Jeremiah

Als Joshua seine Augen wieder aufschlug, fühlte er sich besser. Der Schmerz in seinem Kopf pochte nur noch dumpf im gleichen Takt wie sein Herzschlag. Vorsichtig betastete er seine Stirn, wo sich eine Beule gebildet hatte.

»Wie geht es dir?«, fragte eine Jungenstimme.

Joshua blickte auf und sah, dass ihm der Gehilfe des Kochs gegenübersaß. Sein dunkles, glattes Haar hatte er notdürftig in einem Zopf gebändigt, eine dicke Strähne hing ihm über sein neugierig dreinschauendes Gesicht.

Es war braungebrannt, wie auch seine Arme und Beine, die aus einem schmutzig-weißen Hemd und völlig zerlumpten Hosen herausschauten. Jetzt musterte er ihn aus seinen dunklen, fast schwarzen Augen. Im Gegensatz zu den Schiffsjungen auf der Sturmvogel war sein Blick freundlich, er lächelte sogar etwas.

Wie war gleich sein Name?

Mit zögerlichen Bewegungen richtete sich Joshua auf, trotzdem ließ ihn ein stechender Schmerz in seinem Rücken zusammenfahren. Ihm war schwindlig, sein Kopf pochte.

»Kannst du nicht mehr sprechen?«

Joshua antwortete nicht. Er war auf der Hut. Das hier war ein Piratenschiff und er hatte schon genug schlechte Erfahrungen mit den Schiffsjungen der Sturmvogel gesammelt. Selbst wenn dieser hier seine Freundlichkeit nicht nur vorschützte, es gab sicherlich noch andere und wer wusste schon, wie die sich ihm gegenüber verhalten würden.

»Vielleicht möchtest du etwas essen. Oder trinken?«

Beim Anblick des Tellers mit kaltem Braten und Brot lief Joshua das Wasser im Mund zusammen. Eigentlich wollte er sich weigern, doch da knurrte sein Magen so laut wie ein bissiger Hund.

Der Gehilfe des Kochs lachte.

»Du kannst ja doch noch sprechen!«

Gegen seinen Willen musste Joshua lächeln. Mühsam zwang er seine Mundwinkel nach unten und versuchte abweisend zu wirken. Er durfte nichts essen, die Piraten hatten ihn entführt. Entgegen der verlogenen Versicherung ihres Kapitäns. Die Wut über den Wortbruch zwickte mit seinem Hunger um die Wette.

Wenn er aber nichts aß, würde sich sein Unglück vergrößern und seine Lage nicht verbessern; Hunger machte alles nur noch schlimmer.

Schließlich griff er nach dem Teller mit den Speisen und begann zu essen. Langsam, wie Mrs. Norway es ihm eingetrichtert hatte, obwohl es in ihm schrie, alles in sich hineinzustopfen. Genüsslich kaute er und trank ausgiebig, nach ein paar Bissen war sein Heißhunger gestillt.

»Ich heiße übrigens Jeremiah.«

Richtig! Derselbe Anfangsbuchstabe.

»Vielleicht möchtest du mir auch deinen Namen verraten?«

Joshua zögerte. Eigentlich hatte er sich vorgenommen, auch kein einziges Wort zu sagen. Schweigen konnte man lange.

Aber was würde er damit erreichen? Irgendwann würde er sprechen müssen, wenn er wieder nach Hause zurückkehren wollte. Warum also nicht jetzt? Jeremiah hatte ihn bislang freundlich behandelt. Also …

»Joshua«, krächzte er. Dann räusperte er sich. »Mein Name ist Joshua Walther Frederic Heat.«

»Vier Namen und ich habe nur einen.«

Jeremiah lächelte, seine Zähne leuchteten weiß.

»Hast du keinen Nachnamen?«

Sein Gegenüber zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf.

»Nein, ich brauche nur einen.« Er grinste. »Ich bin übrigens froh, dass du nicht länger schweigst.«

»Warum?«

»Es gibt nur einen Jungen in meinem Alter an Bord der Schwarze Wolke – mich. Und wenn ich einmal mit jemanden sprechen will, der nicht mindestens doppelt so alt ist, muss ich mit der Schiffskatze reden.«

Joshua runzelte die Stirn.

