das Gefühl hatte, Wasserdampf einzuatmen und ihm brach unvermittelt der Schweiß aus.
Vielleicht eine dieser neuen Suborbitaldrohnen der Chinesen? Er hob den Feldstecher mit elektronischer Vergrößerung an die Augen und suchte den tiefblauen Himmel ab, vor dem vereinzelte Wolken dahinzogen wie eine Herde besonders träger Schafe.
»Weiter östlich, Sir«, ertönte neben ihm die Stimme seines Adjutanten Lieutenant Solheim. Dillinger ließ von seinem Feldstecher ab und sah zu dem blonden Offizier, der ihm mit ausgestreckter Hand in recht steilem Winkel die Sichtrichtung wies. »Habe gerade die genaue Peilung abgelesen.«
»Ah.« Auf diese Idee hätte er selbst kommen sollen, bevor er sich auf die kleine Kanzel des Treppenabgangs begeben hatte. Mittlerweile störten ihn diese kleinen Hinweise darauf, dass er genau wie sein Schiff zu den Auslaufmodellen der Navy gehörte, nicht mehr besonders. Er würde bald jungen Kadetten an der Flottenakademie erklären dürfen, wie man noch mit Lineal und Bleistift Kurse berechnete und dafür war jeder dieser Hinweise ein Ritterschlag – zumindest versuchte er, sich das einzureden.
Dillinger suchte den Himmel ab, zog konzentrische Kreise mit den beiden runden Bildausschnitten vor seinen Augen und zoomte vorsichtig mit dem kleinen Rad unter seinem rechten Zeigefinger. Dann, zwischen zwei watteweißen Wolken, sah er es: Erst nur die Reflexion der Sonne, die von der Elektronik des Feldstechers abgeschwächt wurde, dann mit genügend Zoom ein kegelförmiges Objekt. Einen Atemzug später erwachte vor seinem Bug eine kleine Sonne.
»Ein neuer Bremsschub«, dachte er laut.
»Was denken Sie, Sir?«
»Ich denke, dass wir hier sind um dafür zu sorgen, dass der Vertrag von Incheon eingehalten wird. Wenn die Chinesen meinen, dass sie uns mit ihrer neuen Tech hier draußen provozieren können, haben die sich geschnitten.«
»Denken Sie wirklich, dass die Chinesen ...«, wollte Solheim einwenden, doch Dillinger unterbrach ihn, indem er dem jungen Mann seinen Feldstecher gegen die Brust drückte.
»Ja, das denke ich. Die provozieren uns doch ständig mit neuen Manövern und Waffentests. In der Politik kooperieren wir, aber mit den Säbeln wird trotzdem ständig gerasselt, damit der andere auch ja spurtet. Das da«, er deutete ohne hinzusehen in die ungefähre Richtung des Objekts, »ist eine Suborbitaldrohne, sonst hol mich der Teufel.«
»Aye, Sir.« Solheim nickte, nahm Dillingers Feldstecher von seiner Brust und blickte dann selbst hindurch. »Entfernung zwanzig Meilen. Oh, ich glaube Sie haben recht, Sir.«
»Was ist los?«
»Es hat gerade vier Flügel ausgefahren oder ausgeklappt.«
Dillinger riss seinem Adjutanten den Feldstecher weg und sah selbst nach. Tatsächlich hatte sich die raketenförmige Drohne in ein kleines Flugzeug verwandelt. Vier Flügel – erstaunlich großflächig und lang für den eher schmalen Rumpf des Objekts, brachten es in eine neue Flugbahn, die jetzt nicht mehr steil nach unten zeigte, sondern in einen flachen Vektor, genau in Richtung seines Schiffes.
»Aegis aktivieren, volle Gefechtsbereitschaft!«, rief er, ohne zu zögern, und konnte spüren, wie sich Solheim neben ihm versteifte. »Machen Sie schon, Mann!«
»Aye, Sir«, bestätigte der Lieutenant schrill und lief durch die Tür zurück auf die Brücke. Dillinger sog noch einmal die Seeluft ein und blickte mit seinen eigenen Augen nach vorne. Vorne unter ihm brach der spitz zulaufende Bug des Lenkwaffenzerstörers die Wellen der tiefblauen Celebessee zwischen den Philippinen und Indonesien. Die graue Bemalung der USS Jeremy Brandt reflektierte die erbarmungslos auf sie herabbrennende Sonne stark genug, dass er die Augen zusammenkneifen musste, doch er konnte natürlich nichts erkennen, obwohl er in genau die Richtung blickte, aus der die Drohne auf sie zuschoss. Einen Herzschlag später gellte der Gefechtsalarm durch sein Schiff.
Eine Woche vor meiner verdammten Pensionierung, dachte er und schüttelte den Kopf. Die Patrouillenfahrten in diesem Seegebiet wurden zweiwöchentlich von chinesischen, japanischen, europäischen und amerikanischen Kriegsschiffen übernommen, um die neuen Ölfelder zu schützen, die für so viel Reibung zwischen den von den USA unterstützten Philippinen und dem von China protegierten – oder halb aufgekauften – Indonesien gesorgt hatten. Ein langweiliger, einfacher Job, da alle Beteiligten erleichtert waren über die gütliche Beilegung des diplomatischen Ärgers mit dem Vertrag von Incheon. Zumindest bisher.
Und jetzt das.
Als er auf die Brücke zurückgekehrt war, bellte er: »Meldung!«
»Objekt nähert sich mit etwa vierhundert Meilen pro Stunde, Sir«, meldete Burke vom Radar. Ihre Stimme hatte den Ton zackiger Professionalität angenommen, wie es nur eine heraufziehende Drucksituation vermochte.
»Kurs stabil?«
»Aye, Sir. Bogey hat den Kurs angepasst und hält direkt auf uns zu.
»Zielerfassung?«
»Aegis Kampfsystem hat das Ziel erfasst, Sir«, meldete sein Feuerleitoffizier, Lieutenant Myers von seiner Konsole bei der Tür.
»Sir!« Die Stimme gehörte Specialist Cooper. »Bogey sendet über Funk!«
»Was?«
»Ich weiß es nicht, Aegis hat die Störsender aktiviert. Das Signal hat etwa eine Minute angehalten, bevor es geschreddert wurde.«
»Distanz?«
»Sechzehn Meilen, Sir!«, rief Burke.
»Störsender abschalten, Funkverbindung aufbauen.«
»Aye, Sir.« Cooper gab ihm einen Wink und Dillinger schnappte sich das Funkgerät mit der Spiralkordel von der Decke über seinem Kommandantensitz.
»Wollen wir doch mal sehen, ob da jemand zuhört. Hier spricht Captain John Dillinger vom Zerstörer USS Jeremy Brandt der United States Navy. Ihre Anwesenheit verstößt gegen Paragraf Zwei des Vertrags von Incheon. Drehen Sie bei und verlassen Sie unverzüglich dieses Seegebiet in nordöstlicher Richtung. Dies ist Ihre einzige und letzte Warnung.« Er klinkte das faustgroße Funkgerät wieder in seine Halterung zurück und sah durch die Brückenfenster. Er meinte, in der Ferne eine helle Reflexion zu erkennen.
»Keine Reaktion, Sir. Objekt hält Kurs bei, sendet immer noch.«
»Gut. Störsender wieder aktivieren. Holen Sie den Vogel vom Himmel, Lieutenant Myers!«, befahl Dillinger und trat ein wenig näher hinter die Soldaten an den Konsolen, um besser aus den Fenstern sehen zu können.
