Am gleichen Tag machte William seine Ankündigung wahr und ging mit Joshua ins Unterdeck, wo die Auswanderer während der wochenlangen Überfahrt dicht gedrängt zwischen Ballen und Bündeln hausten.
Es stank zum Himmel! Zu gern hätte er sich die Nase mit seinem Schnupftuch bedeckt, doch nach seinen schlechten Erfahrungen am Londoner Hafen atmete er tapfer durch den Mund.
Die eingefallenen und schmutzigen Gesichter der Auswanderer würde er sein Leben lang nicht vergessen. Große Augen musterten ihn und William, als sie die steile Treppe hinabstiegen, manche misstrauisch, einige gar mit offener Ablehnung. Die meisten starrten dumpf vor sich hin, mit hoffnungslos leeren Blicken.
William ging freundlich lächelnd auf einen Passagier zu. Höflich sprach er ihn an, stellte sich vor und erkundigte sich nach dessen Namen und Befinden. Es war jener Mann, der sich mit Kapitän Hammersmith heftig gestritten hatte.
»Mein Name ist Jonathan Burdon, sehr erfreut, Mr. Heat.« Seine Stimme klang gepresst, als müsste er etwas unterdrücken, damit es nicht mit großer Wucht aus ihm herausbrach. »Mein Befinden war schon einmal besser.«
»Seekrankheit, nehme ich an?«
»Ha! Die Seekrankheit. Wenn es nur das wäre!« Der Mann senkte die Stimme. »Natürlich hat die Seekrankheit viele getroffen und alles noch schlimmer gemacht, als es ohnehin ist.«
»Und was ist so schlimm, wenn ich fragen darf? Ich habe vorhin Eure Auseinandersetzung mit Hammersmith verfolgt.«
Für einen Augenblick schaute der Mann William misstrauisch an, als fürchtete er, Joshuas Onkel könnte ihn im Auftrag des Kapitäns aushorchen wollen. Dann siegte die Erleichterung darüber, dass er jemandem sein Leid klagen konnte.
»Zwischen dem, was man uns zugesichert hat, und dem, was wir hier vorgefunden haben, liegen Welten. Diese Enge! Es sind viel mehr Menschen an Bord, als im Vertrag für die Überfahrt vorgesehen. Es ist wie auf einem verdammten Sklavenschiff.«
Burdon breitete mit einer bühnenreifen Geste seine Arme aus.
»Krankheiten greifen um sich. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis es Tote geben wird. Das liegt an der Enge und der Luft – kann man das hier noch Luft nennen?«
Joshua schüttelte unwillkürlich den Kopf. Burdon stieß den Zeigefinger in seine Richtung.
»Nein! Recht hast du, mein Junge. Schlechte Luft macht krank. Aber das ist noch nicht alles.« Er sah sich um und senkte seine Stimme wieder, die, getragen von seiner Empörung, laut geworden war. »Die Ärzte sind Pfuscher. Barbiere! Feldschere! Entlassen aus den Heeren nach dem Krieg.«
»Das ist in der Tat ein Grund zur Klage.«
»Und ich werde die Schiffseigner verklagen, weil sie ihre Verträge nicht einhalten. Wir zahlen ein ordentliches Stück Geld dafür, um in die Neue Welt zu gelangen. Dann dürfen wir auch erwarten, dass die vereinbarten Leistungen erfüllt werden!«
»Das ist keine Frage. Vertrag ist Vertrag«, stimmte ihm William zu. »Und darüber habt Ihr Euch beim Kapitän beschwert?«
»Natürlich habe ich das! Er hat darauf verwiesen, dass die Gesellschaft, der dieses Schiff gehört, verantwortlich dafür sei, wie es hier zugehe. Er trage keine Verantwortung und könne an den Missständen nichts ändern.«
»Das erscheint mir berechtigt, Ärzte lassen sich nicht aus dem Meer fischen«, sagte William und überlegte, wie er das Gespräch wieder etwas beruhigen könnte, denn Burdon kam nun richtig in Fahrt.
»Fischen ist ein gutes Stichwort, Mr. Heat! Wir erhalten nicht die Rationen, die uns zustehen. Die Sturmvogel hat in London zu wenig Vorräte geladen. Und vergesst nicht: Es sind mehr Menschen an Bord als vorgesehen. Viel zu viele für viel zu wenig Proviant. Daher knapsen wir an den Mahlzeiten, obwohl wir doch ordentlich versorgt werden sollten.«
»Nun, auch hier wird der Kapitän schwerlich etwas ändern können, solange sich die Sturmvogel auf See befindet.«
»Oh, sagt das nicht! Wir könnten den Kurs ändern und einen Hafen anlaufen, wo wir die Vorräte aufstocken. Auf Kosten der Gesellschaft, versteht sich. Hammersmith hat mich nicht einmal aussprechen lassen, als ich ihm das vorschlagen wollte.« Burdon machte eine empörte Geste.
»Ich könnte versuchen, Euren Vorschlag gegenüber dem Kapitän noch einmal zur Sprache zu bringen«, schlug William vor.
»Danke, das ist sehr freundlich von Euch. Vielleicht ist er Euren Worten gegenüber zugänglicher. Immerhin hat Hammersmith nicht abgestritten, dass es ein Problem gibt. Ganz anders dieser Holzkopf von einem Ersten Offizier, der gleich …« Burdon winkte ab, als sei Leighman es nicht wert, dass man über ihn weitere Worte verlor. »Natürlich kann der Kapitän nicht bei der Versorgung der Mannschaft sparen, das gäbe Aufruhr oder gar eine Meuterei. So etwas will niemand. Eine Meuterei auf hoher See! Doch bleibt es eine Frechheit, wie schlecht das Schiff mit Proviant für uns Passagiere versehen ist und dass der Kapitän nicht einmal in Erwägung ziehen will, daran etwas zu ändern.«
»Dann hoffe ich wenigstens, dass Ihr mit Eurer Klage Erfolg habt.«
»Das werde ich, verlasst Euch darauf. Ich habe nämlich für die Überfahrt noch nicht bezahlt – das mache ich erst in Boston. Allerdings werde ich einen großen Teil des Geldes einbehalten.«
»Ich sehe, Ihr meint es ernst. Und die übrigen Passagiere? Werden sie sich Euch anschließen?«
»Nein, das glaube ich nicht.«
»Warum nicht?«, fragte Joshua.