»Warum gibt es hier nicht mehr Schiffsjungen? Auf der Sturmvogel waren es mehr als ein Dutzend.«

»Die Schwarze Wolke ist kein gewöhnliches Schiff wie die Sturmvogel .« Jeremiah deutete mit dem Kopf auf das Loch in der Wand. »Wir sind Piraten.«

Joshua runzelte die Stirn. Also doch!

»Wenn ich euren Kapitän richtig verstanden habe, dann ist die Schwarze Wolke kein Piratenschiff mehr.«

»Das hätten alle an Bord gern, aber noch haben wir es nicht geschafft.« Jeremiah bemerkte an der Miene seines Gegenübers, dass er auf dünnem Eis ging, und lenkte schnell ab. »Jedenfalls bin ich kein gewöhnlicher Schiffsjunge.«

»Aha«, sagte Joshua nur und überlegte, was das zu bedeuten haben könnte. Hatte man ihn entführt, damit Jeremiah Gesellschaft hatte? War er vielleicht der Sohn des Kapitäns?

»Was machst du hier an Bord? Ich meine, bist du auch Pirat?«, fragte Joshua und fügte noch hinzu: »Gewesen.«

»Jeder an Bord der Schwarze Wolke ist – war Pirat. Ich helfe George nur noch, weil wir im Augenblick niemanden sonst haben; aber bald werde ich andere Aufgaben übernehmen.«

Joshua dachte an die Schiffsjungen auf der Sturmvogel , die immer hart arbeiten und gefährliche Kletterpartien in die Wanten unternehmen mussten und von Leighman und anderen angebrüllt und gedemütigt wurden. Kein Wunder, dass sich Jeremiah auf neue Aufgaben freute.

»Musst du viel arbeiten?«

Jeremiah schaute Joshua verblüfft an.

»Selbstverständlich! Bei dir ist das wohl etwas anderes, nehme ich an.«

Joshua nickte.

»Ich bin kein Schiffsjunge. Ich …«

Am liebsten hätte er sich auf die Zunge gebissen. Sollte er jetzt etwa sagen, dass er der Neffe eines reichen Mannes war? Die Piraten würden für ihn ein ganz besonders hohes Lösegeld verlangen. Aber was wäre, wenn sie ihn für einen armen Schlucker hielten, für den niemand etwas zahlen würde. Vielleicht warfen sie ihn dann einfach über Bord oder ließen ihn den Rest seines Lebens für sie schuften. Da kamen ihm die Auswanderer auf der Sturmvogel in den Sinn. »Ich bin Passagier, auf dem Weg nach Amerika.«

»Ich weiß, dass du kein Schiffsjunge bist, auch wenn die Typen auf der Sturmvogel etwas anderes behauptet haben. Die haben ein mieses Spiel mit dir gespielt, Joshua. George hat sich von ihnen einen Bären aufbinden lassen.« Jeremiah schüttelte seinen Kopf wie Mrs. Norway es tat, wenn Joshua etwas in ihren Augen bedenklich Dummes getan oder gesagt hatte. »Du bist auch kein normaler Auswanderer. Deine Kleidung. Die sauberen Hände. Du stammst aus einem wohlhabenden Haus, Joshua Walther Frederic Heat, stimmt’s?«

Joshua gab einen unbestimmten Laut von sich, während er über Jeremiahs Worte nachdachte. Wer hatte was über ihn behauptet? Die Schiffsjungen auf der Sturmvogel ?

»Bist du allein an Bord der Sturmvogel gewesen?«

»Ich habe meinen Onkel begleitet. Wir waren auf dem Weg nach Amerika, Boston. Vielleicht hast du den Namen schon einmal gehört?«

»Ja, habe ich.«

Joshua nickte. Dann verzog er sein Gesicht und tastete mit seiner Linken zu der schmerzenden Stelle auf seinem Rücken. Als er sie berührte, zuckte er zusammen.

»Hast du dich beim Sturz auch am Rücken verletzt?«, fragte Jeremiah.

Joshua sah ihn verblüfft an. Was für ein Sturz? Er konnte sich nicht erinnern, gestürzt zu sein. Das würde immerhin die Kopfschmerzen erklären und warum er sich nicht an alles erinnerte.

»Nein. Kein …«, begann er, doch dann überrollte ihn die Erinnerung. Der hellblonde Schiffsjunge! Er hatte ihm aufgelauert und die Klinge eines Messers in den Rücken gedrückt. Dann war er gefallen, der Kerl hatte ihn hochgerissen, er war ein paar Schritte getaumelt und … natürlich, die Stiege zum nächsten Deck, auf dem sich die Kombüse befand; die war er hinuntergestürzt.