»Startrampe Eins: Feuert!«
Dillinger sah zu, wie sich unter ihnen zwischen Brückenaufbau und Bug der rechte Mehrfachraketenwerfer blitzschnell nach vorne ausrichtete. Dann ruckte eine der quadratischen Klappen nach außen und eine rasch anschwellende Rauchwolke wallte um den Waffenaufbau herum, aus dem sich eine längliche Rakete schälte. Ihre Abgasfackel leuchtete grell auf und als sie rasend schnell nach vorne schoss, war das Zischen selbst auf der Brücke noch ohrenbetäubend.
»Sea Sparrow hat das Ziel erfasst. Splash in dreißig Sekunden.«
Die RIM-162 Evolved Sea Sparrow Missile jagte wie der Blitz selbst davon, kippte nach vorne, gewann rasch an Höhe und wurde schnell so klein vor dem Horizont, dass Dillinger nur noch den leuchtenden Abgasschweif sehen konnte.
»Zehn, neun, acht, sieben ... warten Sie«, unterbrach sich Myers selbst.
»Was?«
»Die Sea Sparrow hat die Zielerfassung verloren und ... jetzt habe ich den Kontakt zur Sea Sparrow verloren!«
»Was haben die uns da auf den Hals gehetzt?«, murmelte Dillinger und begann sich über die Lippen zu lecken. »Distanz und Geschwindigkeit?«
»Geschwindigkeit reduziert sich, Distanz acht Meilen. Aegis hat den Bogey immer noch erfasst.«
»Zweitrangig«, kommentierte Myers von seinem Platz des Feuerleitoffiziers. »Gleich wird R2-D2 Hackfleisch aus dem Ding machen.«
Zustimmendes Gekicher breitete sich unter den zehn anwesenden Soldaten aus. Dillinger schüttelte den Kopf. Nur unerfahrene Matrosen machten ihrer Nervosität mit solchen Äußerungen Luft. Da die Nahbereichsverteidigung autonom mit eigenem Radaraufbau agierte und nicht auf die vernetzte Zielerfassung von Aegis angewiesen war, brauchten sie jetzt nur noch warten, da die Drohne den Zielbereich der Luftabwehrraketen unterschritten hatte.
Er ging zurück nach draußen und packte mit beiden Händen die vordere Reling. Er konnte die Drohne jetzt mit bloßem Auge zwei Strich nordöstlich auf sich zukommen sehen, als die beiden vorschiffs installierten Phalanx CIWS Gatlingkanonen zum Leben erwachten. In der Navy trugen sie den Spitznamen R2-D2, weil die sechs kreisförmig angeordneten Rohre mit ihrer riesigen Munitionstrommel unter einer großen Radarhaube angebracht waren, die aussah wie ein umgestülpter Mülleimer.
Die beiden Phalanx rotierten blitzschnell auf ihrem Waffenturm nach vorne, richteten sich dann ruckartig nach oben aus und schlagartig wurde es ohrenbetäubend laut.
Einhundert 20mm panzerbrechende Vollmantelgeschosse lösten sich aus den rotierenden Rohren der M61 Vulkan und rasten der Drohne mit einer Mündungsgeschwindigkeit von eintausendfünfzig Metern pro Sekunde entgegen. Das Surren, das sie dabei erzeugten, hinterließ ein hohes Fiepen in Dillingers Trommelfellen, und doch war es Musik für seine alten Navyohren.
Es dauerte weniger als drei Sekunden und die Drohne ging in der Ferne als schimmernder Schauer aus Trümmerteilen und Schrapnellen in die Wellen nieder. Die beiden Phalanx-Systeme zogen ihre Kanonen wieder ein und fuhren artig in ihre Ausgangsposition zurück, als wäre nichts gewesen und plötzlich war es wieder ruhig. Von der Brücke drangen Jubelrufe an seine Ohren.
»Wenn ihr schon euren Scheiß aus Peking rüberschickt, dann macht eure Rechnung nicht ohne die Phalanx«, sagte Dillinger vor sich her und grinste zufrieden, bevor er die Tür aufzog und auf die Brücke zurückkehrte. »Meldung an die Einsatzleitung. Abschuss eines unbekannten Bogeys. Sämtliche Aufzeichnungen übermitteln. Vergessen Sie die Zeitstempel nicht.«
Kapitel 1: Made. 10. Januar 2035, Taman Nasional Bunaken, indonesische Celebessee
Made lenkte den Außenborder seines Bootes an dem südlichen Zipfel der östlichen Bunaken vorbei und spähte über das kleine Holzhorn weiter vorne am Bug hinweg. Die See lag ruhig da, glänzte friedlich im ersten Sonnenlicht des Tages und war vor allem frei von anderen Booten. Das bedeutete weniger Konkurrenz und keine Küstenwache, die ihn aus den geschützten Gewässern des Nationalparks vertreiben oder ihn gar festnehmen könnte.
In der Nähe der langen weißen Strandlinie der Ostinsel sah er die vielen Pfahlbauten der Luxushotels, die hier seit den Neunzigerjahren vorherrschten – weit ins Meer gebaute Kuben aus dunklem Holz, das im Regenwald von Sumatra gerodet worden war, wo sich jetzt eine Palmölplantage an die andere reihte. Jeden Freitag, wenn er seinen meist spärlichen Fang nach dem zweiten Morgengebet auf dem Marktplatz in Manado verkaufte, sah er die großen Transportschiffe mit den wuchtigen Baumstämmen anlegen und ihre eigentlich illegale Ware verladen.
Die gut vernetzten Hotelbesitzer durften hier im Nationalpark ihre Luxusresorts bauen, aber er durfte hier natürlich nicht fischen. Die Gründe dafür waren recht einfach: Er war Fischer, das bedeutete weder Verbindungen, noch genügend Geld, um die Küstenwache bestechen zu können.
Made konnte beinahe schon die ersten hellhäutigen Gestalten erkennen, die sich auf den Terrassen vor den Luxusbungalows im Wasser sonnten, also drehte er schnell bei und atmete erleichtert auf, als das Resort hinter einer kleinen Landzunge verschwand. Er fragte sich nicht zum ersten Mal, warum die Touristen so früh auf den Beinen waren. Hätte er jemals Urlaub gemacht, würde er wohl nicht vor Mittags aufstehen. Aber vielleicht hatte er diese Fantasie auch nur, weil sein Wecker täglich um vier Uhr nachts klingelte. Er hatte einmal gehört, dass Westler erst um zehn Uhr morgens zur Arbeit gingen und dann auch nur für vier Stunden. Er selbst hielt das für ein Märchen und glaubte nicht, dass sie so viel arbeiten mussten. Wer würde vier Stunden am Tag arbeiten, wenn er so viel Geld hätte? Immer genügend zum Essen und Bildung für seine Kinder?
Sein Sohn Rudy und seine Tochter Binta würden es vielleicht irgendwann herausfinden, wenn er sie zu ihrem Onkel nach Jakarta schicken konnte. Dort war es ja beinahe wie im Westen, zumindest hatte er das gehört. Bulan, sein älterer Bruder, hatte es dort immerhin zum Gebrauchtwagenhändler gebracht und wohnte in einem Haus mit fließendem Wasser und Strom. Er würde schon wissen, welchen Weg seine beiden Kinder einschlagen mussten, um so zu leben wie er. Dafür würde er selbst nur genügend Fische fangen müssen, um ihnen die Flugtickets nach Jakarta zu bezahlen, und das war so gut wie unmöglich in den überfischten Küstengewässern des östlichen Sulawesi. Hier fuhren sie alle morgens raus und hatten kaum Zeit ihre Netze auszuwerfen, bevor die vielen Tauchboote die Resorts verließen. Wenn er ihnen die Tauchgänge vermieste, würden ihm nicht bloß die Tauchbasenbesitzer das Leben schwer machen, sondern auch die Touristenpolizei kommen und ihm die Lizenz entziehen. Nun ja, er besaß zwar keine Lizenz, aber sie würden sein Boot konfiszieren.