»Nun, ihr Fall liegt anders«, sagte Burdon und fuhr mit leiser Stimme fort: »Die armen Schweine haben oft gar kein Geld, mein Junge. Sie haben sich zur Fronarbeit in den Kolonien verpflichtet, um die Kosten für die Überfahrt zu begleichen. Wenn sie die nicht ableisten, drohen ihnen schwerste Strafen. Ich glaube nicht, dass sie das wagen werden.«
»Oh!«
Das war alles, was Joshua dazu einfiel. Jetzt wusste er, wie sich die armen Leute die kostspielige Überfahrt leisten konnten. Sie würden sich nicht gegen die Ungerechtigkeit wehren können, die ihnen zugefügt wurde.
William unterhielt sich noch eine Weile mit Burdon, ehe er mit Joshua an Deck zurückkehrte. Dort atmeten beide tief durch, während sie schweigend aufs Meer schauten und sich den kühlen Wind durch die Haare fahren ließen. Ein ordentlich gebundener Zopf verhinderte, dass Joshuas blonde Mähne völlig verstrubbelte.
Eine Meuterei, hatte Burdon gesagt. Kapitän und Offiziere würden sich natürlich zur Wehr setzen; sie trugen Säbel, die Joshua mit gemischten Gefühlen betrachtete, denn sie erinnerten ihn an die rote Narbe am Kopf Thorntons.
Als sie zum Achterdeck gingen, sah Joshua, wie die Schiffsjungen schon wieder das Deck schrubbten. Sie hielten ihre Köpfe gesenkt und arbeiteten zügig. Neben ihnen stand der Maat und überschüttete sie mit Beleidigungen, um sie zu noch größerer Anstrengung anzuspornen. Was haben sie bloß angestellt?, überlegte Joshua. Er fühlte sich zufrieden bei dem Anblick. Sie hatten es verdient!
Robert Carson, der Zweite Offizier der Sturmvogel , lachte, als er ihn fragte, wofür die Jungen bestraft würden und warum das so oft geschah.
»Das ist keine Strafe, sondern eine wichtige Aufgabe: Wenn die Deckplanken nicht feucht gehalten werden, reißen sie auf. Daher werden sie so oft geschrubbt. Möchtest du es einmal ausprobieren?«, fragte er scherzhaft.
»Nein, danke, Sir. Das ist … nicht nötig, glaube ich.«
»Niemand mag diese Arbeit, doch ist sie wichtig. Wie viele andere Dinge an Bord eines Schiffes, die von Schiffsjungen erledigt werden. Auf diese Weise lernen sie vieles von dem, was sie später brauchen.«
»Habt Ihr auch als Schiffsjunge angefangen?«
»Nein, mein Junge. Ich stamme aus einer recht wohlhabenden Familie. Ich bin als Kadett zur Kriegsmarine gegangen, um mein Offizierspatent zu erwerben.«
»Und warum seid Ihr nicht bei der Marine geblieben?«
»Als der Krieg gegen Spanien endete, wurden viele Soldaten auf Halbsold gesetzt oder abgemustert. Ich habe Glück gehabt und auf einem zivilen Schiff anheuern können. Später bin ich zur Sturmvogel gekommen. Anderen ist es schlechter ergangen.«
Joshua zögerte einen Moment, ehe er sagte: »Manche wurden Piraten, habe ich gehört.«
Carsons Miene wurde ernst.
»Nun, ich fürchte, das ist leider richtig. Viele haben in ihrer Not keine andere Möglichkeit für sich gesehen; manche haben auch Gefallen an ihren Kaperfahrten im Dienste Seiner Majestät gefunden und nach Kriegsende nicht davon lassen können. Sie haben einen Irrweg eingeschlagen, an dessen Ende ein schreckliches Schicksal auf sie wartet.«
Für einige Momente herrschte Schweigen. Freibeuter wurden gewöhnlich als tollkühn und mordlüstern geschildert, Carsons Worte klangen eher nach Verzweiflung.
»Sind alle Offiziere an Bord ehemalige Soldaten, Sir?«, fragte Joshua, um das Gespräch nicht mit düsteren Gedanken zu beenden.
»Ja, mein Junge. Aber ich kenne Offiziere, die haben tatsächlich als Schiffsjungen angefangen und sich langsam nach oben gedient. Sie kennen Schiffe und Mannschaften, die Tücken der Seefahrt und sind erfahrene Seefahrer geworden.«
Er lächelte Joshua an.
»Du müsstest natürlich nicht als Schiffsjunge anfangen und kein einfacher Seemann bleiben. Du würdest mit Sicherheit Offizier oder Kapitän.«
»Ich glaube nicht, dass ich zur See fahren werde, Sir«, winkte Joshua ab.
Was für ein Gedanke! Er würde nach dieser Reise freiwillig nie wieder ein Schiff betreten. Noch einmal seekrank werden, sich von Schiffsjungen verspotten und den übrigen Mannschaftsmitgliedern als Landratte verhöhnen lassen – nein, danke.
Wenn es sich einrichten ließ, war dies seine erste und letzte Reise!