»Ist etwas?«, fragte Jeremiah vorsichtig, der unter allen Umständen verhindern wollte, dass ihr unfreiwilliger Gast sich wieder in seiner Schmollecke verzog. Er hatte Petes Blick gesehen und keine Worte gebraucht, um zu wissen, was er zu tun hatte.

Joshuas Atem beschleunigte sich, er keuchte beinahe.

»Ich weiß jetzt wieder, was geschehen ist.«

Stockend berichtete Joshua von seinem Unglück.

»Sie haben geglaubt, wir würden das Schiff ausrauben und dich und deinen Onkel entführen, Joshua. Niemand hätte beweisen können, dass sie eure Sachen gestohlen haben.«

»Und ich bin ihnen in die Quere gekommen.«

»Vielleicht wollten sie deine Truhe gerade wieder zurückbringen, als ihnen aufging, dass wir euch nicht überfallen wollten.« Auf Jeremiahs Gesicht machte sich Verärgerung breit. »Ich hätte alles verhindern können! Du lagst dort auf dem Boden, als ich dazu kam. George und eine Gruppe von Schiffsjungen waren bei dir. Sie haben ihm erzählt, du wärest auch ein Schiffsjunge und wolltest Pirat werden.«

»Was?« Joshua blinzelte. »Ich? Pirat? Wie …?«

Jeremiah lachte leise.

»Was für ein Unsinn!«

»Allerdings. Und das hat George geglaubt?«

Ein Schulterzucken.

»Glauben wollen. Eigentlich hätte er es besser wissen müssen. Allein deine Kleidung.« Jeremiah schüttelte den Kopf. »Jeder sieht sofort, dass du ein … ein …«

»… reicher Bengel ist das Wort, das du suchst.«

»Das habe ich nicht sagen wollen«, verteidigte sich Jeremiah.

Joshua musterte ihn. Spielte ihm sein Gegenüber etwas vor?

»Du darfst es nicht. Befehl vom Kapitän. Freundlich zu dem Gefangenen sein, ihm alles etwas leichter machen. Habe ich recht?«

»Nein! So ist es nicht – du bist kein Gefangener«, versuchte Jeremiah abzuwehren. Er bemerkte, wie die Augen seines Gegenübers wieder einen traurigen Glanz annahmen. Weiterreden! Irgendetwas!

»Es war einfach Pech!«

»Pech?«, fragte Joshua. »Nein. Oder doch, ja. Auch Pech. Aber im Grunde genommen …«

Jeremiah sah ihn fragend an. Dann berichtete Joshua mit leiser und manchmal stockender Stimme, was er während seiner Schiffsreise mit den Schiffsjungen erlebt hatte. Alles, von Anfang an, ohne etwas auszulassen. Zwischenzeitlich fragte er sich, warum er sich diesem völlig fremden Jungen eigentlich anvertraute. Eine Antwort darauf hatte er nicht.

Als er fertig war, seufzte Jeremiah hörbar.

»Du hättest zum Kapitän gehen sollen. Der hätte einen oder zwei von ihnen bestraft und dann hätten sie dich in Ruhe gelassen.«

»Aber …«, begann Joshua, doch Jeremiah schnitt ihm das Wort ab.

»Nichts aber! Entweder haust du ihnen selbst eins auf ihre vorlaute Klappe oder du holst Hilfe.« Er zuckte mit den Schultern. »Ist doch nichts dabei.«

»Ich kann mich doch nicht prügeln.«

Jeremiah schüttelte erneut seinen Kopf und grinste.

»Nein, das kannst du nicht. Du hättest sicher den Kürzeren gezogen. Aber in deinen Kreisen hat man eben andere Möglichkeiten.«

Die Worte klangen wie ein fernes Echo dessen, was die Schiffsjungen zu ihm gesagt hatten. Sie gehörten unterschiedlichen Welten an. Joshua wusste, dass Jeremiah recht hatte.

»Hammersmith hätte sie vielleicht auspeitschen lassen.«

»Ja. Vielleicht. Aber … sie haben dich beleidigt, dir gedroht, dich angegriffen und verletzt. Sie haben angefangen, niemand hat sie dazu gezwungen und du hast es ihnen leicht gemacht.«

Jeremiah schwieg einen Augenblick.

»Ich denke, sie hätten dich getötet, Joshua.«