Seufzend sah er auf die winzigen Gischtwipfel hinaus, die das Meer zwischen den von dichtem Dschungel bedeckten Bunaken, zu einem glänzenden Auf und Ab machten, das sein Boot leicht tanzen ließ. Der Lärm des zehn PS starken Außenborders, den er im Heck sitzend über eine kleine Lenkstange nach rechts und links bewegte, vermischte sich mit dem Benzingeruch zur Melodie seines Lebens. Sie war eintönig, ja, aber es war die Melodie, die er kannte und die ihn irgendwie beruhigte. Hier draußen, fern von seiner Frau, die ihn jeden Abend unter Druck setzte, mehr Geld nachhause zu bringen und den großen Augen seiner Kinder, wenn er ihnen erklären musste, dass sie zum Freitagsgebet nicht nach Manado in die große Moschee fahren konnten, fühlte er sich beinahe entspannt. Die Entspannung hielt nie lange, war meist auf die Morgenstunden beschränkt, aber sie war da.
Er steuerte sein gelb und blau bemaltes Holzboot weiter in die kleine Meerenge zwischen den beiden südlichen Inseln und orientierte sich an den weißen Sandstränden einige hundert Meter rechts und links von sich. Ein paar letzte Züge von seiner selbstgedrehten Zigarette, dann drückte er sie aus und stopfte den Stummel in die aufgeschnittene Coladose zwischen seinen nackten Füßen. Made hasste es, wie viele seiner Landsleute das Meer verschmutzten, indem sie alles hineinwarfen, was sie nicht mehr gebrauchen konnten. Die Strömungen gaben einem vielleicht das Gefühl, dass alles fortgetragen würde – aus den Augen, aus dem Sinn. Aber als Fischer sah er jeden Tag, was sich in den Netzen verfing und wie das Gewässer seiner Heimat langsam starb und vermüllte.
Als er auf Höhe einer großen Kokosnusspalme, die mit gebogenem Stamm über den Strand der Nordinsel ins Wasser ragte, schaltete er den Motor aus und begann sein Netz auszuwerfen. Dafür kletterte er nach vorne, löste das vorbereitete Netz, das er spiralförmig in die blaue Tonne zwischen den mittleren beiden Sitzbänken verplombt hatte und zog es über die geglättete Eisenfassung hinten am Heck, bevor er sich wieder auf seiner Plastikbox niederließ und den Außenborder startete, indem er heftig an der Schnur zog. Der Motor ratterte schnell wieder und er drehte seine Hand vorsichtig für eine gemächliche Fahrt, bevor er die Lenkstange verkeilte und begann das Netz über die Eisenfassung zu ziehen. Immer wenn einer der faustgroßen Schwimmer an dem Metall entlangzog, machte es »plop« – genau zweiundzwanzig Mal, dann war das Netz ausgelassen. Jetzt hieß es warten.
Made rauchte noch eine Zigarette, dann schob er sich seinen breiten Mundschutz wieder vor das Gesicht und zog den breitkrempige Hut ein wenig tiefer in Richtung Nase. Normalerweise hätte er jetzt ein Nickerchen gemacht, doch die Sorge, am Horizont ein Schiff der Küstenwache zu erblicken, machte ihn zu unruhig. Also kletterte er zum Bug und hielt Ausschau.
Irgendwann schreckte er aus einem Schlaf auf, den er gar nicht hatte kommen sehen und sah sich gehetzt um. Zuerst fiel ihm der weiße Sandstrand in die Augen, dann das Meer. Mit pochendem Herzen schaute er sich noch einmal um, doch er war noch immer allein. Mit vor der Sonne abgeschirmten Augen sah er hoch zur Sonne, nur um festzustellen, dass es bereits Mittag sein musste. Beinahe wäre ihm ein nicht sehr gottgefälliger Fluch über die Lippen gekommen, während er zurück zum Heck stolperte – ein wenig wackelig auf den Beinen von der nur langsam weichenden Müdigkeit. Als er die Lenkstange wieder in der Hand hielt, die Halteklammer löste und das Boot wendete, zitterten seine Hände noch immer.
Das sollte dir nicht passieren, du Dummkopf, schalt er sich in Gedanken selbst und machte sich möglichst groß, um die roten Schwimmer an den Netzen erkennen zu können. Da waren sie! Die Dünung hatte leicht zugenommen, darum tanzten die bemalten Korkbälle ab und zu hinter die kleinen Zipfel auf dem Wasser, doch jetzt hatte er sie gefunden und hielt direkt darauf zu. Als er nur noch ein Dutzend Meter entfernt war, verkeilte er die Lenkstange wieder und schnappte sich den umfunktionierten Besenstiel mit dem Haken am Ende. Dann kletterte er zur anderen Seite, klemmte seine Füße unter die Sitzbank und streckte sich über die niedrige Reling. Den Holzstiel mit Haken hielt er weit uns Wasser und fischte damit vorsichtig nach der Schlaufe am Ende des Netzes, das sich zu einem schönen Halbkreis gedreht hatte.
»Sangat bagus!«, murmelte er, als er die Schlaufe beim ersten Versuch mit dem Haken geschnappt hatte und beides zu sich zog. Als seine Hände die nasse, verdickte Kordel des oberen Netzteils berührten und daran zogen, spürte er einen starken Widerstand.
»Tuhan itu Agung!«, frohlockte er und zog immer kräftiger und schneller. Gott ist wahrlich groß! Das ist ein richtig dicker Fang!
Immer weiter zog und zog er, bis er bemerkte, dass sich die Mitte des Netzes zusammengezogen hatte. Normalerweise hätte er das eine Ende des Netzes bloß an der Eisenfassung eingehakt und erst einen Kreis mit dem Boot gefahren, um das Netz dann wie einen Sack einzuholen, aber der Widerstand zeigte ihm, dass sich bereits etwas Großes verfangen hatte. Vielleicht ein Barracuda, oder ein kleiner Schwertfisch. Möglicherweise war Gott aber auch so gnädig und hatte dafür gesorgt, dass sich ein Thunfisch in sein Netz verirrt hatte.
Begeistert von der Vorstellung, endlich einmal nicht als der große Pechvogel unter den Fischern gelten zu müssen, zog und zog er mit all seiner Kraft. Er hätte eine Winde gebrauchen können, am besten eine elektrische, oder nur eine Handwinde, aber dafür hätte er die letzten Jahre einen Fang machen müssen, wie den jetzigen.
Der Schwerpunkt des Netzes kam immer näher und er sah bereits das vertraute Glitzern der Fischschuppen dicht unter der Wasserfläche. Als ihn beinahe die Kraft verließ, packte er die Kordel mit beiden Händen, stemmte seine Füße gegen die Reling und lehnte sich mit seinem gesamten Körpergewicht zurück.
Knurrend zog und zog er, bis sein Fang endlich die Kante der Reling überwand und der Widerstand mit einem Mal fort war. Made stürzte heftig nach hinten auf den Rücken und keuchte halb vor Schreck, halb vor ausbleibender Luft. Er keuchte und rieb sich den Schädel – das würde morgen eine Beule geben.
Als seine Augen auf den vor Salzwasser triefenden Fang fielen, runzelte er erst die Stirn und kniff dann die Augen zusammen.
»Was bei Allah ist das?«
In den grünen Maschen seines Netzes hatte sich ein Stück Schrott verfangen. Es war kugelrund, etwas größer als ein Medizinball mit einer vollkommen glatten Oberfläche. Vorsichtig lehnte er sich vor und schnalzte enttäuscht mit der Zunge, während er das Netz von dem Schrott löste. Als die Kugel so vor ihm lag, erkannte er eine hässliche Patina und mehrere Muscheln, die sich über die Oberfläche zogen. Sie war also nicht vollkommen glatt, außer an jenen Stellen, die nicht zugewachsen waren. Er erkannte sogar eine Kerbe, die sich einmal um den Äquator zog, ganz dünn nur, vielleicht einen halben Millimeter im Durchmesser.
»Du bist kein Thunfisch, auch ein Barracuda«, sagte er enttäuscht und ließ die Schultern hängen. All das Risiko im Nationalpark zu fischen und dann das. Eine Metallkugel.
Die Enttäuschung in seinem Herzen breitete sich bis in seine Glieder aus und die Gedanken an seine Heimkehr heute Abend vermochten ihn nicht gerade zu beruhigen. Im Gegenteil: Er fühlte sich nur noch elender, wenn er daran dachte, seiner Frau zu erklären, dass er besser im Schrottsammeln war, als im Fische fangen.
»Oh nein«, sagte er, als er bemerkte, dass das Netz an mehreren Stellen gerissen war, wo die scharfkantigen Muscheln der Metallkugel es aufgeschlitzt hatten. Das bedeutete, dass er die nächsten Tage auch nichts fangen würde, da er sich darum kümmern musste, die Löcher zu flicken.
»Schaffen wir dich erstmal fort.« Er stand auf und fasste die Kugel mit beiden Händen, um sie über Bord zu werfen. Es gelang ihm nicht, da sie zu schwer war, also ging er in die Knie und hob erneut, diesmal unter Zuhilfenahme seines Rückens und wuchtete das seltsame Stück Schrott endlich hoch.
»Wieso bist du nur so schwer, wo du doch so klein bist?«, dachte er laut und wollte gerade eine schwingende Bewegung machen, um sich der Kugel zu entledigen, als er innehielt und sie wieder auf dem Boden absetzte. »Wer baut so ein massives Stück Metall, außer, die Hülle schützt etwas wertvolles?«
Wenn es wertvoll ist, wäre es ja nicht ins Meer geworfen worden, schalt er sich in Gedanken, doch sein Blick wurde zunehmend klarer, als sich die Enttäuschung langsam in Hoffnung wandelte. Vielleicht ist es sowas wie ein Tresor? Oder ein Museumsstück, das irgendjemandem viel Geld wert ist? Wenn ich die Muscheln abkratze, sieht es bestimmt auch ganz schick aus.
Er entschied sich, die Kugel zu behalten und schnappte sich sein Schuppenmesser, um die Muscheln nacheinander abzukratzen. Als er mit dem Ergebnis zufrieden genug war, schreckte er hoch und sah sich um wie ein aufgescheuchtes Erdmännchen. Er durfte nicht so nachlässig werden!
Schnell holte er den Rest des Netzes ein, in dem sich immerhin ein paar Fische verheddert hatten, die für das Abendessen und vielleicht den morgigen Tag reichen würden und setzte sich dann wieder an den Außenborder. Eilig verließ er die Gewässer des Nationalparks und steuerte sein schaukelndes Boot in Richtung seines Dorfes, Badjo Kima, zurück. Dabei hätte er besser auf der Hut sein und nach Booten der Küstenwache Ausschau halten sollen, doch sein Blick wanderte immer wieder auf die seltsame Kugel vor seinen Füßen zurück. Sie rollte mit den Bewegungen des Bootes von links nach rechts und klang dabei irgendwie hohl und doch massiv. Vielleicht gab es etwas in ihrem Inneren, das wertvoll war und er musste nur die Schale öffnen, so wie bei einer Muschel mit Perle darin.
Irgendwann erreichte er die Bucht von Badjo Kima. Das Dorf in dem er geboren wurde und in dem seine Familie schon so lange lebte, wie es diesen Ort gab, lag am Mittelpunkt der Bucht, direkt vor einer ansteigenden Hügelkette, eingerahmt von tiefgrünem Dschungel. Ein gebogener Strand war von großen Findlingen übersät, an denen die Boote seiner Nachbarn festgezurrt waren. Die etwa dreißig Hütten bestanden aus unverputzten Backsteinen und Wellblechdächern und vereinzelten Bretterbuden, die mit löchrigem Bambus und Bananenblättern gedeckt waren. Schon aus der Ferne hörte er das Geschrei spielender Kinder, das sich mit den Tierrufen mischte, untermalt von dem allgegenwärtigen Zischen und Zirpen von Insekten.
Made steuerte sein Boot durch das türkise Wasser und drosselte seine Fahrt, um die an kleinen Bojen aus Plastikkanistern vertäuten Boote anderer Fischer nicht zu sehr ins Schwanken zu bringen und beschleunigte erst kurz vor dem Strand wieder, um möglichst weit aufzusetzen. Dann hüpfte er über den Bug in den knirschenden Sand und zog mit aller Kraft das Boot weiter an Land.
»Made Buring Bule«, hörte er jemanden hinter sich sagen und drehte sich erschöpft um. Es war sein Freund Roro, der zusammen mit Wayan, dem ältesten Sohn des Dorfvorstehers unter dem Schatten einer Kokosnuss hervortrat und ihm zuwinkte. »Na, wie war dein Fang?«
»Frag besser nicht.« Made winkte ab und schnappte sich das nasse Seil, das vom Ring am Bug seines Bootes hing. Mit dem freien Ende ging er zu einem der Findlinge, machte eine Schlaufe und warf sie über den mächtigen Stein.
»Also wie immer«, kommentierte Wayan und zog an seiner Zigarette. Er trug eine weiße Gebetskappe wie die Leute in Manado und eine Jeans ohne Löcher. Womöglich rührte sein selbstgefälliges Grinsen daher.
»Ja.«
»Lass Made in Ruhe«, verteidigte Roro seinen Freund und klopfte ihm auf die Schulter. »Morgen vielleicht.«
»Ja, morgen vielleicht.« Made schürzte die Lippen und sah zurück zum Boot. Roro und Wayan folgten seinem Blick und machten ein paar Schritte vor, bis sie über die Reling der Holzschaluppe sehen konnten.
»Was ist das denn?« Wayan wirkte mehr irritiert als gehässig, was selten genug vorkam. »Ist das ein Ball?«
»Nein, ich glaube, das ist ein Museumsstück«, erwiderte Made und schüttelte den Kopf.
»Ein Museumsstück?« Roro runzelte die Stirn. Sein Blick schien zu sagen: wenn du das sagst?!
»Ich erkenne Schrott, wenn ich ihn sehe. Dein Boot ist Schrott.« Wayan machte einen nachlässigen Wink und deutete dann auf die Metallkugel, die bräunlich in der Abendsonne schimmerte. »Und das, das ist auch Schrott. Made Buring Bule, Schrottfischer aus Badjo Kima. Immerhin bist du der erste dieser Art.«
Wayan zog an seiner Zigarette und schnippste den Stummel ins Wasser, das in ruhigen Wellen anbrandete und sich wieder zurückzog.
Made folgte dem Zigarettenrest mit den Augen und verkniff sich einen bissigen Kommentar. Ärger mit dem Dorfvorsteher konnte er nicht gebrauchen. Also zuckte er einfach mit den Schultern und schüttelte den Kopf, als Wayan sich gackernd zurückgezogen hatte.
»Nimm es nicht so schwer«, versuchte Roro ihn zu trösten, und seine schiefen Zähne teilten sein dunkelbraunes Gesicht mit dem dünnen Bart in zwei Hälften. Er legte ihm eine Hand über die Schulter und drehte ihn in Richtung Dorf. Die erste Häuserreihe befand sich direkt hinter der schmalen Schotterstraße, die zwischen Stand und Häusern entlangführte und auf denen mehrere alte Roller und Fahrräder geparkt waren. Ganz rechts bei der einzigen zweistöckigen Hütte, dem kleinen Minimarkt, stand ein rostiger Toyota Pick-up geparkt.
»Oh, Mego ist im Dorf?«, fragte Made überrascht. Der Handwerker aus Manado kam nur selten ins Dorf – eigentlich nur, wenn genügend Geld gesammelt wurde, um ihn zu bezahlen, beispielsweise um die Überlandleitung zu reparieren, oder kompliziertere Dinge wie die Brücke drüben beim Fluss.
»Er hat mir angeboten, mich morgen mit nach Manado zu nehmen. Ich werde ihn fragen, ob er dich mitnehmen kann, dann kannst du das da«, Roro deutete auf die Metallkugel im Boot, »zum Schrotthändler bringen. Wenn es gutes Metall ist, wird er dir vielleicht einen fairen Preis machen.«
Made sah seinen Freund zweifelnd an, doch der hob abwehrend die Hände.
»Er wird dir zumindest einen Preis machen, das kannst du von nicht gefangenen Fischen nicht behaupten.«
»Du hast recht«, seufzte Made und kletterte in sein Boot, um die Kugel hinaus zu wuchten. »Danke, Roro, du bist ein guter Freund.«
»Dann sehen wir uns also morgen?«
»Ja, danke nochmal. Um wie viel Uhr?«
»Acht Uhr! Sei pünktlich!« Der andere Fischer zwinkerte und ging dann zurück in Richtung Straße.
Das Haus von Mades Familie befand sich in der dritten Reihe, etwas weiter den Hang hinauf, wo die ersten Äste der riesigen Waldmandeln bis über den Dorfrand hinauswuchsen. Einige Makakenaffen huschten gerade über ihm von Ast zu Ast und stritten sich mit ihren meckernden Rufen, während er sich mit der Kugel abmühte. Vermutlich gab er ein reichlich komisches Bild ab mit einer relativ kleinen Kugel in den Händen, die ihn dazu zwang, gebückt und mit rot angelaufenem Gesicht zu laufen. Vor seiner Tür hielt er kurz inne und senkte sie ab. Der löchrige Backsteinbau besaß eine von Grünspan überzogene Tür aus Sperrholz, die er vor einigen Jahren selbst gezimmert hatte. Das Wellblechdach ragte ein wenig vor, bis über den kleinen Graben, über den im Monsun das Regenwasser den gesamten Trampelpfad bis zum Meer ablaufen konnte. Jetzt herrschte natürlich Trockenzeit und der Graben war statt mit Wasser mit Plastikmüll und Laub bedeckt. Er würde es morgen früh verbrennen müssen, bevor er sich auf den Weg zu Megos Auto machte.
»Indah, ich bin zuhause«, rief er und lächelte erschöpft, als seine Frau aus der Tür kam. Sie schlang sich gerade den letzten Zipfel ihres Kopftuches unter dem Kinn entlang und schob ihren massigen Körper ins Freie, als sich Rudy und Binta an ihr vorbei stahlen und auf ihn zustürmten.
»Ayah!«, riefen sie begeistert und warfen sich auf jeweils einen seiner Oberschenkel, die sie fest umklammert hielten.
Seine kleine Binta legte den Kopf in den Nacken und grinste zu ihm hoch. »Hast du uns was mitgebracht?«
»Ja, eine Kugel«, sagte er und setzte eine geheimnisvolle Miene auf. Binta machte sofort große Augen und auch Rudys Interesse war schnell geweckt, als er auf die Metallkugel neben sich deutete. Genauso schnell, wie sich seine Kinder für ihn begeistert hatten, ließen sie jetzt von ihm ab und stürzten sich das neue Objekt des Interesses.
»Oh, das ist aber schwer«, bemerkte Rudy und versuchte vergeblich, die Kugel mit seinen dünnen Ärmchen anzuheben.
»Ja, weil sie voller Gold ist«, meinte Made und blickte dabei zu seiner Frau auf, die ihn mit ernstem Gesicht und hochgezogener Brauer musterte.
»Fisch?«, formte sie lautlos mit ihren Lippen und er schüttelte ganz leicht den Kopf.
Ihr Blick blieb noch einen Moment auf ihn geheftet, dann wandte sie sich schließlich mit enttäuschtem Gesichtsausdruck ab und verschwand wieder in ihrer Hütte. Sie bereute schon seit langem, den Pechvogel des Dorfes geheiratet zu haben, das wusste er und es brach ihm das Herz. Aber er konnte doch nichts dafür. Manchmal glaubte er schon, dass Allah ihn verflucht habe, aber wie der Imam immer sagte: Wer sich von der Hoffnung abschneidet, schneidet sich von Allah ab und das würde er nicht tun.
»Die Kugel ist etwas wert«, sagte er und bemerkte erst, dass er laut gesprochen hatte, als Binta ihn fragend ansah und seine Hand mit ihren kleinen Fingern umschloss.
»Wirklich, Papa?«, fragte sie fröhlich.
»Ja, wirklich«, versprach er und hoffte sehr, dass er seine Tochter nicht gerade angelogen hatte.
Kapitel 2: Montgomery. 10. Januar 2035, Washington D.C.
Dr. Montgomery Reed verließ die Lobby des Madison Washington Hotels und zog fröstelnd den Kragen seines Mantels zusammen, als der eisige Januarwind ihm um den Hals wehte. Er hasste die Kälte der Hauptstadt, ebenso wie den ständig grauen Himmel und die Mischung aus krimineller Energie und politischem Establishment, die hier aus jeder Betonfassade atmete. Sein Herz gehörte seiner Heimat Texas – die Leute mochten vielleicht etwas bornierter sein als anderswo, aber wenigstens war es warm, sonnig und besaß Charakter.
Da seine rechte Hand damit beschäftigt war, seinen Kragen zum Schal umzufunktionieren, versuchte er ein wenig umständlich, mit seiner linken Hand ein Taxi zu rufen. Das führte dazu, dass er ungeschickt mit der Aktentasche wedelte, die er umklammert hielt.
Als eine der gelben GMC-Limousinen an den Bürgersteig heranfuhr und anhielt, ließ er widerwillig seinen Kragen los und zog die Tür zum Fond auf, während im selben Moment sein Smartphone zu klingeln begann.
»Na toll«, murrte er, warf seine Aktentasche hinein und kletterte auf die Rückbank. Dabei versuchte er das grüne Abheben-Symbol zu drücken und stieß dabei gegen den Türrahmen.
»Hallo?«
»Hallo, wo soll’s denn hingehen?«, fragte der Taxifahrer, während gleichzeitig seine Exfrau über das Telefon zu sprechen begann.
»Monty, wir müssen über Liza reden ...«
»Nicht Sie!«, sagte er entnervt und rieb sich die lädierte Stirn. Das würde eine hässliche Beule geben.
»Was? Doch, Liza hat in der Schule die Masern bekommen und ...«
»Ich meinte nicht dich, sondern den Taxifahrer.« Montgomery nickte dem dunkelhäutigen Fahrer zu. »Ich muss zur Uni, Department of Science and Technology.«
»Das kann doch warten, unsere Tochter hat ...«
»Ich meinte nicht dich, sondern den Taxifahrer«, seufzte er.
»Monty!« Die Stimme seiner Exfrau wurde eine Note schriller. »Unsere Tochter ...«
»Hat die Masern bekommen, ja.«
»... sie kann nicht zur Schule gehen und ich muss zur Arbeit gehen, weißt du, was das für unseren Haushalt bedeutet?«
»Ja, dass du das alleinige Sorgerecht erstritten hast und dich jetzt ärgerst, dass du das alleinige Sorgerecht hast«, erwiderte er verärgert und blickte immer wieder über den Rückspiegel zu seinem Fahrer, der sich alle Mühe gab so zu tun, als folge er seiner Konversation nicht.
»Was fällt dir ein, jetzt so etwas ...«
»Wie wär’s, wenn du deinen neuen Freund Peter fragst, ob er dir hilft? Ich habe jetzt den wichtigsten Termin meiner Karriere. Ich hatte als Kind auch Masern und bin nicht daran gestorben. Gerne hole ich die Kleine danach ab und kümmere mich um sie, weil du es scheinbar nicht schaffst, obwohl du ja das alleinige Sorgerecht hast«, blaffte er sie an und legte auf. Er vermisste seine kleine Tullaby sehr und die Vorstellung, dass sie mit den Masern im Bett lag, tat ihm im Herzen weh. Aber er musste diesen Termin wahrnehmen, sonst würde sein Institut die nächsten Jahre auf dem trockenen Sitzen und das würde bedeuten, dass er wieder in die Lehre musste.
»Frauen, hm?«, meinte der Taxifahrer, doch Montgomery nickte nur höflich und sah dann aus dem Fenster. Er hatte keine Lust mit einem Fremden seine familiären Probleme zu wälzen. Eigentlich hatte er nie Lust, seine Probleme mit irgendwem zu wälzen. Glücklicherweise verstand der andere seine Botschaften und hielt sich zurück. Also beschränkte er sich auf angespannte Blicke aus dem Fenster, ließ sich von den vorbeihuschenden Betonbauten und Reihenhäusern aus Backsteinen berauschen, die in seiner geistigen Abwesenheit zu einem pastellfarbenen Eindruck verschwommener Kleckse und Linien wurden.
Das Department of Science and Technology befand sich etwas abseits des Hauptcampus an der Pennsylvania Avenue nahe des Ford Circle Park und war in einem hässlichen achtstöckigen Betongebäude aus den Siebzigerjahren untergebracht. Die graue Fassade war fleckig von den vielen nassen Stellen, die der viele Regen der letzten Wochen mit sich gebracht hatte und wirkten auf seine Stimmung wie ein verheißungsvolles Omen – und zwar kein Gutes.
Als das Taxi vor dem Haupteingang hielt, vor dem einige Stunden rauchten, zahlte er die dreißig Dollar, die das Taxameter anzeigte und kletterte widerwillig in die Kälte hinaus.
»Viel Glück bei Ihrem Termin, Mister«, rief ihm der Fahrer noch hinterher, bevor die ins Schloss schlagende Tür seine letzte Silbe abschnitt. Montgomery straffte die Schultern und lief dann über die von Unkraut eingerahmten Spritzbetonplatten an den Studenten vorbei durch die doppelte Glastür.
In der Empfangshalle drängten sich dutzende Studierende und Professoren, die laut durcheinanderredeten, sodass er sich mit an die Brust gepresster Aktentasche durch die Menge kämpfen musste.
»Entschuldigung, ich müsste mal vorbei, danke.«
Als er die Tür zur Aula des eher kleinen Departments erreichte, fand er davor zwei massige Kerle in schwarzen Anzügen und Steckern in den Ohren.
Leibwächter, also ist der Minister schon da! Fluchend blickte er auf seine Armbanduhr hinab und unterdrückte ein Jaulen, das sich durch seine Kehle nach oben zu kämpfen versuchte. Er war zu spät, zehn Minuten nur, aber zu spät.
»Äh, hallo! Doktor Montgomery Reed, der Minister erwartet mich«, stellte er sich den beiden Gorillas vor und streckte ihnen seine Berechtigungskarte entgegen, die er vor einer Woche nach dem Termin mit dem Secret Service erhalten hatte.
»Die Sitzung hat bereits begonnen, Doc«, meinte einer der beiden und gab ihm nach kurzer Prüfung seine Karte wieder, während der andere ihn nach Waffen durchsuchte und dann durchwinkte.
»Danke.« Er räusperte sich, zog die Holztür auf und wollte hineinschlüpfen, als er an etwas hängen blieb und bemerkte, dass sich die Trageschlaufe seiner Aktentasche um den Türknopf gewickelt hatte. Entnervt befreite er sie und trat dann endlich ganz ein.
Die Aula bot Platz für vielleicht zweihundert Personen, doch jetzt gab es nur einen langen Tisch auf der Bühne, um den ein knappes Dutzend Personen saßen. Einer davon war der Undersecretary des Innenministers, Timothy Green, ein hochgewachsener Mann mittleren Alters mit angegrauten Schläfen und dem stechenden Blick eines ehemaligen FBI-Juristen. Der Rest der Anwesenden waren Doktoren und Professoren aus dem ganzen Land, die sich mehr oder weniger versucht hatten schick zu machen und jetzt auf ihn, den zu späten Neuankömmling starrten.
»Entschuldigen Sie bitte die Verspätung, Mr. Undersecretary«, sagte Montgomery zerknirscht, während er an den leeren Sitzreihen vorbei auf den einzigen freien Stuhl zuging, direkt neben dem Politiker. »Wir hatten ein wenig Stau auf der Interstate und ...«
»Schon gut, Doktor ... Reed, richtig?« Green lächelte unverbindlich und deutete auf den freien Stuhl. Montgomery nickte einmal in die Runde und versuchte den vielen feindseligen Blicken auszuweichen, die eine Bettelrunde um öffentliche Gelder nun einmal mit sich brachte.
»Ja, Mr. Undersecretary.«
»Bitte«, Green machte eine abwehrende Geste. »Sie brauchen mich nicht immer mit meinem Titel anreden, wir sind doch keine Briten.«
Verhaltenes Gelächter machte sich am Tisch breit, das sich mehr aus Anspannung als echter Belustigung speiste.
»Danke, Sir.«
»Sie sind doch vom LIGO, oder?« Der Staatssekretär faltete die Hände auf einem beachtlichen Aktenstapel vor sich und musterte ihn interessiert. »Wofür steht das nochmal?«
»Laser Interferometer Gravitationswellen Observatorium«, erklärte er schnell und hielt dann inne, als er die Belustigung in den Augen des Politikers erkannte. Offenbar hatte er sich einen Spaß mit ihm erlaubt. Seine Hoffnungen schwanden, also musste er in die Offensive gehen: »Sir, ich weiß, dass das gesamte Thema sperrig und theoretisch klingt, aber eine weitere Finanzierung der beiden LIGO-Observatorien hält große Vorteile für uns bereit.«
»Okay, Doktor, ich wollte Sie nicht verärgern. Ich habe noch«, Green sah auf seine Armbanduhr hinab, »zwanzig Minuten Zeit. Da Ihre Kollegen mir weis machen wollten, dass der Innenminister Forschungsgelder für verschiedene Stammzellenprojekte freigeben sollte und sie offenbar den kleinen roten Elefant auf meiner Brosche nicht zu deuten wussten, gehören diese zwanzig Minuten ganz Ihnen.«
Gemurmel machte sich am Tisch breit und Montgomery schluckte halb überrascht, halb erdrückt von der Woge noch größerer Feindseligkeit, die von links über ihn herüberschwappte.
»Danke, Sir, vielen Dank!«
»Ich habe gleich eine Frage. Die ersten Gravitationswellen haben Sie 2014 gemessen, was genau hat uns das gebracht? Verzeihen Sie, wenn ich keine große Revolution in Wissenschaft oder öffentlichem Leben bemerkt habe.«
»Es war 2015, Sir«, korrigierte er den Politiker reflexhaft und redete dann schnell weiter, um den Affront zu überspielen. »Das ist eine gute und berechtigte Frage. Der direkte Nachweis von Gravitationswellen, hat nicht nur zu einer weiteren Bestätigung von Einsteins Relativitätstheorie geführt, sondern uns einen völlig neuen Blick auf das Universum eröffnet. Sie können das mit der Erfindung des ersten Teleskops durch Galileo Galilei Anfang des siebzehnten Jahrhunderts vergleichen. Bis 2015 haben wir das Universum mittels der Detektion von Infrarot-, Mikrowellen-, Radio- oder UV-Strahlung beobachtet, was uns nur einen winzigen Ausschnitt gezeigt hat. Wir konnten alles immer nur indirekt nachweisen und dadurch simulieren, wenn man so will. Sie müssen verstehen, dass das Teleskop unseren Blick auf das Universum revolutioniert hat, indem damit gezeigt werden konnte, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums ist, wir die wahre Natur der Sterne und Galaxien enträtseln konnten und den nötigen Schritt von religiösen Weltbildern, zu wissenschaftlich-aufgeklärten gegangen sind. Seither haben wir Teleskope immer weiterentwickelt und können alle Arten elektromagnetischer Strahlung beobachten. Mittels all dieser Daten haben wir unser Bild vom Kosmos zusammengesetzt.«
Green sah auf seine Uhr hinab und Montgomery nickte eifrig.
»Okay, also Gravitationswellen verändern diesen Blick aufs Universum fundamental, da wir durch sie über die elektromagnetische Strahlung hinausblicken können. Die Teile der Karte, die vorher schwarz waren, können jetzt aufgedeckt werden, wenn man so will. Gravitationswellen bewegen sich nicht durch den Raum wie beispielsweise Licht oder Körper, sondern sie sind Teil des Raumes selbst, in dem sie sich als Wellen fortbewegen. Das ist wichtig für die Beobachtung sämtlicher massereicher Objekte in unserer Nachbarschaft, um nur ein Beispiel zu nennen. Sie können anhand elektromagnetischer Strahlung schlecht auf die Zusammensetzung eines Planeten oder Planetoiden rückschließen, weil sie von normaler Materie ausgesendet und absorbiert wird. Gravitationswellen aber werden von ihr kaum beeinflusst, sie breiten sich einfach als Welle im Raum aus und tragen die Informationen über Objekte und Ereignisse in sich, die ihre Auslöser waren.«
»Wie ein Tsunami?«
»Ja, äh, so ähnlich.« Montgomery nickte, obwohl er solche Vergleiche hasste. Wieso konnte man Dinge nicht beim Namen nennen und musste immer umständliche Metaphern bemühen?
»Das klingt ja alles wie nette Science Fiction, Doktor, aber was sollte ich dem Minister Ihrer Meinung nach sagen, das ihn überzeugt, mehrere hundert Millionen Dollar in ihre Projekte zu stecken? Was hat der amerikanische Steuerzahler davon?«, hakte Green nach.
Können wir daraus Waffen machen? Wird es uns das neue Google bescheren? Wie können wir uns einen Vorteil gegenüber anderen Nationen verschaffen? Wie wird es unsere Wirtschaft ankurbeln?, äffte Montgomery seinen Gegenüber im Geiste nach und schaffte es doch, sich ein gequältes Lächeln abzuringen. Er würde es nicht ertragen können, seinen Studenten sagen zu müssen, dass sie sich ein anderes Projekt suchen sollten.
»Sehen Sie es einmal so«, versuchte er einen neuen Anlauf und atmete tief durch. »Wir können mittels Gravitationswellenbeobachtung die fundamentale Natur der Raumzeit erforschen und die Ergebnisse mit der bestehenden Physik abgleichen. Wir stoßen mit unseren Detektoren eine ganz neue Tür zum Universum auf, mit einem potenziellen Füllhorn an Möglichkeiten und Entdeckungen. Denken Sie an die Quantenmechanik: Dank Heisenberg, Pauli und Dirac, die mit der Theorie der Quantenmechanik eine ganz neue Kette von Axiomen und Beobachtungen ins Rollen gebracht haben, hat sich unsere Technologie revolutioniert. Heute fußt über die Hälfte der weltweiten Wirtschaftsleistung auf die eine oder andere Art auf den Erkenntnissen der Quantenmechanik. Unter anderem sämtliche medizinische Bildgebungsverfahren, Bildschirme, Mobiltelefone ... die Liste ist lang. Vielleicht werden wir mittels der Beobachtung von Gravitationswellen auch komplett neue Dinge sehen und verstehen, für die uns bislang die richtige Brille gefehlt hat.«
Montgomery sah im immer müder werdenden Gesicht des Undersecretary, dass ihm sein Gesprächspartner immer mehr entglitt und biss sich auf die Zunge. Er hatte nicht mehr viel Pulver zu verschießen und die Schlacht war beinahe verloren. So wie Green dreinblickte, konnte er froh sein, dass sein Gegenüber noch nicht unverhohlen gegähnt hatte.
»Nehmen wir das CERN als Beispiel. Es hat gigantische Milliardensummen verschlungen, obwohl es mit dem Large Hadron Collider nach fundamentalen Teilchen gesucht hat, was nicht gerade nach praktischer Anwendung in der Wirtschaft klingt, hm?« Montgomery versuchte es mit einem höflichen Kichern, ließ es jedoch sofort wieder bleiben, als er in verschlossene Mienen rings herum blickte. »Na jedenfalls wurde dort quasi als Nebenprodukt das Internet erfunden und Touchdisplays, um nur zwei Dinge zu nennen.«
»Das ist beeindruckend«, gab Green zu und nickte bedächtig. Montgomery spürte einen Funken Hoffnung in sich aufkeimen und begann nervös mit dem rechten Fuß zu wackeln.
»Ja, Sir, wenn wir mit dem LIGO ...«
»Helfen Sie mir auf die Sprünge, Doktor«, unterbrach ihn der Staatssekretär und beugte sich ein wenig zu ihm vor. Montgomery fand, dass er mit seinen leicht hängenden Wangen wie eine Eule aussah, die eifersüchtig ihren Dokumentenstapel bewachte. »Wo befindet sich das CERN?«
Er sah seinen Gegenüber irritiert an und suchte im Gesicht des Politikers nach Anzeichen von Humor, fand jedoch nichts dergleichen.
»Äh, in Europa.«
»Richtig«, meinte Green und nickte, als sei er geradezu erleichtert darüber, dieses Rätsel gelöst zu haben. »Und jetzt sagen Sie mir, Doktor: Wer verdient heute am meisten Geld mit dem Internet und Touchdisplays?«
»Nun, mit dem Internet verdienen wir wahrscheinlich am meisten, wenn man an unsere Big Player im Datengeschäft denkt und die Südkoreaner sind für ihre Touchdisplays bekannt die ...« Montgomery stoppte sich selbst und machte eine finstere Miene, als er das wölfische Grinsen des zweitmächtigsten Mannes des Innenministeriums bemerkte. Schlagartig fühlte er sich dumm, dass er dem Anzugträger so leicht in die Falle gegangen war – und das war er, die gehässigen Blicke seiner Kollegen von den verschiedenen Universitäten und Forschungseinrichtungen ließen keinen Zweifel daran.
»Gut, dann hätten wir das ja auch geklärt.« Green räumte einige seiner Papiere zusammen, klappte die Aktenmappe zusammen und legte sein schmales Tablet darauf. Als er aufstand, erhob sich auch der Rest der Anwesenden und Montgomery, der einen Moment wie gelähmt sitzen blieb, tat es ihnen schnell gleich.
»Danke für alle Ihre Vorschläge, meine Damen und Herren. Ich werde mich mit dem Minister unterhalten und ihm meine Empfehlungen aussprechen. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden, ich habe noch einen Termin.« Green nickte knapp und ging dann mit zwei Leibwächtern im Schlepptau, die Montgomery gar nicht in den Schatten vor den Vorhängen bemerkt hatte, in Richtung Ausgang.
Nach und nach verließen auch die anderen am Tisch die Bühne der Aula, während Hiwis des Instituts begannen die Getränke und Gläser abzuräumen und wie ein kleiner Ameisenstaat wieder den Normalzustand des Saals herzurichten.
»Tut mir leid, Monty«, hörte er irgendwann eine Stimme und löste sein Gesicht aus seinen Handflächen, in die er es vergraben hatte. Behäbig sah er auf und blickte in die mitfühlende Miene von Melissa Goldstein, die Professorin vom Lehrstuhl für experimentelle Physik am MIT. Sie war größer als er und ihre lockige Mähne schwarzen Haars verlieh ihr etwas Überlebensgroßes, was ihn jedes Mal unangenehm einschüchterte. Gleichzeitig schätzte er sie als sehr nette und umsichtige Kollegin, auch wenn ihre recht ... direkte Art manchmal irritierend war.
»Oh, Melissa«, sagte er und quälte sich ein Lächeln von den Lippen. »Ich habe dich gar nicht erkannt, tut mir leid.«
»Ich saß links von dir, hinter Jones aus Stanford.«
»Ah, hinter dem kann man schon mal verschwinden, wenn man sich nicht groß macht.«
»Ja, aber selbst wenn er abnehmen würde, wäre da noch sein riesiges Ego, an dem ich vorbei müsste.« Sie zwinkerte ihm zu und setzte sich lässig auf die Tischkante. »Schon scheiße mit diesen Politikerärschen, oder?«
Monty sah sich bei ihren Worten wie vom Blitz getroffen um, doch keiner der Studenten schien sich um ihre Worte zu scheren, während sie die Tischdecke abzogen und die letzten Stühle fortbrachten.
»Äh, ja.«
»Was hattest du eigentlich mit dem LIGO geplant?«
»Ich wollte unser Interferometer aufrüsten, damit wir über eintausendfünfhundert Watt aus unseren Lasern herausbekommen«, erklärte er freimütig. Jetzt, wo das Projekt begraben war, konnte er genauso gut alles erzählen. Wen scherte es noch, wenn man nach seiner Niederlage die Waffen zu Boden warf? »Wir haben seit zwanzig Jahren dieselbe Hardware und müssen dringend die Empfindlichkeit der Anlage erhöhen.«
»Habt ihr nicht vor einiger Zeit die Arme in Hanford verlängert?«, fragte Melissa überrascht.
»Nein, auch die Finanzierung ist nicht durchgegangen.« Er schüttelte enttäuscht den Kopf und seufzte. »Wir treten seit zwanzig Jahren auf der Stelle. Erst gibt es den Nobelpreis und dann noch ein müdes Lächeln, wenn daraus nicht sofort ein neuer Wirtschaftspreis erwächst.«
»Wo es früher noch Visionen gab, die in den Augen der Menschen leuchteten, leuchten dort heute nur noch Dollarzeichen«, stimmte sie ihm zu und machte mit ihrer rechten Hand eine Geste, als reibe sie unsichtbares Geld zwischen Daumen und Zeigefinger.
»Ich muss jetzt zurück nach Hanford und meinen Studenten erklären, dass das Projekt gestorben ist.«
»Das bedeutet wahrscheinlich Lehre für Sie?«
»Richtig.« Er nickte frustriert und erhob sich ruckartig von seinem Stuhl. »Meine Tochter hat sich auch noch die Masern eingefangen und wenn ich mir nicht freiwillig mit dem riesigen Stapel an Forschungszielen heute Nacht die Pulsadern aufschneide, werde ich mich um ein fiebriges Kind kümmern müssen.«
»Sie forschen doch an der Zukunft der Menschheit. Ihre Tochter ist immerhin ein Teil davon«, entgegnete Melissa mit einem breiten Grinsen und es lag keine Häme darin.
»Das stimmt.« Monty lächelte breit, als er an seine kleine Tullaby dachte, mit ihren tiefen Grübchen und den fülligen Wangen. Vielleicht war das Ganze ja doch für etwas gut und es war gut, seine ehrgeizigen Forschungsvorhaben noch ein wenig zurückzustellen, damit er nicht die gesamte Kindheit seiner Tochter verpasste. Nicht umsonst hatte er die letzten Jahre viel mit sich selbst gestritten und sich Vorwürfe gemacht, dass er den Rechtsstreit mit Erica und damit auch seine Tochter verloren hatte. Er war immer mit der Physik verheiratet gewesen und das hatte ihn neben seiner Ehe auch seine Tochter gekostet, was ihn stärker schmerzte, als er es sich eingestehen wollte. »Also dann, Melissa. War schön, dich wiederzusehen!«
»Gleichfalls, Monty. Halt den Kopf oben.«
Er nickte ihr ein letztes Mal zu und ging dann zurück zum Ausgang, wo er sich mit gesenktem Kopf einen Weg durch die lichter gewordene Menge Studenten bahnte. Draußen angekommen, wurde ihm sofort wieder kalt und er rief sich ein Taxi über die Yellow-App.
Während er in der Kälte der ersten Januartage wartete, ging er im Kopf durch, was er seinen Studenten sagen würde, die in diesem Moment in Hanford saßen und gebannt auf seinen Anruf warteten. Sicher hatten sie Sekt vorbereitet, um die erhoffte gute Nachricht mit knallenden Korken zu feiern. Wie sollte man da die richtigen Worte finden?
Das Projekt war tot – zwar hatte es keinen Gnadenschuss bekommen, aber ohne weitere Forschungsgelder würde es verenden wie ein waidwundes Tier, und damit auch all seine Projekte, für die er in den letzten zehn Jahren so viel geopfert hatte.
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